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Flavia de Luce 4 - Vorhang auf für eine Leiche - Roman - Perfekt für alle Fans der Netflix-Serie »Wednesday«

Alan Bradley

 

Verlag Penhaligon, 2012

ISBN 9783641085254 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


Nasskalte Nebelranken erhoben sich vom Eis wie gepeinigte Seelen, die ihre leibliche Hülle verließen. Die kalte Luft hatte sich in einen trüben, wabernden Dunst verwandelt.

Ich sauste in dem langen Korridor auf und ab, und das Kratzen meiner silbernen Schlittschuhkufen klang wie das trostlose Geräusch, das entsteht, wenn ein Metzger hingebungsvoll seine Messer schleift. Unter der Eisschicht war das komplizierte Muster des Holzparketts noch deutlich zu erkennen, wenn auch seine Farben durch die Beugung des Lichts zugegebenermaßen ein wenig stumpf wirkten.

Die zwölf Kerzen über mir, die ich aus der Anrichtekammer gemopst und in die uralten Kronleuchter gesteckt hatte, flackerten wie irre im Luftzug, wenn ich unter ihnen entlangschoss. Auf und ab fuhr ich, hin und her und rundherum. Ich atmete die beißend kalte Luft tief ein und stieß sie als kleine silbrige Wölkchen wieder aus.

Als ich schließlich mit harschem Kratzen zum Stehen kam, spritzten kleine Eisbröckchen wie eine sich brechende Welle aus winzigen, bunten Diamanten auf.

 

Die Bildergalerie zu fluten war nicht besonders schwer gewesen: Man musste lediglich von der Terrasse her einen Gummischlauch durch das Fenster schlängeln und das Wasser die ganze Nacht über laufen lassen – und natürlich bedurfte es dieser erbarmungslosen Kälte, die das Land nun schon seit vierzehn Tagen in ihrem eisigen Griff hielt.

Da ohnehin nie jemand den unbeheizten Ostflügel von Buckshaw aufsuchte, würde auch niemand meine improvisierte Eisbahn entdecken; jedenfalls nicht bis zum Frühling, wenn die ganze Pracht wieder schmolz. Niemand, bis auf meine in Öl gemalten Vorfahren vielleicht, die in Reih und Glied an den Wänden hingen und mein Treiben aus ihren schweren Bilderrahmen heraus mit frostigen Blicken missbilligten.

Ich streckte ihnen die Zunge heraus, wobei ich ein unanständiges Geräusch machte, und glitt erneut in den kalten Dunst hinein, wobei ich mich wie eine Eisschnellläuferin weit vorbeugte und mit dem rechten Arm in der Luft herumfuchtelte. Meine Zöpfe flatterten wild, und die linke Hand hatte ich so lässig auf den Rücken gelegt, als befände ich mich auf einem Sonntagsspaziergang durch unsere herrliche Natur.

Wie schön wäre es doch, dachte ich, wenn jetzt ein Modefotograf wie zum Beispiel Cecil Beaton zufällig mit seiner Kamera vorbeikäme und diesen Augenblick für die Nachwelt festhielte.

»Mach einfach weiter, Mädel«, würde er sagen. »Verhalte dich ganz natürlich, als wäre ich gar nicht da.« Und schon würde ich wieder wie der Wind durch unsere endlos lange, holzgetäfelte Ahnengalerie sausen, und ab und zu würde das diskrete Knallen einer Blitzlichtbirne meine Bewegungen für die Ewigkeit konservieren.

Ein, zwei Wochen danach würde ich dann auf den Seiten von Country Life oder der Londoner Illustrierten Nachrichten erscheinen, mitten im schwungvollen Lauf, in einer entschlossenen und zugleich unfassbar anmutigen Bewegung erstarrt.

»Bezaubernd – betörend – de Luce« würde die Bildunterschrift lauten. »Elfjährige Eisläuferin ist bewegte Poesie.«

»Herr im Himmel!«, würde es Vater entfahren. »Das ist ja Flavia!«

»Ophelia! Daphne!«, würde Vater rufen, mit der Zeitschrift wie mit einer Fahne wedeln und dann noch einmal einen Blick darauf werfen, um sich zu vergewissern. »Kommt schnell her! Das ist Flavia – eure Schwester.«

Bei dem Gedanken an meine Schwestern stöhnte ich laut. Bis dahin hatte mir die Kälte nicht allzu viel ausgemacht, jetzt aber packte sie mich plötzlich mit der Wucht eines atlantischen Sturmwindes – die bittere, beißende, lähmende Kälte auf hoher See im Winter, die Kälte des Grabes.

Ich zitterte wie Espenlaub und riss die Augen auf.

Die Zeiger meines Messingweckers standen auf Viertel nach sechs.

Ich schwang die Beine aus dem Bett, tastete mit den Zehen nach den Pantoffeln und watschelte dann, eingewickelt in mein gesamtes Bettzeug – Deckbett, Steppdecke und so weiter  –, wie eine bucklige, leicht übergewichtige Kakerlake zum Fenster hinüber.

Draußen war es natürlich noch dunkel. Um diese Jahreszeit würde die Sonne erst in zwei Stunden aufgehen.

Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren groß wie Exerzierplätze, kalte, zugige Säle mit weit voneinander entfernten Wänden und finsteren Ecken, und mein Zimmer, im südlichsten Winkel des Ostflügels gelegen, war das weitläufigste und trostloseste von allen.

In der Folge eines langen, erbitterten Disputs zwischen zweien meiner Vorfahren, Antony und William de Luce, bei dem es um den Sportsgeist bei gewissen militärischen Taktiken im Krimkrieg ging, hatten sie Buckshaw in zwei Lager geteilt, deren Demarkationslinie sich mit schwarzer Farbe mitten durch die Eingangshalle zog: eine Linie, die keiner der Kontrahenten übertreten durfte. So kam es aus den verschiedensten Gründen – von denen manche ziemlich langweilig, andere ausgesprochen absurd sind – noch während der Regierungszeit von König George V. dazu, dass man andere Teile des Hauses renovierte, während der Ostflügel größtenteils unbeheizt blieb und schließlich aufgegeben wurde.

Das hervorragende Chemielabor, das für meinen Großonkel Tarquin (oder kurz »Tar«) de Luce von dessen Vater eingerichtet worden war, hatte ein vergessenes und vernachlässigtes Dasein gefristet, bis ich seine Schätze entdeckt und für mich beansprucht hatte. Mithilfe von Onkel Tars sorgfältig geführten Notizbüchern und meiner bedingungslosen Leidenschaft für die Chemie, die mir offenbar schon von Geburt an im Blut lag, hatte ich bereits beachtliche Fähigkeiten darin erworben, »die Bausteine des Universums umzugruppieren«, wie ich es immer nannte.

»Beachtliche Fähigkeiten?«, protestierte meine innere Stimme. »Nur ›beachtliche‹? Jetzt mach aber mal halblang, Flavia! Du weißt genau, dass du ein absolutes Genie bist!«

Die meisten Chemiker, ob sie es nun zugeben oder nicht, hegen in ihrem Metier ein kleines Steckenpferd, auf dem sie am liebsten herumreiten. Mein Steckenpferd sind die Gifte.

Auch wenn ich noch immer in Verzückung geraten kann, wenn ich daran denke, wie ich einmal die Schlüpfer meiner Schwester Feely kräftig currygelb gefärbt habe, indem ich sie in einer Lösung aus Bleizucker kochte und anschließend in eine weitere aus Kaliumchromat tauchte: Mir ging das Herz erst dann so richtig auf, als ich zum ersten Mal ein simples, aber recht nützliches Gift herstellte, indem ich die dicke Schicht Grünspan von dem kupfernen Schwimmer in einem unserer Toilettenspülkästen aus dem 19. Jahrhundert abkratzte.

Ich verneigte mich vor meinem Spiegelbild – und musste beim Anblick der fetten weißen »Schnecke im Schlafrock«, die sich vor mir verneigte, laut lachen.

Ich schlüpfte in meine Klamotten vom Vortag und streifte in letzter Sekunde noch eine ausgebeulte graue Strickjacke über, die ich aus der untersten Schublade von Vaters Kommode entwendet hatte. Diese unförmige Monstrosität, die mit ihren olivfarbenen und kastanienbraunen Rauten an eine verbrutzelte Klapperschlange erinnerte, hatte ihm seine Schwester, meine Tante Felicity, zum letzten Weihnachtsfest gestrickt.

»Sehr aufmerksam, Lissy«, hatte Vater gesagt und sich auf diese Weise um eine eindeutigere Lobpreisung des hässlichen Fetzens gedrückt. Als mir im August auffiel, dass er das Ding noch kein einziges Mal getragen hatte, betrachtete ich es als leichte Beute, und seitdem die kalte Witterung eingesetzt hatte, war es zu meinem Lieblingskleidungsstück avanciert.

Natürlich passte mir die Jacke nicht. Auch wenn ich die Ärmel aufkrempelte, sah ich darin aus wie ein zerzauster Affe beim Bananenpflücken. Andererseits ist, meiner Meinung nach und zumindest im Winter, die Wärme dicker Wolle dem Frieren in modischen Fähnchen jederzeit vorzuziehen.

Außerdem hatte ich mir angewöhnt, mir zu Weihnachten keine Anziehsachen zu wünschen. Warum dafür einen Wunsch verschwenden, wenn man todsicher sowieso etwas zum Anziehen geschenkt bekam?

Letztes Jahr hatte ich den Weihnachtsmann um einige dringend benötigte Laborgläser gebeten – ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, eigens eine Liste der unterschiedlichen Kolben, Bechergläser und Reagenzgläser anzufertigen und unter mein Kopfkissen zu legen – und, siehe da –, der brave Kerl hatte tatsächlich alles besorgt!

Feely und Daffy glaubten nicht an den Weihnachtsmann, weshalb er ihnen bestimmt absichtlich so ausgesucht lausige Geschenke wie parfümierte Seife, Morgenmäntel und Pantoffeln brachte, die so aussahen und sich auch so anfühlten, als wären sie aus orientalischen Teppichen geschneidert.

Immer wieder hatten mich meine Schwestern belehrt, dass der Weihnachtsmann nur etwas für kleine Kinder sei.

»Er ist nur ein grausamer Spaß, den sich Eltern auf Kosten ihrer grässlichen Gören machen, damit sie sie mit Geschenken überhäufen können, ohne sich richtig mit ihnen befassen zu müssen«, hatte Daffy erst letztes Jahr allen Ernstes behauptet. »Er ist ein Märchen, mehr nicht, ich schwör’s. Schließlich bin ich älter als du und kenne mich mit so was aus.«

Ob ich ihr glaubte? Ich war mir nicht ganz sicher … Als ich wieder in meinem Zimmer war und darüber nachdenken konnte, ohne gleich loszuheulen, hatte ich das Problem mit meinen ausgeprägten detektivischen Fähigkeiten beleuchtet und war zu dem Schluss gekommen, dass meine Schwestern gelogen hatten. Wer sollte denn sonst meine Laborgläser gebracht haben, bitte schön?

Außer dem Weihnachtsmann kamen nur fünf Kandidaten infrage. Mein Vater, Colonel Haviland de Luce, war völlig...