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Zwei Frauen - Roman

Diana Beate Hellmann

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN 9783838716657 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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KAPITEL 1


Es war im Frühjahr 1962 an der italienischen Riviera. Der Ort war klein, er lag irgendwo zwischen Finale Ligure und Alassio. Hier gab es noch keinen Touristenrummel, hier regierten noch die Fischer. Abends fuhren sie mit ihren Booten aufs Meer hinaus, morgens kehrten sie zurück und legten am Strand ihre Netze aus, und den Tag verbrachten sie im Schatten der Palmen auf der Strandpromenade. Dort schliefen sie, dort aßen sie, dort debattierten sie lautstark über Politik. Währenddessen standen ihre Frauen auf dem Markt. Sie verkauften den nächtlichen Fang, aber auch den selbst gemachten Käse, das im eigenen Gärtchen gezogene Obst und Gemüse, die handgestrickten Pullover und Tischdecken, und nicht selten boten sie alles zusammen an einem einzigen Stand feil. Der Lärm, den sie dabei machten, klang in meinen Ohren wie Musik. Ich liebte diese Frauen, die mich »bella bimba« nannten, und ich liebte ihre Männer, die mich »bella bionda« riefen, wie ich diesen ganzen Ort liebte, seine malerische Altstadt, seinen lang gestreckten weißen Strand, die sich majestätisch erhebenden Gebirgszüge im Hinterland. Noch nie hatte ich etwas ähnlich Schönes gesehen.

Damals war ich gerade vier Jahre alt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich meine Eltern in die Ferien begleiten dürfen. Wir bewohnten ein Haus in den Bergen. Von der Terrasse aus hatte man einen wundervollen Blick aufs Mittelmeer, und an klaren Tagen konnte man am Horizont sogar die großen Frachter erkennen, die den Hafen von Genua ansteuerten. Auf dieser Terrasse frühstückten wir morgens, und anschließend fuhren wir dann mit dem Wagen zum Meer hinaus. Dort saß ich oft stundenlang im warmen Sand und baute Burgen, die ich mit grobem Kies und großen Steinen verzierte. Manchmal lief ich mit meiner Mutter zum Jachthafen, um die ankernden Segelschiffe zu bestaunen, oder ich tobte mit meinem Vater im Wasser. Meist spielte ich jedoch mit italienischen Kindern: Legte ich beide Hände vor die Augen, wussten sie, dass sie sich verstecken sollten, streckte ich die Zunge heraus, hieß das, dass der Eismann gleich Kundschaft bekommen würde – so konnten wir uns über alle Sprachbarrieren hinweg mühelos verständigen. Dann kam der 28. April.

Es war ein ganz besonders klarer, aber auch stürmischer Tag. Die Fischer waren am Vorabend gar nicht erst hinausgefahren, und deshalb standen ihre Frauen auch nicht wie sonst auf dem Markt. Überhaupt schien das ganze Dorf ausgestorben zu sein, denn als ich morgens mit meinen Eltern an den Strand kam, waren wir trotz des strahlenden Sonnenscheins die einzigen Gäste. Mit uns war nur noch die rote Fahne, das Zeichen für Gefahr. Sie flatterte im Wind, und zu ihren Füßen gingen krachend mannshohe Wellen nieder. Ich fand das großartig, es war so gewaltig. »Es ist aber auch gefährlich«, behauptete meine Mutter, um mir alsdann ausdrücklich zu verbieten, mich dem Wasser auch nur zu nähern. »Spiel im Sand!«

Das passte mir zwar gar nicht, doch nickte ich artig, wie es meine Art war, und dann ließ ich mich nieder, um mich meinem Schüppchen, meinem Eimer und meinen Förmchen zu widmen.

Wie lange ich so dasaß, wusste später niemand mehr zu sagen, und ich selbst erinnere mich nur, dass mich das Spiel mit den Förmchen irgendwann fürchterlich langweilte. Deshalb fing ich an, meine Eltern mit den üblichen Forderungen zu bestürmen: »Ich habe Durst! Ich habe Hunger! Ich will mit dem Ball spielen! Ich möchte ein Eis!«

Gerade wollte ich aufstehen, als mein Vater trotz der roten Fahne in die tosenden Fluten stürzte und weit hinausschwamm. Dort draußen legte er sich flach auf den Rücken, sodass ich nur noch seinen Kopf und seine Zehenspitzen sehen konnte. Er ließ sich von den Wogen schaukeln. Wut und Enttäuschung machten sich in mir breit. Sonst nahm Papa mich immer mit, mich und Helmut, mein Schwimmtier, ein sonnengelbes, luftgefülltes Seehundungetüm aus Plastik, das ich über alles liebte. Das lag jetzt einsam und verlassen neben meiner Mutter, die im Windschatten der Strandbar saß, und als ich zu ihr lief, um mich zu beschweren, musste ich zu allem auch noch feststellen, dass sie schlief.

Man hatte mich also abgehängt! Da kam mir eine Idee: Ich pirschte mich mit vorgeschobenem Unterkiefer – dem deutlichsten Anzeichen meiner kindlichen Entschlossenheit – heran an mein geliebtes Schwimmtier, schnappte es mir unbemerkt und rannte zum Ufer zurück. Dort wurde es schwierig. Helmut war mir zwar lieb, doch war er auch sperrig und schwer umzuschnallen. Die Haken waren groß, viel zu groß für meine kleinen Hände. Nach einigen Fehlversuchen hatte ich es endlich geschafft. Ich holte tief Luft, rannte los, kniff Nase, Mund und Augen zu, und dann, dann sprang ich durch den schäumenden Wellenkamm.

Es klappte gleich beim ersten Mal. Mein Seehund fing mich ab, sodass ich die Wucht der Brandung kaum spürte, und dahinter war die See dann längst nicht mehr so stürmisch und bedrohlich. Es war wie auf einer Kirmes. Die hohen Wogen warfen mich und Helmut auf und nieder, und das machte mir Mordsspaß. Ich genoss meinen Triumph. Mein Vater hatte dieses unvergleichliche Vergnügen für sich allein haben wollen, aber so leicht ließ ich mich nicht abschütteln. Ich winkte ihm zu. »Papa, Papa, guck mal!«

Erst da entdeckte er mich, doch reagierte er ganz anders, als ich erwartet hatte.

»Eva!«, schrie er entsetzt. »Zurück!«

Ich lachte nur. »Ich komme, Papa! Guck mal!«

»Zurück, verdammt noch mal! Zurück, Eva!!!«

»Ich komme! Ganz schnell!«

Jauchzend strampelte ich mit den Beinen, und meine Arme schlang ich fest um Helmuts sonnengelbes Plastikköpfchen. Ich war so fröhlich in diesem Moment, so ausgelassen, es war herrlich – da spürte ich auf einmal diesen Ruck an meiner Brust, und noch bevor ich begreifen konnte, was geschah, waren meine Arme auch schon leer, und ich wurde unter Wasser gedrückt. Es rauschte in meinen Ohren, es brannte in meinen Augen, ich bekam keine Luft mehr. Endlich tauchte ich wieder auf, aber ich konnte nur husten, ich schlug verzweifelt um mich, fand aber nirgends einen Halt …

»Der Schwimmreifen!«, rief mein Vater mir zu. »Er ist ab, Eva, macht nichts, schwimm allein, Eva, schwimm!«

»Ich kann nicht!!!«

»Doch, Eva, du kannst! Schwimm!!!«

Die Stimme meines Vaters klang anders als sonst, aber es schwang keine Angst in ihr mit. Ich sah, wie er mir entgegenzuschwimmen versuchte, ich sah, dass er sich umsonst anstrengte, weil ihn das Meer immer wieder hinaustrug. Dennoch schien er keine Angst zu haben.

»Schwimm, Eva, schwimm!«, rief er nur immer wieder.

Ich konnte aber nicht schwimmen. Nur ein einziges Mal, und das war schon lange her, hatte mir mein Vater in seichtem Wasser gezeigt, wie man Arme und Beine bewegt, um nicht unterzugehen. Ich wusste es, aber jetzt, da ich es versuchen musste, waren die Bedingungen denkbar schlecht, denn das Wasser drang mir in Nase und Mund. Ich hustete, bekam keine Luft, und meine Augen brannten wie Feuer.

»Schwimm!!!«, hörte ich meinen Vater wieder rufen. Dieses Mal war es ein zorniger Aufschrei und keine ermutigende Aufforderung.

Mir wurde schwarz vor Augen. Ich wusste genau, dass dies hier das Ende war oder ein neuer Anfang, aber ich wusste nicht, wovor ich mich mehr fürchtete. Es tat weh, hilflos zu sein und unterzugehen, aber es war auch bequem, es war einfach, nur noch ein paar Sekunden, dann würde ich es hinter mir haben, … und doch … etwas in mir lehnte sich auf, und dieses Etwas sorgte dafür, dass ich plötzlich ganz von allein Arme und Beine spannte, sie kräftig durchstreckte und nach vorn stob … ganz eng winkelte ich Arme und Beine an meinen Körper, spannte sie wieder, stieß sie weit auseinander, streckte sie durch … ich schwamm.

»Ja, Kind, ja!«, hörte ich die Stimme meines Vaters. »Komm, Eva, schwimm her zu mir!«

Mit brennenden Augen blickte ich zu ihm hinüber. Er lachte. Er lachte über das ganze Gesicht – seine Tränen sah ich nicht –, und so schwamm ich auf ihn zu … geradewegs ins Leben … zum ersten Mal …

Diese Geschichte erzähle ich immer, wenn man mich nach meiner Kindheit fragt. Der Tag, an dem ich schwimmen lernte, und der Tag, an dem ich leben lernte, hatten vieles miteinander gemein. Schwieriger wird es, wenn ich erzählen soll, wie »es« damals begann. »Es« hatte keinen erkennbaren Anfang, da war nichts, von dem man im Nachhinein hätte sagen können, dass es der Auslöser gewesen wäre, da geschah nichts plötzlich und unerwartet, um mit einem Schlag ein bislang sorglos verlaufenes Leben zu verändern. Denn mein Leben war niemals sorglos verlaufen. Vielmehr hatte es von Anfang an aus Herausforderungen bestanden, vom ersten Augenblick an …

Ich kam am Spätvormittag des 2. Oktober 1957 zur Welt. Der Professor, der meine Mutter entband, war ein enger Freund meines Vaters, und deshalb gab er sich ganz besonders viel Mühe. Dennoch hatte meine Mutter nach mehreren Stunden Kreißsaal plötzlich keine Wehen mehr; meine Herztöne wurden immer schwächer, und schließlich waren sie gar nicht mehr zu hören. Da sah der gute Herr Professor keine andere Möglichkeit mehr, als seine Patientin zu anästhesieren und alles für einen Kaiserschnitt vorzubereiten. Er wollte sie von dem »toten« Kind befreien.

Ich selbst spürte genau, dass da etwas nicht stimmte. Man ließ mich einfach in dem fruchtwasserlosen Dunkel zurück, man gab mich auf. Damit konnte und wollte ich mich nicht abfinden, und so machte ich mich ganz schmal und presste meinen kleinen Körper mit Gewalt aus der Enge. Ich sah, wie grelles Licht in meine Augen blitzte, ich sah die großen Hände, die sich mir plötzlich...