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Abkehr vom Korporatismus? - Der Wandel der Sozialversicherungen im europäischen Vergleich

Tanja Klenk, Philine Weyrauch, Alexander Haarmann, Frank Nullmeier

 

Verlag Campus Verlag, 2012

ISBN 9783593412481 , 565 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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Zur Einführung

1. Korporatismus und Sozialversicherungsverwaltung in bismarckschen Wohlfahrtsstaaten

Korporatismus ist die Einbeziehung von Verbänden in die Organisation öffentlicher Aufgaben. Studien zum Korporatismus in der Sozialpolitik müssen sich mithin auf die Organisation, die Leitung und Administration sozialpolitischer Aufgabenwahrnehmung konzentrieren. Generell gehört aber die Organisation von Wohlfahrtsstaatlichkeit zu den vernachlässigten Forschungsthemen der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung. Dieses Buch will sich explizit den Verwaltungsstrukturen der Sozialpolitik wid-men. Es vergleicht die Sozialversicherungen in acht Ländern - Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Tschechi-sche Republik und Ungarn - und untersucht, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der welfare administration zwischen diesen Ländern und den einzelnen Sozialversicherungszweigen bestehen.

Sozialversicherungen sind keineswegs der einzige Weg, wie sozialpoliti-sche Aufgaben bewältigt werden können. Wenn Sozialversicherungen zur zentralen sozialpolitischen Institution geworden sind, liegt vielmehr ein besonderer Typus von Sozialstaatlichkeit vor. Die Zentrierung auf Sozial-versicherungen ist das Kennzeichen von konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaaten (gemäß der Typologie von Esping-Andersen 1990). Allein diesen widmet sich die vorliegende Studie. Sie vergleicht die Verwal-tungsstrukturen von Sozialversicherungen in Bismarck-Ländern. Lange Zeit galten gerade diese Länder als höchst unflexibel und wenig wand-lungs- oder anpassungsfähig. Die neuere Forschung hat das Bild des bis-marckschen Wohlfahrtsstaats als frozen landscape (Esping-Andersen 1996) korrigiert und die Anpassungsleistungen des Sozialversicherungssystems herausgearbeitet (Palier 2010; Bogedan et al. 20 12). Bislang unbeantwortet geblieben ist aber die Frage, ob es auch im Bereich der Organisation und der Verwaltung zum Wandel gekommen ist und ob dieser Wandel in den Kernländern des bismarckschen Wohlfahrtsstaates in unterschiedlicher oder überall in ähnlicher Richtung verläuft.

Die vorliegende Arbeit trägt dazu bei, diese Forschungslücke zu schlie-ßen. Im Mittelpunkt der Studien steht dabei ein besonderes Merkmal der Sozialversicherungsverwaltung: die soziale Selbstverwaltung. Die soziale Selbstverwaltung, das heißt die Verwaltung des sozialen Sicherungssystems in parafiskalischen Organisationen unter Beteiligung der Betroffenen, ge-hört seit Anbeginn des konservativ-korporatistischen Sozialversicherungs-modells zu seinen zentralen Charakteristika.

Die soziale Selbstverwaltung ist aber nicht nur Merkmal eines bestimm-ten Wohlfahrtsstaatstypus, sondern zugleich auch Ausdruck eines be-stimmten Verhältnisses von Staat und Verbänden. Die Interessenrepräsen-tation der Versicherten in den Sozialversicherungskassen wird von Ver-bänden wahrgenommen. Durch die Inkorporierung von Interessenverbän-den in politisch-administrative Institutionen sollen soziale Konflikte be-friedet und gesellschaftliche Strukturen stabilisiert werden. Im Mittelpunkt stand dabei sowohl bei der Gründung des bismarckschen Wohlfahrtsstaats im ausgehenden 19. Jahrhundert wie auch in der Phase der Neubegrün-dung dieses Wohlfahrtsstaatsmodells nach dem Ende des Zweiten Welt-kriegs der industrielle Konflikt. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände haben daher eine Quasi-Monopolstellung in den Gremien der Sozialversi-cherungsträger.

Es gibt hinreichenden Anlass zur Vermutung, dass nicht nur die Finan-zierung, der Zugang zu und die Struktur von Leistungen im bismarckschen Wohlfahrtsstaat im Wandel begriffen sind, sondern dass auch die Dimen-sion der Organisation und Verwaltung der Sozialversicherungen unter Druck geraten ist. Zu nennen wären hier als erstes verschiedene Entwick-lungen, die sich unter dem Begriff ?Post-Korporatismus? subsumieren las-sen. Der Begriff des Post-Korporatismus beschreibt sowohl ein veränder-tes Verhältnis zwischen Staat und Verbänden wie auch einen Wandel der inneren Strukturen der Verbände. Mit dem Ende der trente glorieuses wurde die konsensorientierte, korporatistische Politik, die für die Bismarck-Staaten nicht nur in der Sozialversicherungsverwaltung, sondern auch in der Sozial- und Wirtschaftspolitik generell charakteristisch war, mehr und mehr in Frage gestellt. Korporatistische Arrangements wurden immer weniger als eine effektive Form der sozialpolitischen Steuerung, sondern als Hindernis auf dem Weg zu institutioneller Erneuerung wahrgenommen. Die Infragestellung der korporatistischen Konsenspolitik war allerdings nur vor dem Hintergrund der Organisationskrise der tragenden Verbände möglich. Diese besteht vor allem aus massiven Mitgliederrückgängen und einer sinkenden Verpflichtungsfähigkeit der verbleibenden Mitglieder.

Die Frage nach dem Wandel der korporatistischen Prägung der Sozial-versicherungsverwaltung stellt sich auch aus einem weiteren Grund. Neben der Entwicklung hin zu post-korporatistischen Arrangements resultiert Veränderungsdruck für die soziale Selbstverwaltung auch aus den Sozial-staatsreformen der vergangenen 15 Jahre. Die Bismarck-Staaten haben später als andere Wohlfahrtsstaaten und zudem eher graduell als radikal mit dem Umbau des Wohlfahrtsstaates begonnen. Aber auch hier wurden in den vergangenen Jahren Strukturreformen implementiert (Palier 2010; Palier/Martin 2007). Mehr und mehr wird in den Sozialversicherungsstaa-ten die Orientierung am Arbeitnehmerkreis aufgegeben zugunsten eines vom Erwerbsstatus unabhängigen Zugangs zu Sozialversicherungsleistun-gen. Im bismarckschen Sozialversicherungsmodell bestand immer ein en-ger Konnex zwischen Versichertenkreis, Finanzierung und Steuerung durch selbstverwaltete Sozialversicherungsträger. Es sind der Bezug zu der Arbeitswelt einer Industriegesellschaft und deren typische Konfliktkonstel-lationen, welche als roter Faden die vier Dimensionen dieses Wohlfahrts-regimes zusammenhalten: Der Versichertenkreis ist arbeitnehmerzentriert, die Versicherten erhalten vor allem Lohnersatzleistungen, die durch lohn-abhängige Beiträge finanziert werden. Bei der Verwaltung der Leistungen wiederum nehmen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter eine besondere Stellung ein. Die Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre bewirken jedoch, dass die enge Beziehung zur Arbeitswelt, die einst für das bis-marcksche Sozialversicherungsmodell so charakteristisch war, gelockert wird. Durch den veränderten Versichertenkreis und Finanzierungsmodus entstehen institutionelle Inkompatibilitäten: Die sukzessive Abkehr von der Arbeiternehmerversicherung erzeugt Inkongruenzen mit einem Ver-waltungsmodell, das wie die soziale Selbstverwaltung eine stark korporatistische Ausprägung hat und das Arbeitnehmerorganisationen als ?geborene? Vertreter der Versicherten sieht. Stellt man die gewachsene Heterogenität des Versichertenkollektivs in Rechnung, so wird eine dominante Stellung dieser Verbände bei der Repräsentation der Versicherteninteressen in den Institutionen der sozialen Sicherheit zu einer problematischen Einengung (Braun et al. 2009: 106).

Mit der sozialen Selbstverwaltung werden die Sozialversicherungen von einem besonderen Verwaltungstypus getragen, der sich vor allem durch seine Autonomie vom Staat und die Mitwirkung nicht-staatlicher Akteure in der Verwaltungssteuerung auszeichnet. Verwaltungsreformen und Ideen von New Public Management und New Public Governance sind die dritte Quelle für Veränderungsdruck in der sozialen Selbstverwaltung. Die Output-Orientierung hat vor dem Hintergrund knapper Sozialversicherungskassen und veränderter Qualitätsansprüche in der (Sozial-)Verwaltung erheblich an Bedeutung gewonnen und soll durch eine Neujustierung von wettbe-werblicher und hierarchischer Koordination verbessert werden. Für die korporatistische Selbstverwaltung bedeutet dies einerseits eine Infragestellung von Elementen der ehrenamtlichen - als unprofessionell eingeschätzten - Steuerung der Sozialversicherungsträger, anderseits aber auch eine Veränderung der organisationalen Autonomie durch ein verändertes Verhältnis der Kassen zueinander und der Kassen zum Staat. In den letzten Jahren ist die Zukunft der tradierten Formen der Orga-nisation und Verwaltung von Sozialversicherungen problematisch gewor-den. Diese Studie untersucht, ob die korporatistische Selbstverwaltung - in einer inkrementell modernisierten Form - Bestand hat, oder ob es zu ei-nem Übergang zu postkorporatistischen Formen der Selbstverwaltung oder gar zur Abschaffung von Selbstverwaltungen kommt.