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Das dunkle Labyrinth - Historischer Kriminalroman

Anne Perry

 

Verlag Goldmann, 2009

ISBN 9783641029326 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

1
Monk sah in der Ferne die Waterloo Bridge, als er sich im Bug des Polizeiboots etwas bequemer hinsetzte. Gestohlene Schiffsladungen, Unfälle und vermisste Boote, das waren die Aufgaben der vier Männer, die auf der Themse Patrouille fuhren: er selbst als ranghöchster Beamter und seine Leute, die in der typischen Formation der Wasserpolizei zu dritt die vier Ruder bedienten. Monk saß starr in seinem schweren Uniformmantel da. Es war Januar und bitterkalt. Der Wind wühlte das Wasser auf und drang durch die Haut wie ein Messer mit scharfer Klinge, doch Monk wollte nicht, dass jemand ihn vor Kälte zittern sah.
Es war fünf Wochen her, dass er die Stellung als Leiter dieser Abteilung der Wasserpolizei angenommen hatte, eine Entscheidung, die er schon jetzt zutiefst bereute. Und mit jedem durchfrorenen Tag in nassen Kleidern wurde es schlimmer, während der Winter sich zu Anfang dieses Jahres 1864 gnadenlos über London und seiner viel befahrenen Wasserstraße festsetzte.
Das Boot schaukelte im Kielwasser eines Verbandes von Barken, die mit der hereinströmenden Flut flussaufwärts fuhren. Orme, der im Heck saß, hielt das Boot gekonnt ruhig. Er war ein Mann von durchschnittlicher Größe, aber ungewöhnlicher Geschmeidigkeit und Kraft, und bediente das Ruder mit äußerstem Geschick. Vielleicht hatte er im Laufe der Dienstjahre auf dem Wasser gelernt, wie leicht ruckartige Bewegungen zum Kentern führen konnten.
Sie ruderten näher an die Brücke heran. In dem grauen Nachmittagslicht, kurz bevor die Lampen angezündet wurden, konnten sie bereits den Verkehr dort oben sehen: die dunklen Schatten der Hansoms und größeren vierrädrigen Kutschen. Noch waren sie freilich zu weit entfernt, um das Klappern von Pferdehufen über den Geräuschen des Wassers zu hören. Auf einem Fußweg standen dicht vor dem Geländer ein Mann und eine Frau einander gegenüber. Sie schienen in ein Gespräch vertieft. Monk dachte träge, dass es ihnen wohl ein dringendes Anliegen sein musste – was immer sie sich auch zu sagen hatten, wenn es an einem derart düsteren und ungesicherten Ort wie diesem ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Der Wind zerrte wütend an den Röcken der Frau. In dieser Höhe, wo es keinen Schutz gab, musste sie noch mehr frieren als Monk.
Orme lenkte das Boot weiter in die Mitte der Strömung. Sie waren auf dem Rückweg zu ihrer flussabwärts gelegenen Wache in Wapping. Vor sechs Wochen noch war Durban dort Dienststellenleiter gewesen und Monk ein Privatermittler. Er konnte immer noch nicht daran denken, ohne dass sich ihm die Kehle zuschnürte, und nie verließ ihn ein Gefühl von Schuld und Einsamkeit. Immer wenn er eine Gruppe Flusspolizisten sah und jemand darunter einen lässigen, wiegenden Gang und rundliche Schultern hatte, erwartete er, dass der Mann sich jeden Moment umdrehen und dass er Durbans Gesicht erkennen würde. Aber dann kehrte unweigerlich die Erinnerung zurück, und ihm wurde jedes Mal wieder klar, dass das nicht geschehen konnte.
Die Brücke war jetzt noch etwa sechzig, siebzig Meter weit entfernt. Das Paar stand immer noch an der Balustrade. Der Mann hielt die Frau an den Schultern, als wolle er sie in die Arme nehmen. Vielleicht waren sie ein Paar. Ihre Worte konnte Monk natürlich nicht vernehmen – der Wind riss sie sogleich mit sich fort -, aber ihre Gesichter verrieten leidenschaftliche Gefühle, die mit jedem Meter, den sich das Boot näherte, deutlicher zu erkennen waren. Monk fragte sich, worum es ging: ein Streit, ein letzter Abschied – oder am Ende beides?
Die steigende Flut verlangte den Polizisten an den Rudern äußerste Kraftanstrengung ab.
Monk sah wieder auf und bekam gerade noch mit, wie der Mann mit der Frau rang. Beide schienen erbittert ineinander verkeilt. Die Frau stand mit dem Rücken zum Geländer. Sie war viel zu weit nach hinten gebeugt. Monk hatte schon einen Warnschrei auf den Lippen. Noch ein paar Zentimeter, und sie stürzte ab!
Orme starrte nun auch hinauf.
Der Mann zerrte weiter an der Frau. Sie riss sich los, schien das Gleichgewicht zu verlieren, und er machte einen Satz auf sie zu. Eng aneinandergedrückt wankten sie einen schrecklichen Moment lang, dann kippte sie nach hinten. Er machte einen verzweifelten Versuch, sie festzuhalten. Sie streckte die Hand aus und griff nach ihm. Zu spät. Beide stürzten über die Brüstung und fielen in aberwitzigen Spiralen wie ein riesiger Vogel mit gebrochenem Flügel in die Tiefe. Dann schlugen sie auf den wirbelnden schmutzigen Fluten auf, die sie noch eine Weile trugen. Sie versuchten nicht zu kämpfen, während sich ihre Kleider mit Wasser vollsogen und sie nach unten zogen.
Angetrieben von Ormes Befehlen, verdoppelten die Ruderer ihre Anstrengungen und stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Strömung. Das Boot schoss nach vorne.
Monk starrte angestrengt in die Richtung der Opfer, um sie in der Dunkelheit nicht aus den Augen zu verlieren. Sie waren keine hundert Meter von ihnen entfernt, und doch war ihm bereits klar, dass es zu spät war. Die Wucht des Aufpralls auf dem Wasser musste ihnen alle Luft aus den Lungen gepresst haben. Und sobald sie keuchend eingeatmet hatten, hatten sie unweigerlich das eiskalte Schmutzwasser in die Lungen gesogen, an dem sie mit Sicherheit erstickt waren. So sinnlos es war, beugte er sich dennoch weiter vor und schrie: »Schneller, schneller! Dort! Nein … dort!«
Das Boot erreichte die beiden und drehte bei. Die Ruderer hielten es gegen die Strömung ruhig und bewahrten es durch Gewichtsverlagerung vor dem Kentern, als Monk sich über die Frau beugte, sie über das Dollbord zerrte und so behutsam er konnte auf die Planken bettete. Das andere Opfer konnte er noch sehen, aber es war außer Reichweite. Wenn er sich jetzt vorbeugte, würde er das ganze Boot in Gefahr bringen. »Backbord«, befahl er, obwohl die Ruderer das Boot schon näher heranmanövrierten. Vorsichtig griff er nach dem halb versunkenen jungen Mann, dessen Mantel im Wasser trieb, während ihn die schweren Stiefel in die Tiefe zogen. Unter Aufbietung aller Kräfte hievte Monk auch ihn an Bord und legte ihn neben die junge Frau. Er hatte schon viele Tote gesehen, doch stets überkam ihn ein unvermindertes Gefühl von Verlust. Er nahm das vom Schmutz im Flusswasser total verschmierte, bleiche Gesicht näher in Augenschein. Der Tote, den er auf etwa dreißig schätzte, hatte einen Schnurrbart, war aber ansonsten glatt rasiert. Seine Kleider waren gut geschnitten und von feinster Qualität. Der Hut, den er auf der Brücke getragen hatte, war verschwunden.
Orme sah zu Monk und dem jungen Mann hin. Er war aufgestanden und wahrte in dem schwankenden Boot mühelos das Gleichgewicht. »Für die zwei kommt jede Hilfe zu spät«, murmelte er. »Sind nach dem Sturz aus dieser Höhe auf der Stelle ertrunken. Ein Jammer«, fügte er leise hinzu. »Das Mädchen sieht nicht älter aus als zwanzig. Hübsches Gesicht.«
Monk setzte sich wieder auf die Bank. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, wer sie war?«
Orme schüttelte den Kopf. »Wenn sie’ne Tasche hatte, wie sie die Damen tragen, ist sie weg. Aber in der Manteltasche ist ein Brief, und der ist an eine Miss Mary Havilland in der Charles Street gerichtet. Er ist schon gestempelt worden, so als ob er abgeschickt und überbracht worden wäre. Kann also sein, dass sie das ist.«
Monk beugte sich vor und durchsuchte seinerseits systematisch die Taschen des Toten. Ihm bereitete es im Vergleich zu Orme mehr Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, als das Boot die Rückfahrt flussabwärts nach Wapping fortsetzte. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu bleiben und einen Mann am Ufer abzusetzen, um ihn nach Zeugen eines Streits suchen zu lassen – wenn das, was sie gesehen hatten, denn einer gewesen war. Jetzt ließ sich nicht mehr feststellen, wer zum entsprechenden Zeitpunkt auf der Brücke unterwegs gewesen war. Abgesehen davon hatten sie vom Fluss aus so viel mitbekommen, wie wohl jeder Passant oben. Zwei Personen, die sich gestritten – oder vielleicht geküsst – hatten, hatten sich voneinander gelöst, das Gleichgewicht verloren und waren in die Tiefe gestürzt. Es gab nichts, was da irgendjemand noch hinzufügen konnte.
Soweit Monk sich erinnerte, waren die beiden die einzigen Fußgänger auf der Brücke gewesen, als es passierte. Es war die Stunde, in der die Lampen noch nicht angezündet sind, aber das Tageslicht bereits schwindet und die Welt in ein Grau getaucht ist, das das Auge leicht täuschen kann. Man sieht die Dinge nur noch bruchstückhaft, den Rest ergänzt die Vorstellungsgabe, und das bisweilen unzutreffend.
In einer der Taschen entdeckte Monk eine lederne Geldbörse mit ein paar Münzen darin und ein Etui mit Ausweisen. Bei dem Mann handelte es sich offenbar um Toby Argyll aus der Walnut Tree Walk in Lambeth. Demnach hatte er in der Nähe des Mädchens im südlich des Flusses gelegenen Stadtteil Lambeth gewohnt. Die Charles Street war wie der Walnut Tree Walk eine Nebenstraße der Lambeth Walk. Er las die Adresse Orme vor.
Das Boot fuhr jetzt langsam, da nur noch zwei Männer die Ruder bedienten. Orme kauerte nahe bei Argylls Leiche auf dem Boden. Am...