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Cherryman jagt Mister White

Jakob Arjouni

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601343 , 176 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[9] 1

Ich hatte die vier schon von weitem gesehen und gehofft, sie wären zu beschäftigt oder zu blau, um mich zu bemerken. Heiko, Mario, Robert und Vladimir. Statt wie üblich die Abkürzung über die Wiese zu nehmen, folgte ich dem Kiesweg und machte einen weiten Bogen um sie. Aber ich hatte nicht bedacht, wie laut der Kies an einem windstillen, trockenen Tag unter meinen Schritten knirschen würde.

»He, Rick!«

Ich hielt den Blick gesenkt.

»Komm her!«

»Na los!«

»Rick!«

»Ri-hik!«

»Rickilein!«

Aus den Augenwinkeln vergewisserte ich mich, dass sie keine Anstalten machten aufzustehen. Sie saßen gegen die Rückwand des Supermarkts gelehnt im Schatten der Müllcontainer, vor ihnen [10] leere Flaschen und ein Bierkasten. Ich bemühte mich, normal weiterzugehen. Dabei sah ich angestrengt vor mich hin, als beschäftigte mich eine komplizierte Matheaufgabe.

»Wenn du nicht sofort herkommst, gibt’s was!«

»Rick!«

»Eins, zwei…«

»Zweieinhalb…«

»Denk an euren Kirschbaum!«

Ich ließ mir nichts anmerken.

Im letzten Frühling hatten sie rostige Nägel in unseren Kirschbaum geschlagen und ihn damit vergiftet. Ein paar Monate später war er eingegangen. Mein Lieblingsbaum. Weil ich den Vereinsbeitrag nicht gezahlt hatte. Dabei war »Vereinsbeitrag« natürlich ein Witz. Es gab gar keinen Verein, und wenn, wäre ich in ihrem Verein niemals Mitglied geworden. Es ging nur um Abzocke. Vielleicht auch darum, Mafia zu spielen, wie im Kino.

»Oder an die Miezi?«

»Miezi, Miezi!«

»Miezi, Miezi, Miezi – platsch!«

Sie lachten betrunken.

Drei Monate zuvor hatte Robert meine Katze mit voller Wucht gegen die Wand des Bienenhauses geworfen. Einfach so.

[11] »Du hast schon wieder nicht gezahlt.«

»Ich hab kein Geld.«

»Weil du alles für die Heftchen ausgibst. Hat dir deine Tante nicht beigebracht, dass Comics dumm machen?«

Ich antwortete nicht, auch wenn ich gerne so was gesagt hätte wie: Na, dann musst du ja der super Comic-Kenner sein.

»Guck mal, was ich hier habe…«

Und er zog Tiger aus seiner Adidas-Umhängetasche, und mir wurde augenblicklich kotzübel. Robert war von allen in der Gruppe mit Abstand der Kränkste. Er schwenkte Tiger am Nackenfell in der Luft hin und her und grinste. Tiger zappelte und fauchte.

»Lass ihn los«, sagte ich und bemühte mich um einen ruhigen Ton, obwohl mir fast die Stimme wegblieb. »Bitte…!«

Gleichzeitig überkam mich ein solcher Hass, aber ich konnte nichts tun. Robert war fast doppelt so breit und mehr als doppelt so schwer wie ich, ein fettes brutales Riesenbaby.

»Ist doch ganz einfach, Rick: Du musst deine Beiträge bezahlen, dann sind wir Freunde, und du hast deine Ruhe.«

»Bitte, Robert, lass ihn los. Ich zahl ja, ich war nur in den letzten Monaten ein bisschen knapp, aber… [12] Ich weiß was! Ich verkauf meinen CD-Player, gleich nachher, ganz bestimmt – bitte…«

Tiger schrie jetzt vor Wut und Schmerzen und versuchte immer wieder, den Kopf zu Robert umzudrehen, als könne er nicht glauben, dass jemand ihn so behandelte – ihn, den stolzen Herrscher über Tante Bambuschs Garten.

»Hast du das letzte Mal auch gesagt: sofort, gleich, ganz bestimmt. Und dann… Du bist uns ausgewichen, Ricki, ich hab’s gesehen. Immer hintenrum zum Lidl. Und zum Altstadtfest bist du auch nicht gekommen.«

»Aber doch nicht wegen euch. Tante Bambusch war krank, und ich…«

»Und da hast du ihr das Bettchen gemacht, und Teechen – der butzi-butzi Ricki. Solltest sie besser richtig schwer krank werden lassen, erbst doch alles, Ricki. Und dann kannst du auch deine Beiträge immer zahlen.«

Er grinste. Tiger zappelte inzwischen nur noch mit den Beinen, fauchte hin und wieder fassungslos und warf mir verstörte Blicke zu. Ich, sein bester Freund, ließ das zu.

»Vielleicht schubs ich sie einfach mal aus Versehen, wenn sie auf dem Weg zu ihrer Kartenspielrunde ist. Weißt du? Da in der Goethestraße, wo die LKWs um die Ecke fetzen. Oder ich kick ihr den [13] Stock weg. Verstehst du, Ricki, du musst deine Beiträge zahlen…«

Er schwenkte Tiger durch die Luft, und ich schrie: »Hör auf!«

»…sonst geht’s deiner lieben Tante wie dem kleinen Krallenmann hier: nur noch Matsch.«

Und damit holte er aus und schleuderte Tiger gegen die Wand. Er muss sofort tot gewesen sein, ich hörte nur den Aufprall und dann nichts mehr. Brüllend warf ich mich auf Robert und versuchte, seinen schwabbeligen Hals zu packen. Aber er nahm mich sofort in den Schwitzkasten, schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht und sagte: »Komm, reg dich ab. Ist doch nur ’ne blöde Katze. Und wer nicht hören will, muss eben fühlen.«

Seitdem hatte ich meine »Beiträge« immer gezahlt. Und wenn ich’s irgendwie einrichten konnte, begleitete ich Tante Bambusch zu ihrem wöchentlichen Canasta-Termin im Café Rosengarten.

Jedenfalls war ich ihnen nichts schuldig. Wenn sie mich in dem Moment draußen beim Supermarkt riefen und mir drohten, war das ein Bruch unserer Abmachung. Naja, Abmachung… Aber so habe ich’s dann eben irgendwann für mich genannt. Manchmal habe ich mir sogar gesagt: Gut, jetzt hast du Schutz – wenn dir irgendjemand Ärger macht, [14] kannst du dich immer an Robert und die Jungs wenden. Natürlich idiotisch, aber Sie, Doktor Layton, können sicher leicht erklären, warum man sich so was einredet.

Heiko, der Dümmste von ihnen – also, eigentlich richtig zurückgeblieben, er hätte gut hier in die Klinik gepasst, drüben zu den Koma-Wesen –, jedenfalls Heiko brauchte wie immer ein Weilchen, dann ahmte er die anderen nach: »Miezi, Miezi, Miezi – platsch!« und lachte gaga.

Mario und Vladimir schlugen ihm auf die Schultern und lachten ebenfalls. Aber nicht mit ihm, sondern über ihn. Heiko war ihr Clown. Manchmal auch ihr Opfer oder Versuchskaninchen. Einmal haben sie ihn festgehalten und mit einem Trichter einen Liter Wodka in ihn reingeschüttet. Einfach so. Um zu gucken, ob er’s überlebt. Immerhin haben sie dann den Notarzt gerufen, und im Krankenhaus konnten sie Heiko gerade noch rechtzeitig den Magen auspumpen. Ein Liter Wodka auf ex, das packt kaum einer. Oder ein andermal haben sie ihn bis auf die Unterhose ausgezogen und dann mit einem Messer an verschiedenen Stellen geritzt, bis er völlig blutverschmiert war. Dann haben sie ihn vor die Haustür eines unserer Lehrer gestellt, die Klingel gedrückt und sich hinter Büschen versteckt. Der Lehrer galt als schwul, und sie hofften, er [15] würde Heiko helfen und dabei von der Situation profitieren, ihm an den Penis greifen oder so. Aber der Lehrer war nicht blöd. Er hat Heiko vor der Tür stehen lassen und die Polizei gerufen. Der hat Heiko – nach wie vor in Unterhose und blutverschmiert – dann erzählt, er habe nur mal guten Tag sagen wollen. Die anderen haben sich frech dazugestellt und vor Lachen kaum eingekriegt. Heiko verriet sie nicht. Er verriet sie nie. Er ließ einfach alles mit sich machen. Hauptsache, sie machten etwas mit ihm.

»Komm schon, Rick«, rief Vladimir, »war nur Spaß. Dir passiert schon nichts. Wir wollen dich nur was fragen.«

Ich lief ohne aufzusehen weiter. Normalerweise wäre ich um diese Uhrzeit niemals zum Supermarkt gegangen, denn sie saßen fast jeden Nachmittag dort. Aber ich hatte Tante Bambusch versprochen, Quark zu kaufen. Am nächsten Tag sollte ihre Schwester zu Besuch kommen, und Tante Bambusch wollte ihr einen Käsekuchen backen. Sie und ihre Schwester mögen sich nicht, aber Käsekuchen mit Aprikosenkompott ist eine gemeinsame Kindheitserinnerung, und Tante Bambusch hoffte, damit eine friedliche Stimmung zu schaffen.

Auf jeden Fall: Ich musste in den Supermarkt rein, und wenn ich Pech hatte, würden sie mir [16] folgen. Im Supermarkt gibt’s nur einen Ausgang, und so besoffen, wie sie vermutlich waren, hätten sie wahrscheinlich Lust auf eine kleine Verfolgungsjagd bekommen. Sie hätten mich nicht zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zusammengetreten.

»Ricki!«

Wieder Vladimir. Er und Mario waren die Anführer. Mario mehr der Brutale, Vladimir mehr der Hinterhältige.

»Nur ’ne Frage! Unter Freunden! Oder willst du, dass wir denken, dass du mit uns schon wieder nichts mehr zu tun haben willst…? He, was meint ihr? Gehen wir nachher mal bei Rickis Tante vorbei und fragen, warum Ricki seine Freunde so schlecht behandelt? Als wär er was Besseres. Macht mich total traurig. Vielleicht gibt sie uns zum Trost ’n bisschen Geld, damit wir uns ’n Eis kaufen können. Oder sie lädt uns ein, bei ihr fernzugucken, und brät uns ’n paar Schnitzel. Könnt ich jetzt gut gebrauchen. Und Robert spielt mit der neuen Miezi…«

Ich weiß nicht mehr genau, was ich in dem Augenblick dachte. Wahrscheinlich irgendwelche Flüche. Und wie immer wäre ich am liebsten weggelaufen. Aber es hätte nichts genützt, sondern alles nur schlimmer gemacht. Bis sie mich das nächste Mal irgendwo erwischt hätten, wären sie richtig [17] heiß gewesen. Außerdem traute ich ihnen zu, dass sie tatsächlich zu Tante Bambusch gingen und irgendwelchen Mist erzählten. Oder Schlimmeres. Mit genügend Alkohol intus war jeder der vier fähig, eine Siebenundachtzigjährige zu beschimpfen oder sogar zu schlagen und zu quälen.

Ich blieb stehen und wandte den Kopf, als sei ich in Gedanken versunken gewesen. »Hey,...