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Die Seidenmagd - Historischer Roman

Ulrike Renk

 

Verlag Aufbau Verlag, 2012

ISBN 9783841203878 , 464 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Kapitel 1


»Käthe?« Der Ruf der Mutter schallte durch das kleine Haus am Quartelnmarkt, in dem die Familie te Kamp wohnte. »Wo bist du?«

Catharina wischte sich die Hände an dem Küchentuch ab und öffnete die Tür zur Diele. »Ich bereite den Brotteig für Morgen vor, Maman.«

»Das kann Henrike übernehmen. Du musst mit mir zu den von der Leyen gehen, um die Kostüme abzuliefern.« Die Mutter stand in der Tür zur Stube, unter ihren Augen waren tiefe Ringe der Müdigkeit. »Hast du sie endlich fertig?« Catharina betrat die Stube. Auf dem Tisch, an dem sie früher die Mahlzeiten eingenommen hatten, lag ein sauber verschnürtes Paket.

»Ja, endlich.« Esther seufzte müde. Zwei Wochen hatte sie an den Kostümen genäht, die die Franzosen bei ihr in Auftrag gegeben hatten. Schon nächste Woche würden die Karnevalsfeierlichkeiten in der Stadt beginnen. Seit drei Jahren, seit der Schlacht an der Hückelsmay, war die Stadt von französischen Truppen besetzt, der Niederrhein war ihr bevorzugtes Winterquartier. Die Städter litten unter den Besatzern, versuchten aber das Beste aus der Situation zu machen. Schon im letzten Jahr hatte Esther te Kamp einige Kostüme für die Offiziere genäht, als Friedrich von der Leyen einen Ball für sie veranstaltet hatte.

»Hast du schon alle verpackt?« Catharina sah sich neugierig um.

»Nein, bei dreien muss ich die Säume noch nachnähen, die sind mir nicht sauber geglückt.«

»Aber Maman, es sind doch nur Kostüme. Die Franzosen werden sie einmal, höchstens zweimal tragen und dann wegwerfen. Keiner wird auf die Säume gucken.«

»Mein Ruf als Weißnäherin steht auf dem Spiel – und Arbeiten sollten immer sorgfältig ausgeführt werden.« Missbilligend sah Esther ihre älteste Tochter an. »Und nun spute dich, lass uns die Sachen zu den von der Leyen bringen.«

»Jetzt?« Catharina schaute entsetzt aus dem Fenster. Ein böser Wind fegte schon den ganzen Tag durch die Gassen, heulte in den Ecken und unter den Dachtraufen. Nun hatte sich der Wind etwas gelegt, doch es fing an zu schneien.

»Ja, jetzt sofort. Die drei letzten Kostüme können wir morgen nachliefern und dann auch das eine oder andere anpassen, aber das Gros der Kostüme möchte ich heute noch abliefern.« Sie nahm ihren Mantel vom Haken in der Diele, tauschte die dünne Haube, die sie im Haus trug, gegen eine dickere aus Wolle und schlang sich das Umschlagtuch um die Schultern. Während Catharina ihre Stiefel zuschnürte, wickelte Esther die Kostüme in Leinentücher und verstaute sie in zwei Körben.

»Henrike«, rief sie, »pass auf die Mädchen auf und öffne niemandem die Tür. Du kannst die Suppe für das Nachtmahl aufwärmen und Tee zubereiten. Käthe hat schon angefangen, den Brotteig anzusetzen.«

Die achtzehnjährige Henrike seufzte ergeben. Sie war eben erst nach Hause gekommen. Seit einiger Zeit half sie im Haushalt des Bürgermeisters Floh.

Früher war die Familie einigermaßen wohlhabend gewesen. Der Vater Heinrich betrieb eine Leinen- und Bandweberei, und die Geschäfte liefen gut. Doch dann war er nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben und hatte Esther mit den fünf Kindern zurückgelassen. Nach der großen Schlacht an der Hückelsmay vor knapp drei Jahren hatte sich der einzige Sohn Michel te Kamp freiwillig zum Dienst an der Waffe gemeldet. Er war mit den Hannoveraner Truppen in die Fremde gezogen, und die Familie hatte bis heute nichts mehr von ihm gehört.

Seitdem stand Esther mit den vier Mädchen alleine da. Schon der Tod des Vaters hatte ihre Mutter tief getroffen. Nachdem Michel weg war, zog sie sich ganz zurück. Wohl beteiligte Esther sich noch am Gemeindeleben, sie betete viel und kümmerte sich auch um die Familien, die noch ärmer waren als die te Kamps. Nur selten zeigte sich jedoch ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Tiefe Falten hatten sich um ihren Mund eingegraben.

Das Kopfsteinpflaster war rutschig, so dass die beiden Frauen ihre Füße mit Bedacht setzen mussten.

»Das Geld, das ich für die Kostüme bekomme, brauchen wir dringend.« Wieder seufzte Esther.

Catharina nickte. Sie wusste, dass es nicht einfach für ihre Mutter war. Auch dieses Jahr war der Winter früh gekommen. Viele Familien hungerten, Brennmaterial war knapp und teuer. Genau wie Henrike übernahm auch Catharina hin und wieder Tätigkeiten bei anderen Familien und verdiente so ein wenig zum Unterhalt der Familie dazu. Doch im letzten Sommer hatten sie die Magd entlassen müssen, nachdem diese ein Techtelmechtel mit einem französischen Soldaten gehabt hatte, das nicht ohne Folgen geblieben war. Um Geld zu sparen, hatte die Mutter keine neue Magd eingestellt, und nun mussten die Mädchen die Aufgaben im Haushalt erfüllen.

Mette war zehn Jahre alt und die jüngste der vier Schwestern, sie und auch die vierzehnjährige Elisabeth besuchten noch die Schule. Trotzdem hielt die Mutter sie bereits an, kleinere Flick- und Näharbeiten zu übernehmen. Als Weißnäherin konnte Esther ein wenig Geld verdienen, aber wohlhabend waren sie nicht mehr. In manchen Monaten lag die monetäre Last schwer auf Esthers Schultern. Erst seit Catharina einen Teil der Haushaltsführung mit übernommen hatte, verstand sie, was das bedeutete. Mit ihren knapp zwanzig Jahren musste sie mehr machen und tragen als andere Mädchen ihres Standes.

Mein Stand, dachte Catharina und schnaubte auf. Unserer Familie ging es früher gut, aber die Zeiten sind vorbei, und mit vier Mädels hat Mutter wenig Hoffnung, dass wir in absehbarer Zeit besser gestellt sein werden. Wir könnten reich heiraten, doch das ist unwahrscheinlich. Außerdem, sie kaute an ihrer Lippe, während sie ihren Gedanken nachhing und dem schnellen Schritt der Mutter zu folgen versuchte, sind wir alle noch viel zu jung, um zu heiraten.

Die Mägde und Arbeiterinnen heirateten früh, die Töchter der Mittelschicht meist erst hoch in den Zwanzigern. Es gab noch eine Oberschicht, zu der die Familie Floh und natürlich die von der Leyen gehörten. Doch diese Familien hatten mannigfaltige Kontakte in andere Städte zu Familien ihres Standes.

»Trödel nicht so«, herrschte Esther ihre Tochter an. Catharina fuhr erschrocken aus ihren Gedanken und versuchte mit der Mutter Schritt zu halten.

Sie mussten quer durch die Stadt, vorbei an der neuen Kirche, am Schwanenmarkt mit dem öffentlichen Brunnen, an der protestantischen Kirche und dann am Viehmarkt vorbei zur Niederstraße. Am Ende dieser Straße lagen das Niedertor und das Haus von Frederik von der Leyen.

»Maman, warte!« Catharina rutschte auf dem glatten Kopfsteinpflaster aus, beinahe hätte sie den Korb fallen gelassen.

»Dass du bloß nicht die Ware beschmutzt«, schalt ihre Mutter, blieb aber dann doch stehen, um zu warten. »Nun komm, Kind, wir haben nicht ewig Zeit.«

Inzwischen war es dunkel geworden, der Wind heulte durch die Gassen, fing sich unter den Dachtraufen. Immer wieder begegneten ihnen französische Soldaten. Im Winterlager konnten sie außer ihrem täglichen Exerzieren wenig tun. Unruhe lag über der Stadt, die zum Bersten gefüllt war mit Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Von einfachen Marketendern bis hin zu Offizieren aus adeligen Familien drängte sich alles in der kleinen Stadt. Die einfachen Soldaten erhielten an den kalten Tagen eine Ration Branntwein, da viele Unterkünfte nur schlecht zu beheizen waren.

Die Stimmung war so schlecht wie das Essen. Wie eine Glocke hing der Geruch von Kohl über der Stadt, vermischt mit dem Qualm der Kamine. Die Kohle war teuer und schlecht. Manche Familie heizte inzwischen mit Torf oder feuchtem Holz aus dem Bruch.

»Die Franzosen fiebern den Feierlichkeiten entgegen«, sagte Esther und wich zwei Betrunkenen aus, die vor einem Ausschank standen. Sie griff nach Catharinas Hand und zog ihre Tochter mit sich. »Hoffentlich steigt dann auch die Stimmung in der Stadt.«

»Letztes Jahr waren die Feiern doch recht fröhlich«, erinnerte Catharina sich.

»Ja, aber je länger dieser unselige Krieg andauert, umso schlechter wird die allgemeine Stimmung. Viele Bürger murren über die Besatzung. Ich bin froh, dass wir niemanden in Quartier nehmen müssen.«

Sie kamen zur Klostergasse. Ein kleines Stück weiter war das Haus der von der Leyen. Es war ein großes und prachtvolles Gebäude, mit einer prunkvollen Eingangstür. Esther zögerte einen Moment, dann ging sie am Haus vorbei und durch die Hofeinfahrt.

»Wo willst du hin, Maman?« Catharina war einen Moment stehen geblieben. Natürlich war sie schon des Öfteren an dem Haus vorbeigekommen, betreten indes hatte sie es noch nie. Aus den Fenstern strahlte warmer Glanz, das Licht vieler Kerzen und Lampen erhellte die hohen Räume, und durch die Fenster schien das Licht Pfützen auf die Straße zu gießen.

Alle acht Fenster sind beleuchtet, dachte Catharina verwundert. Ob in jedem Raum Leute sind? Das Haus hatte zwei volle Stockwerke, die Gauben im Dach zeigten, dass auch dort Zimmer waren. Doch die Dachfenster waren, im Gegensatz zu den anderen, dunkel. Dort oben wohnen gewiss die Dienstboten, sagte Catharina sich.

»Käthe!«, rief Esther. Ihre Stimme klang dumpf aus der Toreinfahrt.

Schnell folgte Catharina der Mutter. Esther klopfte an eine Tür auf der Rückseite des Hauses. Auch der Hof wurde von dem Licht aus den vielen Fenstern erhellt. Ein niedriger Anbau grenzte den Hof vom Nachbargrundstück ab. Catharina sah sich neugierig um. An den Hof grenzte ein Garten, der nun schneebedeckt war. Sie konnte nirgendwo...