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Stadt der Schmerzen - Ein Florenz-Krimi

Edith Kneifl

 

Verlag Haymon, 2012

ISBN 9783709974469 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Teil 1


1.


Nach zehnstündiger Autofahrt drohte mein Kopf zu explodieren. Das Pochen in meinen Schläfen war unerträglich. Was für eine Schnapsidee, mich von Orlando überreden zu lassen, ihn zum Begräbnis seines italienischen Vaters nach Florenz zu begleiten.

Orlandos Vater, ein italienischer Adeliger, war leider nicht mit seiner Mutter, sondern mit einer anderen Frau verheiratet gewesen, als er ihn gezeugt hatte. Trotzdem besaß Orlando eine gewisse Sympathie für die Monarchie. Während der langen Fahrt hatte er mich über seinen komplizierten Stammbaum aufgeklärt, der angeblich bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte, und mir von seiner noblen Verwandtschaft vorgeschwärmt.

Bevor ich angefangen hatte, als Kellnerin zu arbeiten, hatte ich Geschichte studiert und auch einige Vorlesungen in Kunstgeschichte besucht. Momentan konnte ich mich aber für gar nichts begeistern: Die bronzene Kopie des David, der fantastische Blick von der Piazzale Michelangelo auf die Stadt, die älteste Kirche von Florenz, die als eine der schönsten romanischen Kirchen Italiens galt – nichts als vergeudete Schönheit für meine müden Augen.

Es war Mitte Juli und drückend schwül. Der Himmel war grau. Von den Boboli-Gärten strömte warme süßliche Luft herauf. Es roch nach Lorbeer.

Leise fluchend keuchte ich die unzähligen Stufen zu San Miniato al Monte hoch. Orlando hatte sich bei mir eingehängt. Ich schüttelte seinen Arm ab.

„Ich schleppe genug eigene Kilos mit mir herum“, zischte ich ihn an.

„Hat diese Treppe nicht auch Michelangelo gebaut?“, fragte er.

„Was weiß ich. In dieser Stadt ist alles große Kunst“, antwortete ich unwirsch.

Ich war die ganze Strecke von Wien nach Florenz allein gefahren, obwohl Orlando versprochen hatte, mich am Steuer abzulösen. Als ich ihn dann kurz vor Bologna bat, sich ans Steuer zu setzen, hatte er vorgegeben, unter heftigen Bauchkrämpfen zu leiden. Wahrscheinlich besaß er in Wirklichkeit gar keinen Führerschein.

Wir waren mitten in der Nacht losgefahren. Auf der Südautobahn und im Kanaltal war nicht viel los gewesen, aber vor Mestre waren wir in den Frühverkehr geraten und eineinhalb Stunden im Stau gestanden. Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Ein Stau gehört zum Schlimmsten, was mir passieren kann. Der dichte Verkehr hatte bis Florenz angehalten. Wir waren nur im Schneckentempo vorangekommen. In Florenz hatten wir uns verfahren, obwohl Orlando behauptet hatte, diese Stadt wie seine Westentasche zu kennen. Wir waren uns in die Haare geraten, und ich hatte kein Wort mehr mit ihm geredet, bis wir endlich einen Parkplatz in der Nähe der Piazzale Michelangelo gefunden hatten. Nachdem wir uns im Auto rasch für das Begräbnis umgezogen hatten, waren wir zur Kirche geeilt.

San Miniato al Monte war bis auf den letzten Platz besetzt. Halb Florenz schien von dem alten Rudolfo Pazzini Abschied nehmen zu wollen. Jede Menge Fotografen und Journalisten, sogar ein Fernsehteam, waren anwesend.

„Fantastisch“, murmelte Orlando beeindruckt. „Mein Vater war ein berühmter Mann!“

Orlando hatte sich wieder einmal viel zu stark geschminkt. Inmitten all dieser aufgetakelten Society-Ladies fiel er jedoch kaum auf. Zum Glück hatte ich ihn davon abbringen können, sein bodenlanges schwarzes Kleid anzuziehen. Genau genommen hatte ich ihn erpresst: Ich hatte nur eingewilligt, mit zu diesem Begräbnis zu fahren, wenn er nicht in seinem heiß geliebten Sisi-Look auftreten würde. Er hatte sogar auf die Diamantsternchen in seiner Langhaarperücke verzichtet und sich nur in ein wadenlanges, hautenges dunkelblaues Cocktailkleid gezwängt.

„Was sagen eigentlich deine italienischen Verwandten dazu, dass du immer in Frauenkleidern herumläufst?“, fragte ich ihn, als wir die Kirche betraten.

„Lass mich in Frieden“, zischte er.

Der schwarz lackierte Sarg mit den in Gold geprägten Initialen des Verstorbenen wurde von fünf Männern flankiert. Ich erkannte Francesco, den Halbbruder Orlandos, den ich schon auf Fotos gesehen hatte. Ein Mann um die Vierzig, mit dunkelbraunem, langem Haar, auffallend hellblauen Augen und einer klassisch römischen Nase. Er war mittelgroß und gut gebaut.

„Da fehlt noch einer“, sagte ich leise. „Wahrscheinlich haben sie mit dir als sechstem Sargträger gerechnet.“

„Davon hat mir keiner was gesagt“, maulte Orlando. „In diesem Kleid kann ich unmöglich …“

„Psst!“, fauchte jemand in der Reihe hinter uns.

„Mein Cousin Riccardo ist nicht da“, flüsterte Orlando. „Bestimmt war er als sechster Mann vorgesehen.“

Als der Priester mit seiner Predigt begann, hörte ich weg. Das Innere von San Miniato al Monte war voller Kunstschätze. Ich erhaschte einen Blick auf den Kreuzaltar von Michelozzo und das Grabmal, das Rosselino für Kardinal Jacob von Lusitanien errichtet hatte.

„Ich muss mich gleich übergeben“, jammerte Orlando. „Dieser verdammte Weihrauch …“

„Okay. Lass uns kurz verschwinden. Das dauert eh ewig hier“, murmelte ich und deutete ihm, mir zu folgen. Anstatt mit ihm ins Freie zu gehen, zog ich ihn hinter mir her in die Krypta. Wenn ich schon mal hier war, wollte ich mir wenigstens den Altar ansehen, in dem die Gebeine des heiligen Minias lagen.

„Kaiser Decius hat Minias 250 nach Christus enthaupten lassen. Angeblich hat Minias sein abgeschlagenes Haupt aufgehoben und ist damit bis zu dieser Stelle gegangen, an der die Christen dann über seinem Grab die erste Kirche der Stadt errichtet haben“, erklärte ich ihm im Flüsterton. Ich hatte für Märtyrer viel übrig.

„Hör mit deinen Schauergeschichten auf, Katharina, mir ist schlecht“, protestierte er.

Ein Mönch in weißer Kutte kniete allein in der düsteren Krypta. Plötzlich beleuchtete ein Sonnenstrahl, der durch ein winziges vergittertes Fenster drang, sein kahles Haupt.

„Sieht er nicht aus wie der Heilige Geist höchstpersönlich“, sagte ich begeistert.

Orlando zupfte mich am Ärmel meines schwarzen Seidenshirts, das ich mir extra für das Begräbnis gekauft hatte. „Ich finde, wir sollten den Alten nicht bei seiner Meditation stören“, flüsterte er.

Gerade rechtzeitig betraten wir wieder das Kirchenschiff. Die Männer hoben nun den Sarg hoch. Ein Ministrant sprang für den fehlenden sechsten Träger ein. Die Trauergemeinde folgte ihnen in angemessenem Abstand. Orlando wollte sich zu seinen Angehörigen vordrängen. Ich hielt ihn zurück und reihte mich mit ihm in der Mitte des Trauerzuges ein.

Die Sargträger hatten soeben die Treppe erreicht, als ein lauter Schrei ertönte.

Ein großer grauhaariger Mann in offenem Hemd und ohne Krawatte stand am Ende der Treppe und schrie noch einmal: „Riccardo ist tot!“

„Wer ist tot?“ „Was ist passiert?“ „Nein, das darf nicht wahr sein!“ „Um Himmels willen!“ „Der Neffe?“ „Auroras Sohn.“ „Nein, unmöglich, Riccardo?“, schrien die Trauergäste durcheinander.

Eine elegant gekleidete ältere Dame, die knapp hinter dem Sarg ging, fiel in Ohnmacht. Dann brach ein Tumult aus. Alle rannten Richtung Ausgang. Schoben und drängten mit Fäusten und Ellenbogen. Hüte flogen, Schals zerrissen und deftige Flüche ertönten.

Ich ließ mich von der Menge treiben. Passte höllisch auf, nicht zu stolpern, denn ich hatte Angst, niedergetrampelt zu werden. Bald hatte ich Orlando aus den Augen verloren.

Ein lautes Poltern und Krachen. Der Ministrant war weniger vorsichtig gewesen als ich und über den Saum seines langen Gewandes gestürzt. Er hatte Francesco ebenfalls zu Fall gebracht. Der Sarg war ihnen entglitten und rutschte über die Stiegen. Entsetzt folgten hunderte Augenpaare diesem makabren Schauspiel. Der Sarg wurde immer schneller und schneller, raste unter dem Schreien und Stöhnen der Trauergesellschaft die steile Treppe hinunter.

Nach ein paar Schrecksekunden liefen einige Männer dem Sarg nach. Es herrschte das perfekte Chaos. Orlando war nirgends zu sehen. Ich hielt mich abseits von dem Getümmel und zündete mir eine Beruhigungszigarette an.

Als die Männer den ramponierten Sarg wieder die Treppe hinaufschleppten, erklangen vereinzelte Bravo-Rufe.

Die Familie des Verstorbenen war umringt von aufgeregten Menschen. Francesco war kreidebleich. Der Sturz hatte Spuren in seinem hübschen Gesicht hinterlassen. Das Cut über seinem rechten Auge blutete, und seine Oberlippe war aufgeplatzt. Heftig gestikulierend redete er auf die umstehenden Leute ein. Eine Frau in meinem Alter, also um die Vierzig, stand in Tränen aufgelöst...