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Das Hexenmal - Historischer Roman

Deana Zinßmeister

 

Verlag Goldmann, 2009

ISBN 9783641032357 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Kapitel 1
Mit einer Stimme, der man anmerkte, dass sie bald für immer schweigen würde, flüsterte die Frau: »Wo ist sie?«
Ihr Ehemann saß auf einem einfachen Schemel vor dem Bett und zuckte mit den Achseln. Er konnte seine Frau kaum sehen. Durch den dicht gewebten dunklen Baldachin über ihrem Bett fiel nur fahles Licht, er wirkte wie ein Todesumhang, der sie einhüllte. Das Gesicht der Frau hob sich kaum von dem weißen Leintuch ab. Als sie mühsam ihr Haupt hob, lagen schwarze Schatten um ihre einst so strahlenden Augen. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Wangenknochen stachen spitz hervor. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn und der Oberlippe, als die Schmerzen schleichend wiederkehrten. Stöhnend legte sie sich zurück. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihrem Mann den dritten Sohn geschenkt. Genau wie die anderen beiden Buben war auch dieser kräftig und gesund. Doch drei Geburten in knapp drei Jahren waren zu viel für ihren Körper gewesen. Jeder, auch sie selbst, wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde. Sie hatte zu viel Blut verloren. Ihr Becken war bei der Geburt gebrochen. Und der Bruch hatte sich entzündet. Der Wundarzt konnte ihr etwas gegen die Schmerzen geben. Doch retten konnte er sie nicht.
Silvia war sich dessen bewusst und wollte noch ein Letztes regeln. Sie würde erst loslassen können, wenn sie Mann und Kinder versorgt wusste. Ein Priester hatte ihr bereits die Letzte Ölung gegeben. Sie hatte sich von ihren Söhnen verabschiedet und sie in die Hände ihrer Amme übergeben. Doch da diese Lösung nur von kurzer Dauer war und die Amme niemals die Mutter würde ersetzen können, hatte Silvia einen Plan. Ihre Eltern, die auch am Bett der Sterbenden wachten, ahnten nicht, was die ältere Tochter von ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester verlangen sollte.
Der Vater nestelte nervös am Kragen seines Leinenhemdes. Als Silvia erneut mit schwacher Stimme nach der Schwester rief, veränderte sich der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter. Zornig sah sie zu ihrem Mann.
»Heute ist Sonntag. Du weißt, dass sie dann immer im Armenhaus ist«, erklärte er leise.
»Wer hat ihr das erlaubt? Schick die Magd. Die soll sie herbringen«, befahl die Mutter mit unterdrückter Wut in der Stimme. Erschrocken sah der Mann zu seiner Frau. »Silvia stirbt!«, flüsterte Barbara mit Tränen in den Augen.
Die Zeiten waren hart. Die meisten Menschen waren arm und hatten wenig zu essen. Kaum Geld für Medizin, geschweige denn für einen Arzt. Oft hatten sie kein festes Dach über dem Kopf.
Nicht so diese Familie. Die Jacobis hatten sogar bescheidenen Wohlstand erworben. Aber was hatte das genützt? Zwar starben viele Frauen an den Folgen einer Geburt. Es war tragisch, aber fast an der Tagesordnung. Doch wenn es die eigene Familie traf, das eigene Kind, dann war das etwas anderes. Der Schmerz saß wie ein Stachel im Herzen, so tief, dass man ihn nicht herausreißen konnte.
Silvias Mutter blickte zu ihrem Schwiegersohn. Drei Kinder in knapp drei Jahren! Hätte er sich nicht beherrschen können? Er hätte doch erkennen müssen, dass sie nach der zweiten Geburt schwach und ausgezehrt war. Warum hatten ihm die Mägde nicht genügt? Jeder im Haus wusste, dass er kein treuer Gemahl war. Jede, die einen Rock trug, holte er in sein Bett. Oft hatte die Schwiegermutter seine lüsternen Blicke bemerkt. Sogar ihrer jüngeren Tochter blickte er schamlos hinterher. Unmissverständlich hatte Barbara Jacobi dem ungeliebten Schwiegersohn zu verstehen gegeben, dass er es nicht wagen sollte, das Mädchen anzurühren. Katharina hatte sie verboten, sich mit dem Schwager allein in einem Raum aufzuhalten.
Zornig blickte sie jetzt den jungen Mann an. Wie sie ihn hasste! Schon vom ersten Augenblick an hatte sie gewusst, dass er nicht in ihre Familie passte.
Tagtäglich hatte sie in ihrer Töpferei am Geisleder Tor mit Menschen zu tun. Meist konnte sie die Leute auf den ersten Blick einschätzen. Der erste Eindruck zählte. Das war auch die Verkaufsphilosophie ihres Mannes. Es gebe keine zweite Gelegenheit für den ersten Eindruck, pflegte Albert Jacobi stets zu seiner Frau zu sagen. Deshalb kam nur einwandfreie Keramik in den Verkaufsraum, was die Händler sehr zu schätzen wussten. Bis nach Bremen wurde die Werrakeramik der Jacobis verschifft, und das hatte der Familie in Heiligenstadt großes Ansehen eingebracht.
In ihrem Schwiegersohn Otto hatte Barbara Jacobi schon früh den Heuchler und Prahler erkannt. Seine Augen hatten ihn verraten. Er war nicht fähig, seinen Blick ruhig zu halten. Stets wanderten seine Augen hin und her. Meist senkte er den Blick, wenn er mit seiner Schwiegermutter sprach. Das zeugte von Falschheit. Dessen war sie sich von Anbeginn sicher gewesen. In all den Jahren, die er nun schon zur Familie gehörte und in denen sie ihn besser kennengelernt hatte, waren ihre Vorbehalte stets aufs Neue bestätigt worden. Sie hatte nie verstanden, warum ihre ältere Tochter dem Werben dieses Mannes nachgegeben hatte. Anfangs hatte sie ihre Bedenken ihrem Mann gegenüber noch geäußert, und er hatte gelacht. Aber als sie nicht damit aufhören wollte, war Albert Jacobi zornig geworden. Schließlich entstammte Otto einer angesehenen Familie und war eine gute Partie für ihre Silvia. Jeder würde sich einen solchen Schwiegersohn wünschen. Verbittert erinnerte sich die Mutter, wie schnell sich die Männer der beiden Familien über die Mitgift einig gewesen waren, und dass schon nach wenigen Monaten Silvia Ottos Frau geworden war.
Nun stand sie am Sterbebett der Tochter. Der Schwiegersohn hatte Schuld an diesem Leid, das über ihre Familie hereinbrach. Dass drei kleine Kinder ohne Mutter aufwachsen mussten. Barbara kämpfte mit den Tränen.
Wo aber blieb ihre jüngere Tochter? Wie konnte sie sich herumtreiben, während ihre Schwester im Sterben lag? Da öffnete sich die Zimmertür, und ein blondes Mädchen mit langen Zöpfen betrat furchtsam den Raum. Es war ihr anzusehen, dass sie geweint hatte, auf ihren Wangen glänzten Tränen. Katharina war an diesem Tag nicht im Armenhaus gewesen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer versteckt. Nun zitterte sie am ganzen Körper. Die Schreie ihrer Schwester bei der Geburt des Kindes wenige Tage zuvor hallten noch im Kopf des Mädchens nach. Nein, niemals würde sie ein Kind bekommen! Lieber würde sie ins Kloster gehen. Katharina blieb an der Tür stehen und sah zu dem wuchtigen Holzbett. Tiefe Traurigkeit überkam sie. Sie wollte nicht, dass die Schwester von ihr ging, wollte nicht, dass sie sie allein ließ. Vor Silvias Heirat waren sie wie Freundinnen gewesen. Sie hatten sich alles erzählt, über alles geredet, zusammen gelacht und zusammen geweint. Nach der Hochzeit hatte Silvia sich verändert, war ernst geworden und hatte nur noch selten Zeit für sie gehabt. Doch sie war noch immer ihre geliebte große Schwester. Und in diesem Augenblick des Abschieds mehr denn je.
Katharina glaubte, in diesem Raum zu ersticken. Zwischen den Wänden hing bereits der Hauch des Todes, den sie spüren, sogar riechen konnte. Langsam wandte sie sich zur Tür. Ihre Mutter packte sie an den Schultern, um sie am Weggehen zu hindern, als die Sterbende ihre Hand ausstreckte und flüsterte: »Komm zu mir, meine kleine Kathi.«
Die Siebzehnjährige ging zögernd auf das Bett zu. Sie beugte sich weit vor, um in die Augen ihrer Schwester blicken zu können. Als sie Silvias Gesicht sah, das in nichts mehr dem schönen Antlitz in ihrer Erinnerung glich, warf sich das Mädchen schluchzend auf die Brust der Schwester. Ein Weinkrampf schüttelte Katharinas zarten Körper. Zärtlich fuhr ihr eine kalte Hand über das Haar.
»Weine nicht, meine kleine Kathi. Auch wenn ich nicht mehr auf dieser Erde weile, so werde ich stets bei dir sein. Ich werde immer auf dich herabblicken. Ich muss doch wissen, ob Otto und du glücklich miteinander werdet.«
Fragend sah ein tränennasses Gesicht die Sterbende an. Auch die Eltern blickten verständnislos auf ihre ältere Tochter. Nur Otto schienen die Worte seiner Frau nicht zu überraschen.
Katharina fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und fragte: »Wie meinst du das, Silvia?«
»Ich möchte, dass du mir einen letzten Wunsch erfüllst. Erst, wenn du mir das versprichst, kann ich in Frieden gehen. Nur dann weiß ich, dass es meinem Mann und meinen Kindern an nichts mangeln wird …«
»Silvia, wir verstehen nicht, was du meinst. Welches Versprechen soll dir Katharina geben?«, fragte nun der Vater, der die ganze Zeit fast regungslos neben dem Bett verharrt hatte. Stumm wandte er sich seiner Frau zu und erschrak über den Ausdruck auf ihrem Gesicht: Ablehnung und Hass waren in ihren Zügen zu erkennen. Aber nicht ihm galt dieser Ausdruck, sondern dem Schwiegersohn. Ihre Lippen, hart aufeinandergepresst, waren nur noch ein blutleerer dünner Strich. Albert Jacobi hörte sie flüstern: »Du bekommst sie nicht!«
Irritiert sah er wieder zu seiner älteren Tochter. Voller Liebe ruhte deren Blick auf der jüngeren Schwester und ihrem Ehemann. Dann sagte sie mit kraftloser Stimme: »Ich möchte, dass du Otto heiratest. Das soll mein letzter Wunsch sein, bevor ich diese Welt verlasse. Du sollst meinen Platz bei meinen Kindern und meinem Mann ausfüllen.«
Jeder im Raum hatte diese Worte vernommen. Ungläubig sahen der Vater und die jüngere Tochter sich an, voller Verachtung die Mutter den Schwiegersohn, auf dessen Gesicht sich das Lächeln eines Siegers erahnen ließ. Doch bevor Katharina zu antworten vermochte, war ein lautes Stöhnen zu hören. Silvia atmete tief ein, nur um die Luft ein letztes Mal auszuhauchen. Sie starb mit einem Lächeln auf den Lippen – in dem Wissen, dass der...