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Die Seuche

Lukas Hartmann

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600186 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[7] Wer bist du, Hanna? Noch kenne ich dich kaum, ich sehe dich am frühen Morgen aus dem Haus treten. Den Morgenhimmel liebst du, das weiß ich, fröstelnd stehst du in der Kälte, an den Schattenhängen liegt noch Schnee, aber das Grün der Wiesen wird jetzt satter von Tag zu Tag. Auf dem Weg zum Brunnen siehst du blühenden Huflattich; du wirst ihn sammeln und trocknen, die Großmutter macht einen Hustentrank daraus. Schafe blöken in ihren Pferchen, das überhörst du wie das ungeduldige Gackern der Hühner, denn die Klosterglocke beginnt zu läuten, und du schaust hinunter zum Kloster, das am Rand des Plateaus steht, hoch über dem Tal und viel zu groß fürs Dorf, eine dunkle Masse vor der aufgehenden Sonne. Dort betet er jetzt, dein Bruder, er betet wie einer der Mönche, obgleich er keiner ist, er betet in der Kirche mit dem gedrungenen Turm. Nein, du gehst nicht mehr hin, du kannst es nicht mit ansehen, wie er daliegt mit ausgebreiteten Armen, wie er mit der Stirn auf die Fliesen schlägt. Bete zu Gott, dass das [8] Übel uns verschone, hat Mathis gesagt, bete zum heiligen Sebastian und zum heiligen Martin; du hättest beten sollen, Hanna, gleich nach dem Aufstehn. Das Übel kommt näher von Tag zu Tag, durch die Luft kommt es, sagt Mathis, es ist der Hauch des Bösen, wie willst du dich dagegen wehren ohne die Macht des Kreuzes?

Und Sam Ssenyonja habe einen Hektar Land besessen, mit Kaffeesträuchern und Bananen bepflanzt, er habe in einem Steinhaus gewohnt, mit Ziegeln bedeckt, mit hölzernen Läden vor Türen und Fenstern

Die andern am Brunnen sind ernster als sonst, schweigend füllen sie ihre Eimer. Gestern sind Pilger angekommen, erschöpft und zerlumpt, auf der Rückkehr vom Jakobsgrab, sie haben in der Klosterherberge genächtigt; eine lange Reise muss es sein mit den gesegneten Muscheln im Gepäck, über Berge, durch Schluchten, durchs ganze Frankenreich. Einer der Pilger sei krank gewesen, so krank, dass die Männer die vier verjagen wollten, aber Bruder Peter habe ihn aufgenommen und aufs Stroh gebettet. Vom Kloster hörst du den Gesang, doch die Mauern der Herberge sind dick und mit Blicken nicht zu durchdringen, dahinter liegt der Kranke, [9] und du hoffst, Hanna, nicht das Übel, von dem alle reden, habe ihn befallen, sondern ein gewöhnliches Fieber. Mathis hat gesagt, ganze Landstriche und Städte gebe es, die das Übel verwüstet habe, leere Häuser, das Korn verfaule, die Tiere irrten herum.

Als sie sich zum Gehen wendet, kommen drei Pilger den Klosterweg herauf, zu Fuß, es sind keine Herren, sie tragen verdreckte Überwürfe und haben ihre Reisebündel geschultert, einer geht hinter dem andern, schweigend durchqueren sie das Dorf, ihre langen, dünnen Morgenschatten wandern vor ihnen her.

Sam Ssenyonja besaß einen Hektar Land, er wohnte in einem Steinhaus, er wurde fünfunddreißig Jahre alt, er starb im August letzten Jahres, in der Zimmerhöhle neben dem Vordereingang

Die Schafe tränkst du gerne, Hanna, wie dicht fühlt sich die Winterwolle an; deine Füße sinken ein im Morast, bei einer Pfütze brechen sie durch dünnes Eis. Leere Häuser, verfaulendes Korn. Und dieser Traum, der sich Nacht für Nacht wiederholt, der Traum von den Masken und von der Nadel. Der Rabe krächzt, zerrt an der Kette. Lass ihn frei, hat Mathis gesagt; aber solange er seinen lahmen [10] Flügel hat, bleibt er angekettet, er schützt das Haus vor Dieben. Der Kornsack für die Hühner ist fast leer, zwei, drei Handvoll klaubt Hanna heraus, um sie ihnen hinzustreuen. Geht, geht und scharrt, der Boden ist nicht mehr gefroren.

Drinnen kauert Hedwig vor dem Herd, die Decke um sich gewickelt. Hanna legt ein paar Äste nach, gießt Wasser in den Kessel, hängt ihn an den Haken über dem Feuer. Das Summen des Wassers magst du auch, Hanna, du siehst zu, wie der Haferbrei dick wird beim Rühren und die Kelle Furchen zieht, die sich gleich wieder glätten.

Du bist lange weggeblieben, Hanna.

Ich habe wieder geträumt, Großmutter. Ich liege da, und die Männer stehen um mich herum, ihre Gesichter sind verhüllt bis zu den Augen.

Bist du nackt? Berühren sie dich?

Ich weiß es nicht.

Wie viele Männer waren es?

Ich weiß es nicht.

Achte darauf beim nächsten Mal.

Der Name: Sam Ssenyonja; er hatte ein Steinhaus in der Kleinstadt Kyotera

Am Abend kam Mathis zu ihnen herauf. Er brachte unter der Kutte einen Krug Milch mit; niemand im [11] Kloster durfte es wissen, Speistag für die Bedürftigen war der Donnerstag, da gehörte denen, die vor dem Portal standen, die ganze Schüssel; nur den Rahm hatte der Kämmerer für die sieben Mönche abgeschöpft.

Zwei Knechte für sieben Mönche, darüber schüttelte Hedwig den Kopf: Und du, Mathis, willst einer von ihnen werden? Mathis lernte Latein, lesen und schreiben, im Frühjahr sollte er wie alle, die dem Orden beitraten, fürs Noviziat nach Cluny reisen, wo die größte Kirche der Christenheit stand, unvorstellbar der Säulenwald, der Lichterglanz, das Knie beugt sich von selbst; in Cluny gab es mehr Mönche als Schafe im Dorf.

Von Cluny sprachen sie heute nicht. Sie saßen nahe am Feuer auf ihren Schemeln, und Hanna fragte nach dem Kranken.

Er ist tot, sagte Mathis nach einer Pause, wir haben ihn schon begraben.

Begraben, sagte Hedwig mit plötzlicher Schärfe. Verscharrt wohl, wenn ihr’s so eilig hattet. Wo liegt er?

Das darf ich nicht sagen.

Hast du gesehen, wie er starb?

Mathis schüttelte den Kopf; der Kranke sei Tuchhändler gewesen, aus der Reichsstadt Köln gekommen, mehr wisse er nicht.

[12] Hatte er Krämpfe, bevor er starb?, fragte Hedwig. Hatte er Beulen in den Achselhöhlen?

Ich weiß es nicht. Blut soll er gebrochen haben, Blut und Galle, aber sie haben mich nicht zu ihm gelassen. Die Nacht im Stall, das Schreien nebenan, die Mette mit den Mönchen; die ganze Nacht hatten sie gebetet für den Kranken. Mathis kniete neben Hedwigs Schemel, versteckte mit einem Schluchzen, das fast unhörbar blieb, sein Gesicht an ihrer Schulter, vertraut roch’s da, nach Kräutern und Rauch, ihre Schatten an der Wand wuchsen zusammen.

Wer weiß, sagte sie, vielleicht irren wir uns.

Nein, es kann nicht das Übel sein, der Wind trägt das Übel aus giftigen Sümpfen herbei, das sagen alle Gelehrten, aber wie wollen wir uns wehren gegen den Wind? Mathis rückte ein wenig von ihr ab. Was ich erzählt habe, dürft ihr nicht weitersagen, der Bruder Prior hat’s verboten. Er gürtete seine Kutte; wortlos, ohne Licht ging er zur Tür und verschwand in der Nacht.

Die Nacht, die große Nacht, da versammeln sich die Geister der Verirrten bei den drei Eichen, von denen ich manchmal träume, es ist ein Brausen in der Luft, die Wolken fliegen über die Wipfel, im Wald liebe ich das Feuer.

[13] Und Sam Ssenyonja wurde fünfunddreißig Jahre alt, er starb im August, in der Zimmerhöhle neben dem Vordereingang, halb verhungert und qualvoll, auf einer Bastmatte unter dem Bild von Papst Paul dem Sechsten

Die Nacht war finster draußen, das Feuer brannte.

Du bist zu jung für das, was kommen wird, sagte Hedwig, ihr alle seid zu jung. Geht weg von hier, solange noch Zeit ist. Geht gegen Sonnenaufgang. Meidet die Städte.

Wir schulden dem Kloster Zins, Großmutter, wir können nicht weg.

Was gelten jetzt noch Gesetze? Hedwig verstummte; sie hatte sich auf dem Laubsack ausgestreckt, die Decke über sich gezogen. Der Glutschein an der Wand, Schattengehusch wie von fremden Wesen. Draußen schnarrte der Rabe. Lauf nicht in den Wald, Mathis, komm zu mir, wir wollen wieder Kinder sein, wir wollen uns wieder hinter den Garben verstecken. Immer noch der Geschmack der Milch auf der Zunge, die Milch verdirbt rasch, Mathis, sie löscht den Durst nicht. Mit beiden Händen schöpfte Hanna Wasser aus dem Krug, ließ es sich übers Gesicht rinnen, die Haut brannte vor Angst.

Sie trat vors Haus, strich dem Raben übers [14] Gefieder; sein blauschwarzes Schimmern im Mondlicht, das Rumoren der Schafe, leise Stimmen aus den Häusern, das Flackern der niederbrennenden Feuer. Drüben auf der andern Talseite der schwarze Hügel, die Linie, die den Wald vom Himmel trennt. Jetzt fror Hanna wieder, aber sie drückte die Fersen in die nachgiebige Erde und blieb stehen, wo sie war. Ein leichter Wind von Westen her bewegte ihr Haar, verkroch sich in den Falten ihres Rocks. Was war es, was da näherkam, was Menschen verschlang und ganze Städte?

Und Sam Ssenyonja aus der Kleinstadt Kyotera, für den seine Mutter Sarg und Priester bestellte

Die Kälte trieb Hanna zurück ins Haus. Als sie kleiner war, hatte sie geglaubt, die Großmutter schlafe nie, bleibe wach bis zur Morgendämmerung, um sie vor allen Gefahren zu behüten. Wann immer Hanna aufschreckte aus einem bösen Traum und nach ihr rief, bekam sie eine Antwort: Ich bin da, schlaf weiter. Auch diesmal war Hedwig wach; einen leichten Schlaf haben wir Alten, leg dich hin, Hanna, im Schlaf kannst du vergessen.

Wieder die Männer. Sind es Totenhemden, die sie tragen? Sie haben die Gesichter verhüllt, die Augen blicken kühl, ohne Mitleid, die Männer heben [15] Hanna, die sich nicht rühren kann, auf einen Schragen, gleißend das Licht über ihrem Kopf. Hanna schreit auf, das Haus dreht sich um sie. Ich bin da, hört sie die Großmutter sagen, schlaf weiter.

Sam Ssenyonja starb auf seiner Bastmatte unter dem Bild von Papst Paul dem Sechsten, zwei Tage nachdem seine letzte...