dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Monde - Roman

Dan Simmons

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641033101 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR

  • Der Feind im Schatten - Roman
    Ausgelöscht - 4. Fall für Smoky Barrett - Thriller
    Unartig
    Shantaram
    Verblendung - Roman
    Glennkill - Ein Schafskrimi
    Kompendium der Mediengestaltung für Digital- und Printmedien

     

     

 

 

ZWEITER TEIL
GLEN OAK
Zweiundvierzig Jahre, nachdem er weggezogen war, drei ßig Jahre nach seinem letzten Besuch, sechzehn Jahre nach seiner Woche Ruhm, als er auf dem Mond spazieren gegangen war, wurde Richard Baedecker eingeladen, seiner Heimatstadt wieder einmal einen Besuch abzustatten. Er sollte Ehrengast beim Old-Settlers-Wochenende und der Parade sein. Der 8. August sollte in Glen Oak, Illinois zum »Richard M. Baedecker«-Tag erklärt werden.
Baedeckers mittlere Initiale war nicht M. Sein zweiter Vorname lautete Edgar. Und er betrachtete das kleine Dorf in Illinois auch nicht als seine Heimatstadt. Wenn er an das Zuhause seiner Kindheit dachte, was selten vorkam, erinnerte er sich für gewöhnlich an das kleine Apartment in der Kildare Street in Chicago, wo seine Familie die Jahre vor und nach dem Krieg verbracht hatte. Nicht einmal drei Jahre, von Ende 1942 bis Mai 1945, hatte Baedecker in Glen Oak gelebt. Die Familie seiner Mutter hatte dort lange Zeit Land besessen, und als Baedeckers Vater wieder dem Marine-Korps beigetreten war, wo er für diese drei Jahre als Ausbilder in Camp Pendleton diente, sahen sich der siebenjährige Richard Baedecker und seine beiden Schwestern auf unerklärliche Weise aus ihrer behaglichen Wohnung in Chicago in ein zugiges altes Mietshaus in Glen Oak versetzt. Baedeckers Erinnerungen an diese Zeit waren verschwommen und zusammenhanglos – wenn er beispielsweise nur an die verrückten Beutezüge nach Papier und Altmetall dachte, die sämtliche Wochenenden während ihres gesamten Aufenthalts dort in Anspruch zu nehmen schienen. Obwohl seine Eltern tatsächlich außerhalb von Glen Oak begraben waren, hatte er die Stadt schon seit ewigen Zeiten nicht mehr besucht und keinen Gedanken an sie verschwendet.
Die Einladung erreichte ihn Ende Mai, kurz bevor er sich auf eine einmonatige Geschäftsreise begab, die ihn durch drei Kontinente führte. Er heftete den Brief ab und hätte ihn vergessen, wenn er ihn nicht gegenüber Cole Prescott erwähnt hätte, dem Vizepräsidenten des Flugzeugkonzerns, für den er arbeitete.
»Verdammt, Dick, warum fahren Sie nicht hin? Das wäre eine gute Werbung für die Firma.«
»Sie machen Witze«, sagte Baedecker. Sie saßen in einer Bar am Lindbergh Boulevard nahe beim Büro in einem Vorort von St. Louis. »Damals, während des Krieges, als ich in diesem kleinen Kaff gelebt habe, hatten sie ein Schild: 850 Einwohner – Elektronische Geschwindigkeitskontrollen. Ich bezweifle, dass der Ort seither nennenswert gewachsen ist. Wenn überhaupt, ist die Bevölkerungszahl wahrscheinlich gesunken. Dort sind bestimmt nicht viele Leute daran interessiert, MD-GSS-Avionik zu kaufen.«
»Aber sie kaufen Aktien, oder?«, fragte Prescott und warf sich eine Handvoll gesalzene Erdnüsse in den Mund.
»Nur Vieh«, sagte Baedecker.
»Wo, zum Teufel, liegt dieses Glen Oak überhaupt?«, fragte Prescott.
Es war Jahre her, seit Baedecker jemanden den Namen der Stadt hatte aussprechen hören. Er klang seltsam in seinen Ohren. »Fast dreihundert Kilometer von hier entfernt, Luftlinie«, sagte er. »Irgendwo zwischen Peoria und Moline.«
»Scheiße, ist ja nur ein Katzensprung. Das sind Sie ihnen schuldig, Dick.«
»Zu beschäftigt«, sagte Baedecker, winkte dem Barkeeper und bestellte einen dritten Scotch. »Muss nach den Konferenzen in Bombay und Frankfurt viel nachholen.«
»Hey«, sagte Prescott. Er hatte eine Kellnerin beobachtet, die sich bückte, um einem jungen Paar an einem der Nachbartische zu servieren, und drehte sich nun um. »Fängt am neunten August nicht diese Flugverkehrskonferenz im Hyatt in Chicago an? Turner hat Sie dafür eingeteilt, richtig?«
»Nein. Das war Wally. Seretti wird von Rockwell aus hinfahren, und wir werden mit Borman über den Vertrag zur Modifikation des Airbus sprechen.«
»Na also!«, sagte Prescott.
»Also was?«
»Also müssen Sie sowieso in diese Richtung. Erfüllen Sie Ihre patriotische Pflicht, Dick. Ich lasse Teresa einen Brief schreiben, dass Sie kommen.«
»Wir werden sehen«, sagte Baedecker.
 

Baedecker flog am Nachmittag des 7. August, einem Freitag, nach Peoria. Die Ozark DC-9 hatte kaum Zeit, auf zweieinhalbtausend Meter Höhe zu gehen und dem mäandernden Lauf des Illinois River zu folgen, als sie auch schon wieder zur Landung ansetzten. Der Flughafen war so winzig und menschenleer, dass Baedecker kurz an die Asphaltlandebahn am Rand des indischen Dschungels denken musste, wo er vor einigen Wochen in Khajuraho gelandet war. Dann stieg er die Treppe hinunter, überquerte den heißen Teerbelag und wurde überschwenglich von einem feisten Mann mit rosigem Gesicht begrüßt, den er noch nie zuvor gesehen hatte.
Baedecker stöhnte innerlich. Er hatte vorgehabt, ein Auto zu mieten, die Nacht in Peoria zu verbringen und am Morgen nach Glen Oak zu fahren. Unterwegs hätte er noch gerne am Friedhof angehalten.
»Mr. Baedecker! Mr. Baedecker! Meine Güte, willkommen, willkommen. Wir freuen uns so, Sie zu sehn.« Der Mann war allein. Baedecker musste die alte schwarze Reisetasche fallen lassen, als der Fremde seine Hand und den Unterarm zu einem zweihändigen Gruß packte. »Tut mir wirklich leid, dass wir keinen besseren Empfang zustande gebracht haben hier, aber wir haben erst durch den Anruf bei Marge erfahren, dass Sie schon heute ankommen.«
»Das macht doch nichts«, sagte Baedecker. Er zog die Hand zurück und fügte unnötigerweise hinzu: »Ich bin Richard Baedecker.«
»O ja, meine Güte. Ich bin Bill Ackroyd. Bürgermeisterin Seaton wär ja gern selber angetreten, aber sie muss heute Abend das Fischerfest der Old Settlers’ Jaycees eröffnen.«
»Glen Oak hat eine Bürgermeisterin?« Baedecker warf sich die Reisetasche wieder über die Schulter und wischte sich eine Schweißperle von der Wange. Hitzeflimmern stieg rings um sie herum auf und verwandelte die fernen Mauern des Laubs und den halb sichtbaren Parkplatz in flimmernde Trugbilder. Die Luftfeuchtigkeit war genauso hoch wie in St. Louis. Baedecker betrachtete den großen Mann neben sich. Bill Ackroyd war Ende vierzig oder Anfang fünfzig. Er hatte Fett angesetzt; der Rücken seines J. C. Penney-Hemds war bereits nassgeschwitzt. Das Haar trug er nach vorn gekämmt, um die zunehmende Kahlheit zu verbergen. Er sieht aus wie ich, dachte Baedecker und verspürte Ärger in sich aufkeimen. Ackroyd grinste, und Baedecker lächelte zurück.
Baedecker folgte ihm durch die winzige Schalterhalle zu der halbkreisförmigen Zufahrt, wo Ackroyd seinen Wagen auf einem Behindertenparkplatz abgestellt hatte. Der Mann überschwemmte ihn mit einem liebenswürdigen Strom belangloser Nichtigkeiten, der in Verbindung mit der Hitze eine nicht unangenehme Übelkeit in Baedecker auslöste. Ackroyd fuhr einen Bonneville. Der Motor war die ganze Zeit gelaufen, die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren und erzeugte eine ungesunde Kälte im Wageninneren. Baedecker ließ sich seufzend in die Samtschonbezüge sinken, während der andere Mann sein Gepäck im Kofferraum verstaute.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das für uns alle bedeutet«, sagte Ackroyd, während er sich setzte. »Die ganze Stadt ist aufgeregt. Das ist das Größte für Glen Oak, seit Jesse James durch die Stadt geritten ist und am Hartley’s Pond sein Lager aufgeschlagen hat.« Ackroyd lachte und legte den Gang ein. Seine Hände waren so groß, dass Lenkrad und Schalthebel daneben Spielzeugen glichen. Baedecker stellte sich vor, wie Ackroyds Vorfahren im Mittelwesten mit ihren großen, groben Händen Banditen aufgeknüpft hatten.
»Ich wusste nicht, dass Jesse James’ Bande je durch Glen Oak gekommen ist«, sagte Baedecker.
»Wahrscheinlich war’s auch nicht so«, sagte Ackroyd und lachte sein polterndes, ungekünsteltes Lachen. »Damit wären Sie dann das Aufregendste, was uns je widerfahren ist.«
 

Peoria sah aus, als wäre es verlassen oder ausgebombt worden. Oder beides. Staub und tote Fliegen lagen in den Schaufenstern. Aus Ritzen im Straßenbelag wucherte Gras, und Unkraut wuchs auf dem ungepflegten Mittelstreifen. Alte Häuser neigten sich einander zu, und die wenigen neuen Gebäude erinnerten an zu groß geratene Druidenaltäre inmitten von dem Erdboden gleichgemachten Gesteinstrümmern.
»Mein Gott«, murmelte Baedecker, »ich kann mich nicht erinnern, dass die Stadt früher schon so aussah.« Eigentlich konnte sich Baedecker ohnehin kaum noch an Peoria erinnern. Einmal im Jahr hatte seine Mutter die Kinder mit in die Stadt genommen, damit sie die Thanksgiving-Parade bestaunen und dem Nikolaus winken konnten. Baedecker war zu alt für den Weihnachtsmann gewesen, hatte sich aber dennoch mit seinen jüngeren Schwestern auf die Steinlöwen beim Gerichtsgebäude gesetzt und pflichtschuldig gewinkt. In einem Jahr war der Nikolaus in einem Jeep eingetroffen, und die Elfen trugen die Uniformen der vier Streitkräfte. Baedecker erinnerte sich, wie der Rasen des Stadtparks sanft zu dem verschnörkelten Pfefferkuchenhaus des Gerichtsgebäudes hin angestiegen war. Er hatte sich vorgestellt, dass er erschossen worden war, und sich den grasbewachsenen Hang hinunterrollen lassen, bis seine Mutter ihn anschrie, er solle damit aufhören. Nun fiel ihm auf, dass der Park – zumindest glaubte er, dass es sich um denselben Block handelte – in eine schlampig angelegte Kunstlandschaft vor dem Glaskasten eines Stadtverwaltungsgebäudes verwandelt worden war.
»Reagans Rezession«, sagte Ackroyd. »Und davor Carters Rezession. Die gottverdammten Russen.«
»Russen?« Baedecker...