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Der englische Tänzer - Ein Fall für Sebastian Fink

Friedrich Dönhoff

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600841 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[5] 1

Als sie durch die schwere Eisentür ins Freie traten, sahen sie den Bussard. Er kreiste auf gleicher Höhe und balancierte im eisigen Wind. Sebastian zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn. Wie bescheuert war er eigentlich? Kraxelte an einem Nachmittag im November bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf den Turm der Michaeliskirche. Spätestens heute Abend würden ihm die Ohren schmerzen.

Anna hielt ihren Hut mit der einen Hand, an der anderen hielt sie den eingemummelten kleinen Leo. Seit dem letzten Winter war der Junge gewachsen. Auch ihm zuliebe hatten sie sich aufgerafft und gesagt: Komm, wir gehen da jetzt mal rauf, auf den Michel, das Wahrzeichen von Hamburg, das ist schließlich nicht nur für Touristen gebaut.

Von der Plattform konnte man kilometerweit schauen. Dort waren Sankt Pauli und die Reeperbahn, drüben die Alster und das weiße Hotel Atlantic, rechts von ihnen ragte der spitze Turm des alten Rathauses in die Höhe. Unten, so nah, dass man glaubte hineinspucken zu können, floss das silbergraue Wasser der Elbe, auf dem die Schiffe wie Spielzeug aussahen.

Leo rief mit hoher Stimme Fragen in den Wind: »Wo ist unser Haus?« – »Ist das England?« – »Was für ein Ballon [6] liegt da?« In der großen gelben Kuppel, die sich am Ufer des Flusses blähte, wurde jeden Abend das Musical Der König der Löwen aufgeführt. Dahinter erstreckte sich der achthundert Jahre alte Hafen mit seinen tausend Kränen, langen Armen, die nach den Wolken griffen.

Annas roter Mantel flatterte. Sie hatte ihn vor Jahren ausgemustert, aber nie entsorgt, und nun feierte er ein Comeback. Sie hielt sich auf der anderen Seite der Plattform am Geländer fest und blickte in die Ferne. Etwa dort musste Lübeck sein, ihre Heimatstadt, aber das war ihr vielleicht gar nicht bewusst. Sie war in letzter Zeit so nachdenklich, hatte aber bislang nicht gesagt, was sie beschäftigte.

Ruhig und elegant schwebte der Bussard hoch über den Häusern, ein Meer mit Millionen Menschen, eine enorme Ansammlung von Individuen mit festen Spielregeln und mit Spannungen. Von Westen, der Nordsee, nahte eine Wolkendecke, wie ein riesiges graues Plumeau, das sich langsam über die Stadt legen würde. Sebastian presste seine Jacke an den Körper, als würde er sich selbst umarmen.

Am nächsten Morgen irrten hinter seinem Fenster Schneeflocken umher. Sebastian beobachtete sie vom Bett. Sie fielen leise und sanft, wie Schneeflocken fallen und immer fallen werden. Sein Wecker hatte noch nicht geklingelt, doch, als wäre eine Sirene losgegangen, war er plötzlich aus dem Schlaf hochgeschreckt. Und nun saß er da mit klopfendem Herzen und schaute hinaus auf die vergehende Zeit.

»Auch so früh?«, warf er Jens entgegen, der mit einer Zeitung in der Cafeteria saß. Das war nur fünfzig Minuten später im Polizeipräsidium.

[7] »Ich finde, es ist zu kalt da draußen«, murrte Jens, »zu dunkel, und der Schnee bleibt auch nicht liegen.«

Sebastian stellte seinen Kaffee, den der Automat ausgespuckt hatte, auf den Tisch und zog über den gefliesten Boden einen Plastikstuhl heran. Jens sah kurz auf.

Sebastian nahm sich die Morgenpost von der Fensterbank und blätterte darin. Parteienstreit im Hamburger Senat, Turbulenzen an der Börse, Premiere am Hans-Albers-Theater. »Das Londoner Erfolgsmusical Tainted Love kommt von der Themse an die Elbe«. Tainted Love – das war doch damals der Hit des Pop-Duos Soft Cell, Sebastian erinnerte sich gut daran, Synthie-Pop, typisch achtziger Jahre. Die Stadt war vollgepflastert mit Werbung, es war immer dasselbe, wenn ein neues Musical an den Start ging. Der Innensenator behauptete, nach New York und London sei Hamburg inzwischen der drittgrößte Musicalstandort der Welt, und die Hansestadt würde finanziell außerordentlich vom Musicaltourismus profitieren.

Sebastian trank vorsichtig von seinem heißen Kaffee und blätterte die Zeitung noch einmal von hinten nach vorne durch.

»Oh, die Herren machen so früh am Morgen schon Pause!«

Frau Börnemann aus der Verkehrsabteilung, etwas rundlich und stets in Uniform, kam sonst immer erst mittags herunter.

»Und Sie?«, sagte Sebastian. »Was machen Sie so früh hier unten?«

»Bei uns ist die Kaffeemaschine kaputt. Ich habe den Auftrag, sechs Becher – drei Cappuccino, einen Caffè Latte und [8] zwei… – wenn Sie so gucken, bringen Sie mich ganz durcheinander.«

»Zweimal koffeinfrei«, murmelte Jens.

»Woher wissen Sie das, Herr Santer?«

»Intuition.«

»Nicht schlecht.« Frau Börnemann nickte anerkennend.

Wenig später kam sie mit den Bechern auf einem Tablett vorbei, und Sebastian und Jens falteten die Zeitungen zusammen.

Als wäre er durch eine Lichtschranke gegangen, begann das Telefon auf dem Schreibtisch in dem Moment zu klingeln, als Sebastian sein Büro betrat. Er hängte die Jacke schnell an den Haken, drei große Schritte, und er hatte den Hörer in der Hand. Die Sekretärin. Sie kündigte ein Gespräch mit einem Beamten der Davidswache an, es sei dringend.

Davidswache, Reeperbahn, das war sicher keine Einladung zu einem lustigen Abend in Sankt Pauli. Eigentlich schade – dort gab es die meisten Musik-Clubs, Diskotheken und Kneipen, und Sebastian wäre gern mal wieder ins Nightlife zum Tanzen gegangen. Ab und zu brauchte er das: in eine andere Welt treten, wo Musik der Sauerstoff war.

»Herr Fink?«, kam es aus dem Hörer. Die Stimme klang merkwürdig instabil. »Kipke hier. Wir haben…, also, ich würde sagen, das ist eine ziemlich bizarre Geschichte…«

»Nämlich?«

Der Mann holte Luft. »Nebenan im Hans-Albers-Theater ist eine Leiche.«

Von dem Theater hatte Sebastian doch eben erst in der Morgenpost gelesen. »Und? Ich höre.«

[9] »Es heißt, die Leiche hängt im Zuschauersaal an einem Strick von der Kuppel herab.«

»Wie bitte?« Sebastian musste schlucken. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen er versuchte, sich das Bild vorzustellen, bevor der Beamte fortfuhr: »Eine Mitarbeiterin vom Theater kam eben auf die Wache, sie war ganz außer sich. Die Kollegen sind schon drüben, um es sich anzusehen. Herr Fink?«

Er fuhr alleine. Pia war noch nicht im Präsidium, und Jens würde gegebenenfalls bald nachkommen.

Über ihm kreiste das Blaulicht, und vor ihm ging der Verkehr auseinander, als würde der Weg freigepustet. Eine Leiche, die von der Kuppel hängt – so etwas hatte er noch nie gehört. Er hielt den Wagen direkt vor dem Eingang des prächtigen Gebäudes.

Ein Mann im Anorak kam mit zornigen Schritten auf ihn zu. Er hämmerte gegen die Scheibe. Sebastian öffnete.

»Blind?«

»Wie bitte?«

»Sehen Sie nicht, dass wir hier den roten Teppich ausrollen?«

»Nein«, antwortete Sebastian. Aber dann sah er den breiten Läufer auf sich zurollen.

»Parken Sie bitte woanders!«

»Beruhigen Sie sich!« Unglaublich, in welchem Ton der Mann wagte, mit der Polizei zu sprechen. Im nächsten Moment wurde Sebastian klar, dass er in seinem eigenen Auto saß, einem Fiat Uno, einer Schrottkiste, wenn auch einer sehr schnellen, und das Blaulicht hatte er eben wieder [10] eingeholt. In der Nähe wurde gerade ein Parkplatz frei, Sebastian ließ den Kerl im Anorak einfach stehen und zog rüber.

Das geräumige Foyer des Hans-Albers-Theaters war mit einem nachtblauen Teppich ausgelegt, auf dem goldene Sterne prangten. In aller Ruhe wurde er von drei Putzfrauen gesaugt, als sei hier gar nichts passiert. »Wo geht’s zum Saal?«, rief Sebastian. Eine der Frauen schaute auf. Sie verstand ihn nicht. Während sie den Knopf an ihrem Gerät drückte und das Brausen abnahm, war Sebastian schon weitergegangen. Ein Polizist kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand: »Wir haben telefoniert.« Inzwischen schien Herr Kipke sich beruhigt zu haben. »Kommen Sie mal mit«, sagte er. Hatte er etwa ein Lächeln auf den Lippen?

Am Ende des Foyers lag der Eingang zum hellerleuchteten großen Theatersaal. Als sie durch die offene Doppeltür traten, bemerkte Sebastian, dass sich vorne an der Bühne Männer unterhielten, während andere an der Kulisse werkelten. Im Saal ging Sebastians Blick sofort nach oben, wo ein barock anmutendes Gemälde die Kuppel zierte. »Eine schöne Malerei«, sagte er. »Aber wo ist die Leiche?«

Der Beamte zuckte die Schultern.

»Was heißt das?«

»Niemand hier hat eine Leiche gesehen.« In den Augen des Mannes meinte Sebastian den Anflug eines Lächelns zu erkennen.

»Entschuldigung«, sagte Sebastian streng, »warum haben Sie mich dann gerufen? Ist das ein Witz? Finden Sie das komisch?«

Der Beamte räusperte sich. »Ich wollte Ihnen gerade [11] Bescheid geben, aber Sie waren so schnell da. Die Physiotherapeutin des Theaters, die vorhin auf der Wache war, spinnt offenbar manchmal. Die Leute hier jedenfalls wundern sich gar nicht.«

Sebastian kam sich blöd vor. Raste hierher, und dann so was.

»Wo ist die Frau?«, fragte er.

»In Altona. Im Krankenhaus. Nervenzusammenbruch.«

»Wie heißt sie?«

»Silke Engelmann.«

»Ich wusste gar nicht, dass Theater Physiotherapeuten beschäftigen.«

»Vielleicht«, überlegte der Beamte, »weil beim Musical so viel getanzt wird?«

Sebastian ging den Mittelgang entlang, zwischen den Sitzreihen hindurch. Er betrachtete die Kuppel. Er schätzte die Höhe auf vielleicht fünfundzwanzig Meter. Unter dem Deckengemälde...