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Glücklich, wer vergisst - Krimi

Edith Kneifl

 

Verlag Haymon, 2012

ISBN 9783709974377 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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3,99 EUR


 

1. Kapitel


„Wir müssen sofort an den Attersee fahren. Deine Halbschwester steht unter Mordverdacht.“ Die Stimme meines Vaters triefte vor Theatralik.

„Bist du jetzt am helllichten Tag schon besoffen?“, fauchte ich in den Hörer.

„Es ist eine Tragödie!“

Die einzige Tragödie sind schauspielernde Väter. Ich sagte es nicht laut.

„Du hast kriminalistisches Gespür und außerdem eine tolle Verbindung zur Wiener Kriminalpolizei. Du musst uns helfen!“

Er sprach von „uns“. Noch bevor ich ahnte, worum es ging, sagte ich energisch: „Lass mich in Frieden, Victor. Ich habe von kriminellen Geschichten ein für alle Mal die Nase voll. Kein Interesse.“

„Ich sage nur Franzi …“

Als ich nicht sofort reagierte, sagte er: „Erinnerst du dich denn nicht mehr an Franzi? Deine beste Freundin, damals am Attersee?“

„Ich erinnere mich sehr wohl an sie“, sagte ich reserviert.

„Franzi ist deine Halbschwester. Und sie ist gerade verhaftet worden. Keiner außer dir oder deinem Kommissar wird ihr helfen.“

Mein Herr Papa weigerte sich nach wie vor, den Karrieresprung meines Freundes zu akzeptieren. „Jan Serner ist Major und für banale Mordfälle nicht mehr zuständig“, sagte ich. Dann erst registrierte ich, was er über Franzi gesagt hatte.

„Franzi ist meine Schwester?“, fragte ich ungläubig.

„Ja, mein Schatz. Beruhige dich, es war vor deiner Zeit. Ich wusste bis vor einer halben Stunde selbst nicht, dass ich der Welt nicht nur eine schöne Tochter geschenkt habe. Ich habe die Kleine immer wie ein Vater geliebt. Das ist mir erst jetzt bewusst geworden. Als mich die Baronin anrief und mir dieses ganze Drama geschildert hat …“

„Hör auf, Victor. Du hast Franzi nie leiden können. Hast Angst gehabt, dass sie einen schlechten Einfluss auf mich haben könnte, weil sie viel selbstbewusster und frecher war als ich.“

„Du erfindest, wie immer, deine Geschichte neu.“

Was meinte er denn damit nun wieder?

„Walpurga hat mich vorhin angerufen und mir alles gestanden.“

Ich war sprachlos. Walpurga war eine Jugendfreundin von Victor. Sie hatten sich bei einem Konzert der Wiener Musikhochschule kennengelernt. Er hatte zu dieser Zeit das Reinhardt-Seminar besucht, während sie Klavier und Komposition an der Hochschule studiert hatte. Nach meiner Geburt verbrachten meine Eltern fast jeden Sommer zwei Monate mit mir auf Schloss Welschenbach am Attersee. Eine billige Sommerfrische, idyllisch und vornehm zugleich. Mir war nie der Gedanke gekommen, dass Victors Vorliebe für diesen See auch erotische Gründe haben könnte.

„Ja, ich habe tatsächlich erst heute erfahren, dass Franzi meine Tochter ist“, schrie mein Vater ins Telefon.

Ich hielt den Hörer ein paar Zentimeter weg.

„Kurz bevor Gisela mit dir schwanger wurde, hatten deine Mutter und ich uns vorübergehend getrennt. Ich verbrachte den Sommer damals allein am Attersee. Gisela blieb in Wien, arbeitete an ihrer Diplomarbeit. Walpurga war eine sehr attraktive, junge, todunglückliche Witwe. Und es kam, wie es kommen musste …“ Er seufzte herzerweichend.

„Und du warst ein sehr attraktiver, junger Witwentröster“, murmelte ich resigniert. Dann begann ich nachzurechnen und herrschte ihn an: „Erzähl keinen Mist, Papa. Franzis Vater starb, als sie zweieinhalb Jahre alt war. Wenn du willst, dass ich dir helfe, musst du mir die Wahrheit sagen.“

„Wahrheit? Du kannst einem alten Mann nicht verdenken, wenn er ein paar Jahreszahlen durcheinanderbringt.“

Alter Mann? Sehr interessant. War das seine neue Masche? Schärfer, als ich es beabsichtigt hatte, sagte ich: „Also, ihr hattet schlicht und einfach eine Affäre miteinander? So was soll hin und wieder vorkommen.“

„Sei nicht so zynisch, mein Kind. Ich wollte es dir ja gerade erklären.“

„Was gibt es da zu erklären? Mich interessiert nur, wer wen umgebracht hat.“

„Das weiß ich nicht. Die Polizei verdächtigt unsere arme Franzi, ihren Stiefvater Philip Mankur ermordet zu haben, diesen zweitklassigen Sänger und Schmierenkomödianten.“

„War er nicht früher einmal dein bester Freund?“

Papa ignorierte meinen Einwand und fuhr aufgeregt fort: „Angeblich hat sie ihn mit einem Schürhaken erschlagen. Nein, ich glaube, sie hat seine Eier damit aufgespießt.“

„Mit einem Schürhaken?“

„Ich weiß nicht genau, was passiert ist, Schatz. Auf jeden Fall war’s Totschlag, vielleicht sogar Mord. Die arme Walpurga kann sich keinen ordentlichen Anwalt für ihre Tochter leisten, deshalb hat sie sich an mich gewandt.“

„An den liebenden Vater! Was für eine rührende Geschichte. Du hast doch auch kein Geld.“

„Deshalb habe ich ja gedacht, dass du …“

„Einen teuren Anwalt bezahlen soll? Du spinnst wohl.“

„Joe, lass mich ausreden. Es gibt einen Enkel. Franzi hat einen Sohn. Ist das nicht wunderbar?“

Ein Stammhalter! Na endlich! – Bevor ich völlig ausrastete, verlegte sich Victor aufs Bitten: „Josefa, bitte, Liebes, es geht um unsere Familie. Wir beide haben sonst niemanden mehr“, sagte er mit weinerlicher Stimme.

Obwohl mir eher zum Lachen zumute war, konnte ich seinem flehenden Ton nicht widerstehen. Ich hatte meinem Vater noch nie was abschlagen können. Allerdings ließ ich ihn all seine Überredungskünste aufbieten, bevor ich mich gnädigerweise bereit erklärte, ein letztes Mal Detektivin zu spielen.

Morde passierten mir einfach. Aber warum musste ich mich immer gleich einmischen? Ich wollte eigentlich nichts mit Mord und Totschlag zu tun haben, war im Grunde ein ängstlicher Mensch. Doch meine Neugier und mein Gerechtigkeitssinn waren anscheinend ebenso stark entwickelt wie meine Ängstlichkeit.

Jan würde zwar nicht erfreut sein, wenn er davon erfuhr – aber da er gerade an einer internationalen Konferenz in Stockholm teilnahm und wir nur sporadisch miteinander telefonierten, musste ich ihm ja nicht verraten, dass ich für eine paar Tage an den Attersee fahren würde.

Ich träumte in den vergangenen Jahren oft von diesem See. Wasser steht für Erinnerung, das Eintauchen in die Kindheit. Die Sommer meiner Kindheit bedeuteten See, Sonne und ein altes Schloss. In meinen Träumen malte ich mir aus, wie ich an einem frühen Sommermorgen ins kalte Wasser springen und das prickelnde Gefühl auf meiner Haut genießen würde. Nach dem erfrischenden Bad würde ich mit blauen Lippen und am ganzen Körper zitternd auf dem morschen Holzsteg liegen und mir von den ersten Sonnenstrahlen meinen Rücken wärmen lassen. Ich konnte die Wassertropfen, die auf meinen Armen und Beinen verdunsteten, fast spüren und sah mir dabei zu, wie ich die kleinen Fische im seichten Wasser beobachtete.

Der Attersee konnte seine Farbe wechseln wie ein Chamäleon. Von mattem Taubenblau über Marineblau, zu Türkis bis Smaragdgrün. Alle Schattierungen zwischen Blau und Grün waren bis heute meine Lieblingsfarben.

Ich schaute aus dem Zugfenster und sah öde braune Felder. Es war ein regnerischer Herbsttag. Grau- und Brauntöne, so weit das Auge reichte. An sich mochte ich flaches Land, einen weiten Blick. Aber den hatte man im Welser Becken nur an klaren, kalten Wintertagen oder kurz vor einem heftigen Sommergewitter.

Die Mitreisenden in meinem Abteil schauten nicht aus dem Fenster. Sie wussten, dass es draußen nur öde braune Felder zu sehen gab, graubraune Hügel, graue Einfamilienhäuser.

Der ICE verlangsamte sein Tempo. „In wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof Attnang-Puchheim“, verkündete eine Männerstimme aus dem Lautsprecher und wiederholte diesen Satz in akzentreichem Englisch. Die Studenten, die mir gegenüber saßen, grinsten überheblich.

Ich hängte mir die große schwarze Reisetasche um die Schulter und zwängte mich durch die verschwitzten Jungmänner, die am Gang mit einigen Bierdosen ihren Freigang begossen. Was für eine Schnapsidee, sich ausgerechnet an einem Freitagnachmittag auf die Westbahnstrecke zu begeben!

Die Baronin erwartete mich auf Bahnsteig 3. Ich erkannte sie sofort, obwohl ich mir Gesichter schlecht merken kann und wir uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatten. Die Jahre waren an Walpurga nicht spurlos vorübergegangen. Sie hatte an die zwanzig Kilo zugenommen. Ihr volles, ehemals blondes Haar war ergraut, fast weiß, das hübsche, ebenmäßige Gesicht sonnenverbrannt und von tiefen Falten durchzogen, wie das Gesicht...