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Stadt der Diebe

David Benioff

 

Verlag Blessing, 2009

ISBN 9783641027780 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Mein Großvater, der Messerstecher, tötete zwei Deutsche, bevor er achtzehn war. Ich erinnere mich nicht, dass es mir jemand erzählt hätte – ich schien es einfach schon immer zu wissen, so wie ich wusste, dass die Yankees bei Heimspielen Nadelstreifen trugen und auswärts Grau. Aber ich wusste es nicht von Geburt an. Wer erzählte es mir? Nicht mein Vater, der niemals ein Geheimnis verriet, und nicht meine Mutter, die davor zurückscheute, unangenehme Dinge zu erwähnen, alles Grausame, Kranke oder Hässliche. Auch nicht meine Großmutter, die jedes Volksmärchen aus der alten Heimat kannte – hauptsächlich schaurige: über Kinder, die von Wölfen verschlungen und von Hexen geköpft wurden -, in meinem Beisein aber nie über den Krieg sprach. Und ganz gewiss nicht mein Großvater selbst, der lächelnde Hüter meiner frühesten Erinnerungen, der stille, schwarzäugige, schlanke Mann, der mich bei der Hand hielt, wenn wir die Straße überquerten, der auf einer Parkbank seine russische Zeitung las, während ich den Tauben nachlief und mit abgebrochenen Zweigen Pharaoameisen ärgerte.
Ich wuchs zwei Blocks von meinen Großeltern entfernt auf und sah sie fast jeden Tag. Sie hatten eine kleine Versicherungsgesellschaft, die sie von ihrer Wohnung in Bay Ridge aus betrieben und deren Kunden in erster Linie ebenfalls russische Einwanderer waren. Meine Großmutter war ständig am Telefon und verkaufte. Niemand konnte ihr widerstehen. Sie ließ ihren Charme spielen oder jagte den Leuten Angst ein, aber so oder so, die Leute kauften. Mein Großvater arbeitete am Schreibtisch und erledigte den ganzen Papierkram. Als ich klein war, saß ich oft auf seinem Schoß und betrachtete den Stumpf seines linken Zeigefingers, der abgerundet und glatt war, die beiden obersten Glieder so sauber abgetrennt, dass man hätte meinen können, er sei ohne sie zur Welt gekommen. Wenn Sommer war und die Yankees spielten, übertrug ein Radio (nach seinem siebzigsten Geburtstag ein Farbfernseher, den ihm mein Vater schenkte) das Spiel. Er verlor nie seinen Akzent, er ging weder jemals zur Wahl noch hörte er je amerikanische Musik, aber er wurde ein glühender Anhänger der Yankees.
Ende der neunziger Jahre machte ein Versicherungskonzern meinen Großeltern ein Angebot für ihre Gesellschaft. Nach allgemeiner Aussage war es ein faires Angebot, also verlangte meine Großmutter das Doppelte. Bestimmt wurde lange und heftig gefeilscht, aber ich hätte dem Konzern gleich sagen können, dass es pure Zeitverschwendung war, mit meiner Großmutter zu feilschen. Am Ende bekam sie, was sie verlangte, und wie es so Brauch war, verkauften meine Großeltern ihre Wohnung und zogen nach Florida.
Sie kauften ein kleines Haus an der Golfküste, ein Flachdach-Meisterwerk, 1949 von einem Architekten erbaut, der Berühmtheit erlangt hätte, wenn er nicht im gleichen Jahr ertrunken wäre. Das nüchterne und majestätische Haus aus Stahl und Beton, auf einer einsamen Klippe mit Blick auf den Golf gelegen, ist nicht gerade das, was man sich für ein Ehepaar im Ruhestand vorstellt, aber die beiden zogen ja nicht in den Süden, um in der Sonne zu schrumpeln und zu sterben. An den meisten Tagen sitzt mein Großvater an seinem Computer und spielt mit alten Freunden online Schach. Meine Großmutter, der die Untätigkeit schon wenige Wochen nach dem Umzug auf die Nerven ging, kreierte für sich eine neue Stelle an einem College in Sarasota, wo sie russische Literatur braun gebrannten Studenten nahebringt, die (meinem einzigen Besuch ihres Unterrichts nach zu schließen) völlig verstört auf ihre Flüche, ihren beißenden Sarkasmus und ihre fehlerfrei aus dem Gedächtnis zitierten Puschkin-Verse reagieren.
Jeden Abend essen meine Großeltern auf der Terrasse ihres Hauses und blicken über das dunkle Wasser Richtung Mexiko. Sie schlafen bei offenen Fenstern, wo sich die Nachtfalter an den Fliegengittern die Flügel lädieren. Im Gegensatz zu anderen Ruheständlern, denen ich in Florida begegnet bin, haben sie keine Angst vor Kriminalität. Die Haustür ist für gewöhnlich unverschlossen, und sie haben auch keine Alarmanlage. Sie tragen im Auto keine Sicherheitsgurte; sie tragen in der Sonne kein Sonnenöl auf. Sie haben beschlossen, dass nichts außer Gott selbst sie umbringen kann, und dabei glauben sie nicht einmal an ihn.
Ich lebe in Los Angeles und schreibe Drehbücher über mutierende Superhelden. Vor zwei Jahren wurde ich gebeten, einen autobiografischen Essay für eine Fachzeitschrift der Drehbuchautoren zu schreiben, und mitten in der Arbeit wurde mir klar, dass ich ein äußerst eintöniges Leben geführt hatte. Nicht, dass ich mich beklagen will. Selbst wenn sich das Resümee meines Daseins langweilig liest – Schule, College, Gelegenheitsjobs, Universität, Gelegenheitsjobs, wieder Universität, mutierende Superhelden -, so war es doch schön, auf der Welt zu sein. Aber als ich mich mit dem Essay herumschlug, stellte ich fest, dass ich keine Lust hatte, über mein eigenes Leben zu schreiben, nicht einmal fünfhundert Wörter lang. Ich wollte über Leningrad schreiben.
Meine Großeltern holten mich in Sarasota am Flughafen ab; ich bückte mich, um ihnen einen Kuss zu geben, und sie lächelten zu mir hoch, in Anwesenheit ihres hünenhaften amerikanischen Enkels (mit einem Meter achtundachtzig bin ich tatsächlich ein Hüne neben ihnen) wie immer leicht verwirrt. Auf dem Heimweg kauften wir auf dem örtlichen Fischmarkt eine Makrele; mein Großvater grillte sie mit nichts weiter als Butter, Salz und frischer Zitrone. Wie jedes Gericht, das er zubereitete, schien es unglaublich einfach zu sein, brauchte nur zehn Minuten und schmeckte besser als alles, was ich in dem Jahr in L. A. gegessen hatte. Meine Großmutter kocht nicht; sie ist in unserer Familie berühmt für ihre Weigerung, etwas Komplizierteres zuzubereiten als einen Teller Cornflakes.
Nach dem Abendessen zündete sich meine Großmutter eine Zigarette an, und mein Großvater schenkte drei Gläser selbst gemachten Schwarze-Johannisbeeren-Wodka ein. Wir hörten dem Chor der Zikaden und Grillen zu, blickten hinaus auf den schwarzen Golf und schlugen nach vereinzelten Moskitos.
»Ich habe ein Tonbandgerät mitgebracht. Ich dachte, wir könnten vielleicht über den Krieg reden.«
Ich glaubte zu sehen, dass meine Großmutter kurz die Augen verdrehte, während sie Zigarettenasche ins Gras schnippte.
»Was?«
»Du bist vierzig Jahre alt. Auf einmal interessiert dich das?«
»Ich bin vierunddreißig.« Ich schaute meinen Großvater an, und er lächelte mich an. »Was ist los? Wart ihr Nazis? Wollt ihr eure Nazi-Vergangenheit verheimlichen?«
»Nein«, sagte er, noch immer lächelnd. »Wir waren keine Nazis.«
»Hast du wirklich gedacht, ich sei vierzig?«
»Vierunddreißig, vierzig …« Sie stieß ihr übliches Pscha aus, ein Geräusch, das immer von einer verächtlichen Handbewegung begleitet war, mit der sie derartige Beschränktheit abtat. »Und wenn schon. Heirate endlich. Such dir eine Frau.«
»Du redest wie alle Großmütter in Florida.«
»Ha«, sagte sie, ein wenig verletzt.
»Ich will ja nur wissen, wie das damals war. Was ist daran so schlimm?«
Sie nickte meinem Großvater zu, während sie mit der brennenden Zigarette auf mich deutete.
»Er will wissen, wie es war.«
»Schätzchen«, sagte mein Großvater. Nur das, nichts weiter, aber meine Großmutter nickte und drückte ihre Zigarette auf dem Glastisch aus.
»Du hast recht«, sagte sie zu mir. »Wenn du über den Krieg schreiben willst, dann tu’s.«
Sie stand auf, küsste mich auf den Scheitel, küsste meinen Großvater auf den Mund und trug das Geschirr ins Haus. Einige Minuten saßen wir schweigend da, hörten den sich brechenden Wellen zu. Er schenkte uns Wodka nach, freute sich, dass ich mein Glas geleert hatte.
»Hast du eine Freundin?«
»Mhm.«
»Die Schauspielerin?«
»Ja.«
»Ich mag sie.«
»Ich weiß.«
»Sie könnte fast eine Russin sein«, sagte er. »Sie hat die Augen … Wenn du über Leningrad sprechen willst, dann sprechen wir über Leningrad.«
»Ich will nicht darüber sprechen. Ich möchte, dass du darüber sprichst.«
»Okay, dann spreche ich darüber. Morgen?«
Er hielt Wort. Während der folgenden Woche saßen wir jeden Tag auf der Terrasse, und ich nahm seine Geschichten auf. Einige Stunden am Vormittag, gefolgt von einer Mittagspause, und dann wieder am Nachmittag – mein Großvater, ein Mann, der es hasste, mehr als zwei Sätze hintereinander in gemischter Gesellschaft zu sagen (das heißt, in Gesellschaft einer anderen Person als meiner Großmutter), füllte Minikassette um Minikassette mit seinen Worten. Zu vielen Worten für ein einziges Buch – die Wahrheit mag seltsamer sein als die Erfindung, aber sie braucht einen besseren Lektor. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich meinen Großvater fluchen und offen über Sex reden. Er sprach über seine Kindheit, über den Krieg, über die Ankunft in Amerika. Aber vor allem sprach er über eine Woche im Jahr 1942, die erste jenes Jahres, die Woche, in der er meiner Großmutter begegnete, seinen besten Freund gewann und zwei Deutsche tötete.
Als er seine Geschichten zu Ende erzählt hatte, befragte ich ihn nach näheren Einzelheiten – nach Namen, Orten, den Wetterverhältnissen an bestimmten Tagen. Eine Zeit lang ging er darauf ein, doch schließlich beugte er sich vor und drückte die Stopptaste des Tonbandgeräts.
»Das ist alles lange her«, sagte er. »Ich weiß nicht mehr, was ich anhatte. Ich weiß nicht...