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Beutegier - Roman

Jack Ketchum, Tim Jürgens

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641032807 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3.36 Uhr
George Peters träumte, dass Mary, seine vor drei Jahren verstorbene Frau, einen Jungen zur Welt gebracht hatte.
Der Kleine war zwei Jahre alt und spielte auf dem Fußboden.
Um ihn herum lagen Holzklötze und eine Spielzeugeisenbahn fuhr auf Gleisen, die unterm Weihnachtsbaum herauskamen, durch den Flur und durchs eheliche Schlafzimmer führten und dann auf wundersame Weise durch das Wohnzimmerfenster wieder ins Haus zurückkehrten.
Peters saß im Sessel und las Zeitung. Es war ein heller sonniger Tag im Mai oder Juni, aber der Weihnachtsbaum stand noch und die Eisenbahn fuhr und fuhr und fuhr.
Mary besuchte jemanden. Peters hütete den Jungen.
Dann klopfte es lautstark an der Haustür und jemand rief seinen Namen.
Er stand auf. Es war Sam Shearing. Der war seit elf Jahren tot und erzählte ihm, er – George – müsse auf der Stelle das Haus verlassen. Er solle seinen Sohn nehmen und wegrennen, weil der Zug auf sie zugerast käme.
Peters erwiderte, er wisse von dem Zug. Der führe nämlich immer im Kreis durchs Haus.
Du begreifst nicht!, sagte Shearing. Du verstehst nicht, was ich meine! Dann wandte er sich um und rannte davon. Was eigentlich gar nicht seine Art war.
Peters blinzelte. Sam war verschwunden. Er schloss die Haustür und ging ins Wohnzimmer zurück, wo der Junge seine Bauklötze aneinanderschlug.
Dann hörte Peters den Zug.
Dröhnend kam das Ungetüm aufs Haus zugerast.
Er griff seinen Sohn und stürmte am Weihnachtsbaum vorbei in die Küche – ein jüngerer, schnellerer Peters -, während die Lokomotive durch das Wohnzimmerfenster krachte und in den Raum hineinraste, schneller, als ein Mensch rennen kann. Der Junge auf seinem Arm schrie und das riesige schwarze Eisenmonster pflügte am Kühlschrank und der Spüle vorbei … kam ihnen näher und näher …
 
Er erwachte. Es schien, als wäre er wirklich gerannt, so schnell schlug sein Herz. Er war schweißgebadet. Das Laken war feucht und roch nach schalem Scotch.
Wenigstens hatte er keine Kopfschmerzen. Er hatte zur Abwechslung einmal an das Aspirin gedacht. Als er sich aufsetzte, fühlte er sich schummrig. Der Alkohol wirkte offenbar noch.
Er blickte zur Uhr. Es war nicht einmal vier. Jetzt konnte er bestimmt nicht mehr einschlafen.
Genau darum ging es aber, wenn man sich mit Scotch betrank.
Mary hätte es nicht gebilligt, aber sie hätte ihn verstanden. Ein Mann konnte eben nur ein gewisses Maß an Grübelei und Einsamkeit ertragen, ohne zur Flasche zu greifen. Seit ihrem Tod machten ihm nicht nur die Albträume zu schaffen und verleiteten ihn, schon nachmittags zu trinken, sondern es war vor allem die simple Tatsache, dass er in dem Haus lebte, ohne seine Frau um sich zu wissen.
In Pension zu gehen und Mary an seiner Seite zu haben, war eine Sache. Ganz allein zu sein, war eine andere Geschichte.
Wieder hörte er es klopfen. Diesmal aber träumte er es nicht. Es klopfte wirklich jemand an die Tür, genauso laut wie im Traum.
»Ich komm’ ja schon! Immer mit der Ruhe!«
Er stieg aus dem Bett. Ein nackter alter Mann mit einer Wampe.
Er zog eine Unterhose aus der Kommode und nahm eine Jeans aus dem Kleiderschrank. Wer immer an der Tür stand, hatte ihn gehört, denn das Klopfen hörte auf.
Aber wer in aller Welt wollte um diese Zeit etwas von ihm? Seine Freunde und Trinkbekanntschaften waren rar gesät – die Hälfte war tot, die andere war weggezogen.
Dead River war für ihn ein Ort voller Fremder.
Da war es wieder, sein Selbstmitleid.
Jammerlappen, dachte er.
Er hatte einen Bruder in Sarasota, der ihm immer erzählte, wie angenehm das Leben dort unten sei. Er und seine Frau wohnten etwa eine Meile vor Siesta Key in einem schicken Wohnmobilpark mit einer Windmühle an der Einfahrt. Er hatte die beiden einmal besucht. Eines stand fest: Einsam waren sie nicht. Ständig schauten Leute vorbei. Man ging dort viel spazieren und fuhr Fahrrad. Menschen, die sich wegen ihrer Herz- oder Kreislauf-Erkrankungen Bewegung verschafften. Wenn die Leute seinen Bruder und seine Schwägerin auf dem überdachten Sonnendeck sitzen sahen, kamen sie auf ein Bier und einen Plausch vorbei.
Die beiden gingen tanzen, spielten Golf, besuchten Restaurants und das Klubhaus, veranstalteten Grillabende und so weiter und so fort.
Für ihn war das nichts.
Zunächst einmal war es ihm dort unten viel zu heiß.
Er war jemand, der die verschiedenen Jahreszeiten mochte. Die kahlen Bäume im Januar und die grünen im Mai. Im Winter die weißen Atemwolken und das Schneeschippen am frühen Morgen, das einen innerlich erwärmte, und abends das knisternde Kaminfeuer.
In Florida gab es nur die Hitze, die ein Drittel der Zeit ganz nett und gut auszuhalten war. Dann wurde sie unangenehm und schließlich hatte man ein halbes Jahr lang das Gefühl, man würde in seiner eigenen Schweißwolke durch ein Dampfbad waten.
Darüber hinaus war er kein kontaktfreudiger Mensch.
Eine Zeit lang hatte er überlegt, ob er sich nicht eine neue Frau suchen sollte. Dort unten konnte man das tun. Im Wohnmobilpark seines Bruders schien niemand lange allein zu bleiben. Dafür musste man aber zu den Gemeinschaftsabenden und Tanzveranstaltungen gehen und die nötige gute Laune mitbringen.
Und er hatte nicht einmal Lust dazu, zur Tür zu gehen.
Er zog einen Morgenrock und Pantoffeln an und schlurfte durch den Flur. Er hatte wieder einmal vergessen, das Verandalicht einzuschalten, deshalb knipste er es jetzt an und öffnete die Tür.
»Vic.«
Vic Manetti stand im gelben Lichtschein. Hinter ihm lehnte ein weiterer Polizist am Streifenwagen, aber auf die Entfernung konnte Peters nicht erkennen, wer es war.
Für die meisten Leute war Manetti, der aus New York City stammte, immer noch »der Neue«, obwohl er seit über zwei Jahren der Sheriff von Dead River war.
»Tut mir leid, dich aufzuwecken, George.«
»Schon gut.«
Peters respektierte ihn. Er nahm mit Manetti hin und wieder einen Drink im Caribou und unterhielt sich mit ihm, um auf dem Laufenden zu bleiben. Dabei hatte er den Eindruck gewonnen, dass der Mann ein guter Polizist war. Er war ruhig, hatte Grips und arbeitete gründlich. Viel mehr konnte man sich für ein Kaff wie Dead River nicht wünschen.
Aber als er nun vor ihm stand, schien der Mann sich ganz offensichtlich unbehaglich zu fühlen. So hatte Peters ihn noch nie erlebt.
»Ich muss mit dir reden, George«, sagte Manetti.
»Das kommt mir auch so vor. Möchtest du reinkommen?«
»Eigentlich hatte ich gehofft, dass du uns begleiten würdest.«
Peters beobachtete, wie sein Gegenüber sich innerlich wand und nach den richtigen Worten suchte. Dann schien er sie gefunden zu haben.
»Ich möchte, dass du dir etwas anschaust. Ich brauche deine Expertise.«
»Meine Expertise?« Er musste lächeln. Diesen Ausdruck hörte man nicht oft in Dead River.
»Ich muss dich warnen. Es ist unschön.«
Peters bekam ein komisches Gefühl – vielleicht ließ das Wort »Expertise« es plötzlich bei ihm klingeln -, jedenfalls ging in seinem Kopf eine Art Licht an, das ihm verriet, wovon Manetti sprach.
Er konnte nur hoffen, dass er sich täuschte.
»Warte kurz.«
Er ging wieder ins Haus, zog den Morgenrock und die Pantoffeln aus, fand in der Kommode ein akkurat zusammengelegtes Hemd – Mary hätte trotz seiner Trinkerei gewollt, dass er Ordnung hielt – und am Bett seine Straßenschuhe. Er ging in die Küche, nahm eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank und nahm ein paar Schlucke. Im Bad spritzte er sich Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne. Dem Gesicht, das ihm im Spiegel entgegenblickte, sah man seine sechsundsechzig Jahre mehr als deutlich an.
Er ging wieder ins Schlafzimmer und nahm seine Brieftasche von der Kommode. Auf dem Foto, das danebenstand, lächelte Mary ihn an. Eine alternde, aber immer noch hübsche Frau. Lange bevor der Krebs gekommen war.
Aus reiner Gewohnheit und abgelenkt von der Fotografie zog er die oberste Schublade auf. Er hatte die.38er und das Halfter schon halb in der Hand, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er den Revolver nicht mehr brauchte.
Dafür waren jetzt jüngere Leute zuständig.
Vic wartete im Streifenwagen auf ihn. Der andere Polizist – der, den er vorher nicht erkannt hatte – war Miles Harrison. Er kannte ihn, seit Miles ein kleiner Junge war. Einige Jahre lang war er ihr Zeitungsbote gewesen. Aus irgendeinem Grund war es dem Burschen nie gelungen, die Zeitung bis auf die Veranda zu werfen. Dafür hatten sie ihn jeden Winter verflucht.
Er begrüßte...