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Sara und Simón - Eine endlose Geschichte

Erich Hackl

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600940 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[7] 1

Zur Zeit der Militärdiktatur geriet ein Bürger der Stadt Montevideo, Eduardo Cauterucci Pérez, in helle Aufregung. Als er nämlich am 19. August 1976, gegen acht Uhr abends, in die Hauseinfahrt einbog, entdeckte er in einer Nische neben seiner Wohnungstür, in der Straße Manuel Calleros Nummer 4945, eine Plastikschüssel, in der, unter einem leeren Stoffsack, ein wenige Wochen altes Kind lag. Um den Hals trug es ein Schild mit folgender Aufschrift: »Ich bin am 25. Juni geboren mein Name Marcelo Alejandro. Bitte habt ihn sehr lieb. Danke verzweifelte Mutter.«

Ohne lange zu überlegen, packte der Mann die Schüssel und trug sie ins Haus. Im Schlafzimmer nahm er den Knaben, der ihn mit großen Augen ansah, in seine Arme, legte ihn aufs Bett und holte in aller Eile zwei Nachbarinnen zu Hilfe, die Schwestern Walquiria und Argelia D’Amato. Wenig später traf auch Cauteruccis Frau Elaine Lima ein, und nachdem sie sich überzeugt hatten, daß das Kind soweit gesund sei, verständigte Cauterucci einen alten Bekannten, den Wachtmeister Ledesma vom 16. Polizeirevier. In Begleitung von Walquiria D’Amato und Elaine Lima brachte Ledesma den Jungen ins Waisenhaus der Stadt. [8] Dort wurde er vom Kinderarzt Dr. Carlos Queirolo eingehend untersucht. Queirolos Befund zufolge handelte es sich um einen Säugling mit leichter Dystrophie, optimal entwickelt, von unauffälligem Verhalten. Anders als in ähnlich gelagerten Fällen, mit denen er sonst befaßt war (jährlich wurden in Montevideo vier bis fünf Babys ausgesetzt), war der Zustand des Kindes überaus zufriedenstellend. Das überraschte den Arzt; der Junge muß bisher gut gehalten worden sein, meinte er, Spuren körperlicher oder seelischer Verwahrlosung könne er nicht erkennen. Deshalb falle es schwer zu glauben, daß seine Mutter ihn einfach weggelegt habe. Er sei lebhaft und zeige sich an seiner Umgebung stark interessiert, wohingegen Kinder aus einem aggressiven Umfeld fast immer passiv und apathisch wirkten.

Gerührt wohl auch vom Zufall, der es gerade ihnen zugeführt hatte, hätte Elaine Lima das Kind gern behalten. So bekräftigte sie an Ort und Stelle ihre Bereitschaft, den kleinen Marcelo Alejandro an Kindes Statt anzunehmen. Ledesma, der selbst einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielte, den auffallend hellhäutigen Jungen seiner Frau mitzubringen, erklärte ihr, sie müsse dieses Ansinnen beim zuständigen Pflegschaftsrichter deponieren. Schon am nächsten Tag wurde Frau Lima in dieser Angelegenheit bei Gericht vorstellig, wo man sie jedoch um etwas Geduld bat. Bei ihrer zweiten Vorsprache, eine Woche später, erfuhr sie, daß der Junge bereits einem anderen Ehepaar [9] zugesprochen worden sei. Auf ihre empörte Frage, weshalb man sie übergangen habe, erhielt sie die Auskunft, gemäß den üblichen Gepflogenheiten sei jenes Paar, da es kinderlos sei, auf natürlichem Weg nie Kinder haben könne und seit langem auf der Warteliste stehe, vorzuziehen gewesen. Sie möge diese Entscheidung nicht als mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeiten deuten; sicher wäre sie als Pflegemutter bestens geeignet, auch sei sie von untadeligem Leumund, doch habe sie ja leibliche Kinder und hindere sie nichts daran, selbst für weiteren Nachwuchs zu sorgen.

Elaine Lima, die in der Vorfreude auf ein neues Mitglied der Familie die Babywäsche ihres jüngsten Kindes hervorgeholt hatte, war enttäuscht, fügte sich aber in den Lauf der Dinge. Deshalb blieb ihr von der Episode nicht mehr als die allmählich verblassende Erinnerung an einen turbulenten Abend, und Cauterucci bedauerte es, daß er nicht daran gedacht hatte, das Findelkind in den Armen seiner Frau zu fotografieren.

In Montevideo, nicht allzu weit vom Fundort entfernt, lebte bis ins Jahr 1973 auch eine junge Frau namens Sara Méndez. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, hatte sie nach der Mittelschule einen Bürokurs absolviert. Zwar verspürte sie wenig Neigung, einen kaufmännischen Beruf auszuüben, war jedoch bemüht, die Eltern, die noch drei weitere Kinder großgezogen hatten, finanziell zu entlasten. So arbeitete sie [10] untertags als Kanzleikraft bei einem Rechtsanwalt, später als Kassiererin in einem Friseurladen, während sie abends den Vorstudienlehrgang für Medizin besuchte. Im ersten Jahr aber brach sie das Medizinstudium ab, um sich zur Volksschullehrerin ausbilden zu lassen. Deshalb wechselte sie auf die Pädagogische Hochschule, wo die Studenten mit einigen Lehrern übereingekommen waren, in mehrwöchigen Praktiken ihre künftigen Arbeitsbedingungen in den Schulen auf dem Land, speziell den entlegenen Gegenden im Norden, und am Rande der Hauptstadt zu erkunden.

Im Zuge dieser soziopädagogischen Missionen, wie die Ausflüge in eine den meisten Studenten unbekannte Welt der Not und Verlassenheit genannt wurden, glaubte Sara zu erkennen, daß es nicht damit getan sei, den Kindern während des Unterrichts mit Vertrauen und Geduld zu begegnen. Das Wissen, das sie ihnen beibringen sollte, ließ sich für ihre spätere Tätigkeit als Tagelöhner oder Lumpensammler kaum nutzbringend verwerten, und die Zuwendung und Güte, mit denen die jungen Aushilfslehrer ein paar Wochen lang ihre Zöglinge verblüfften, erwiesen sich als wirkungslos, solange jenseits der Schulmauern Gesetze galten, nach denen sich die Schwachen nur durch Gewalt gegen ihresgleichen behaupten konnten. Überzeugt, daß dem abzuhelfen sei, kehrte Sara von ihrer ersten Mission nach Montevideo zurück. Sie beteiligte sich an den Streiks und Demonstrationen der Hochschüler, deren [11] Forderungen in jenen Jahren über materielle Vergünstigungen, praxisnahe Ausbildung, Reform der Lehrpläne und Kontrolle der Finanzgebarung hinausgingen. Viele Studenten ihres Jahrgangs hatten konfessionelle Privatschulen besucht, in denen sie gezwungen waren, sich einer scheinbar ewig gültigen Ordnung zu unterwerfen. Aber ihre Lehrer lieferten ihnen, teils ungewollt, auch das Rüstzeug, gegen diese Ordnung aufzubegehren, und weckten in ihnen den Willen, sich nicht mit den Regeln der Habgier abzufinden.

Uruguay, das dank des Elans und der Weitsicht seines Präsidenten José Batlle y Ordóñez seit Anfang des Jahrhunderts als die Schweiz Südamerikas angesehen wurde, stürzte durch die fallenden Weltmarktpreise von Fleisch, Wolle und Leder, die Konkurrenz von Billigproduzenten und das Versäumnis der wirtschaftlichen Elite, eine größere Streuung der Warenproduktion zu erzielen, in eine tiefe Krise. Um ihre Gewinne zu halten, hinterzogen Viehzüchter und Gefrierfleischexporteure Steuern, betrieben organisierten Schmuggel und verwandelten ihre Betriebe in Filialen ausländischer Trusts. Der Geldentwertung, die von der Oligarchie durch Preistreiberei, Kapitalflucht und Unterfakturierung ihrer Exportgüter hervorgerufen wurde, versuchte die Regierung mit einem strikten Sparprogramm, mit Lohnstopp und Rücknahme der für den Kontinent beispiellosen Sozialgesetze Herr zu werden. Dagegen wehrten sich die Gewerkschaften, [12] und zahlreiche linke Gruppierungen erstarkten, von denen die Nationale Befreiungsbewegung der Tupamaros unter Uruguays rebellischer Jugend das höchste Ansehen genoß.

In dieser Zeit war Sara überzeugt, daß nur ein radikaler Wandel, notfalls mit Gewalt, imstande sei, Verhältnisse zu beseitigen, die zu ihrem Fortbestand immer wieder Armut schaffen mußten. Mehr aus Zufall denn aufgrund einer wohlbedachten Entscheidung trat sie der Anarchistischen Föderation Uruguays bei, die 1968, unter der Regierung des Präsidenten Pacheco Areco, verboten wurde.

Saras erste Tätigkeit für die Föderation bestand darin, Material für eine Biographie des legendären Anarchisten Simón Radowitzky zusammenzutragen. Sie machte sich mit Feuereifer an die Arbeit, blätterte in vergilbten Zeitungen, ließ sich Bücher und Broschüren aus Argentinien kommen und befragte Veteranen der Arbeiterbewegung, die sich der ungeheuren Erregung erinnerten, mit der sie Radowitzkys Schicksal verfolgt hatten.

Simón Radowitzky war im Mai 1909 wegen eines Bombenanschlags auf den Polizeichef von Buenos Aires zum Tode verurteilt worden, aber nach Bekanntwerden seines Alters – er war zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig – hatte das Gericht die Todesstrafe in lebenslange Kerkerhaft umgewandelt. Im berüchtigten Zuchthaus von Ushuaia, in Patagonien, hielt [13] Radowitzky an seinen Idealen fest; er ertrug gleichmütig die schlimmsten Qualen und war seinen Mitgefangenen, die ihn beinahe abgöttisch verehrten, ein scheuer Wohltäter. Als er nach zwanzig Jahren begnadigt und auf Lebenszeit aus Argentinien abgeschafft wurde, ging er in Montevideo an Land. Auch hier war er den Nachstellungen der Behörden ausgesetzt. Er stand unter Hausarrest, wurde in Schutzhaft genommen, dann auf eine Insel verbannt. Das Weltgeschehen der versäumten Jahrzehnte nahm er bald verwundert, bald entrüstet zur Kenntnis. Noch einmal entflammte seine Hoffnung auf eine Gemeinschaft von Gleichen, in Spanien, wo sich die Arbeiter gegen die putschenden Militärs zur Wehr setzten. Er kämpfte auf seiten der Republik, erlebte die blutigen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken, suchte nach der Niederlage Zuflucht in Frankreich, dann in Mexiko. Dort starb er, unter falschem Namen, den zufälligen Tod eines Anarchisten: an Herzversagen, im Bett. – Die einzige Lebensskizze, die Sara ausfindig machen konnte, schloß mit den Worten, Simón Radowitzky sei eine jener Gestalten, die uns zeigen, wie widersprüchlich das Leben der Menschen verläuft. »Er tötete aus Idealismus. Was für ein Gegensatz! Das Böse und das Gute, das Feige und das Heldenmütige. Die hinterhältige Tat, begangen aus reiner, edler...