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Verschwiegene Kanäle - Commissario Brunettis zwölfter Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600742 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[11] 2

Es dauerte ziemlich lange, bis die Behörden auf den Tod des Kadetten Moro reagierten, wobei diese Verzögerung am wenigsten seinem Klassenkameraden Pietro Pellegrini anzurechnen war. Der kehrte, sobald die Wellen der Übelkeit verebbten, auf sein Zimmer zurück, griff zum telefonino, das ihm schon fast wie ein natürlicher Fortsatz seiner Gliedmaßen erschien, so oft benutzte er es, und rief seinen Vater an, der geschäftlich in Mailand weilte. Pietro erklärte ihm, was passiert war oder vielmehr was er gerade gesehen hatte. Der Vater versprach zunächst, er würde die Polizei verständigen, besann sich dann aber in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt eines Besseren und entschied, der Sohn solle selber anrufen, und zwar unverzüglich.

Nicht, daß Pellegrinis Vater befürchtet hätte, sein Sohn könne etwas mit dem Tod des anderen Jungen zu tun haben. Aber als Strafverteidiger war er mit den Gedankengängen der Behörden wohlvertraut und wußte zum einen, daß ein Zeuge, der eine Straftat erst mit Verzögerung anzeigte, unweigerlich selbst in Verdacht geriet, und zum anderen, daß man es sich bei der Polizei gern einfach machte. Also riet er seinem Sohn – ja man könnte sagen, er befahl es ihm –, umgehend die Behörden zu verständigen. Der Junge, den sein Vater und zwei Jahre San Martino zu striktem Gehorsam erzogen hatten, bezog das auf die Schulbehörde, und so ging er nach unten, um seinem Direktor zu melden, daß in dem Waschraum im dritten Stock ein Toter hing.

[12] Der Polizist in der Questura, der schließlich verständigt wurde, notierte den Namen des Anrufers und ließ sich den Sachverhalt schildern. Kaum war das Gespräch beendet, erkundigte er sich bei dem Kollegen, der mit ihm in der Telefonzentrale Dienst tat, ob sie die Meldung nicht an die Carabinieri weiterleiten sollten, da San Martino als Militäreinrichtung doch wohl eher in deren Zuständigkeit als in die der Questura falle. Nach einigem Hin und Her rief der zweite Polizist im Bereitschaftsraum an, um die Verfahrensfrage dorthin weiterzuleiten. Der Kollege, der drüben abhob, sagte, nein, die Akademie sei eine Privatschule ohne offizielle Anbindung an die Armee – er wußte das, weil der Sohn seines Zahnarztes auf die San Martino ging –, und folglich seien doch sie zuständig. Die zwei in der Telefonzentrale diskutierten noch eine Weile, bevor sie sich endlich der Meinung ihres Kollegen anschlossen. Da es inzwischen schon nach acht war, eine Zeit, zu der ihr Vorgesetzter für gewöhnlich bereits an seinem Schreibtisch saß, wählte einer der beiden die Nummer von Commissario Guido Brunetti.

Der bestätigte ohne Zögern ihre Zuständigkeit, fragte aber gleich darauf argwöhnisch: »Wann ist der Anruf eingegangen?«

»Sieben Uhr sechsundzwanzig, Signore«, antwortete Alvise wie aus der Pistole geschossen.

Ein Blick zur Uhr bestätigte Brunetti, daß seitdem über eine halbe Stunde verstrichen war, aber da Alvises Stern nicht zu den hellsten am Firmament der Questura zählte, sparte er sich jede Kritik und sagte nur: »Fordern Sie ein Boot an. Ich komme runter.«

Sowie er aufgelegt hatte, überflog Brunetti den [13] Dienstplan. Da Ispettore Lorenzo Vianello weder für diesen noch für den nächsten Tag eingeteilt war, rief er bei ihm zu Hause an und erklärte in groben Zügen, was vorgefallen sei. Bevor der Commissario ihn darum bitten konnte, sagte Vianello: »Wir treffen uns dort.«

Wenn es Alvise gelungen war, dem Bootsführer Brunettis Auftrag fehlerfrei zu übermitteln, dann wohl nicht zuletzt deshalb, weil der nur einen Schreibtisch weiter saß. Immerhin fand Brunetti, als er ein paar Minuten später aus der Questura trat, Alvise und den Bootsführer schon an Bord der im Leerlauf vor sich hin tuckernden Barkasse. Mit einer unmißverständlichen Handbewegung winkte er Alvise wieder zurück. »Gehen Sie nach oben, Sergente, und schicken Sie mir Pucetti herunter.«

»Aber soll ich Sie denn nicht begleiten, Signore?« fragte Alvise so enttäuscht wie eine Braut, die der Bräutigam vor der Kirche stehengelassen hat.

»Das geht nicht, leider. Wissen Sie, falls die Schule noch mal anruft, dann möchte ich, daß sie denselben Ansprechpartner haben. Das schafft Vertrauen, und auf die Weise werden wir um so mehr erfahren.«

Auch wenn diese Notlüge alles andere als plausibel war, gab Alvise sich offenbar damit zufrieden, und Brunetti überlegte nicht zum ersten Mal, ob es vielleicht gerade die unsinnigen Befehle waren, die einem Mann wie ihm am ehesten einleuchteten. Jedenfalls kehrte der Sergente folgsam in die Questura zurück. Ein paar Minuten später war Pucetti an Bord, und der Bootsführer manövrierte die Barkasse von der Riva fort und auf den Bacino di San Marco zu. Der Regen der letzten Nacht hatte die Luft reingewaschen und der [14] Stadt einen herrlich klaren Morgen beschert, auch wenn schon ein scharfer Hauch von Spätherbst in der Luft lag.

Brunetti hatte seit über zehn Jahren keine Veranlassung mehr gehabt, nach San Martino hinauszufahren, nicht seit der Abschlußprüfung eines Vetters zweiten Grades, der anschließend, wie die meisten Absolventen der Kadettenschule, gleich im Leutnantsrang von der Marine übernommen worden und fortan zügig aufgestiegen war – gleichermaßen zum Stolz seines Vaters wie zur Verwirrung der übrigen Verwandtschaft. Weder bei den Brunettis noch in der Familie seiner Mutter hatte es je eine Militärtradition gegeben. Wenn es zum Krieg kam, wurden die Männer natürlich trotzdem eingezogen, und falls, wie im Zweiten Weltkrieg, die Front quer durchs eigene Land verlief, blieb auch die Familie daheim nicht verschont.

Vor diesem Hintergrund war es nur verständlich, daß Brunetti von Kindheit an über die Militärs und ihre pompösen Auftritte mit jener geringschätzigen Verachtung hatte reden hören, die seine Eltern und deren Freunde sich ansonsten für Regierung und Kirche aufsparten. Und im Laufe seiner Ehe mit Paola Falier, einer Frau von linkslastiger, wenn auch sprunghafter politischer Gesinnung, hatten sich Brunettis Vorbehalte begreiflicherweise noch verstärkt. Für Paola bestand das größte Verdienst der italienischen Armee in ihrer langen Tradition vermeintlich feiger Rückzugsgefechte. Die größte Schmach hingegen lastete sie jenen politischen und militärischen Führern der jüngeren Geschichte an, die sich dieser Tradition widersetzt und den sinnlosen Tod Hunderttausender junger Männer verschuldet hatten, weil sie sich in trügerischer [15] Verblendung nur mehr von der eigenen Ruhmsucht und dem politischen Ehrgeiz ihrer Verbündeten leiten ließen.

Brunettis eigene Erfahrungen mit den Militärs, im Wehrdienst und danach, hatten ihm wenig Anlaß gegeben, Paolas Urteil in Frage zu stellen. Selbst die zynische These, das Militär (das italienische wie das jeder anderen Nation) unterscheide sich nicht groß von der Mafia, war nicht ganz von der Hand zu weisen: Hier wie dort herrschte eine von Männern dominierte, frauenfeindliche Organisation; unfähig zu moralischem Handeln oder auch nur schlichter Fairneß außerhalb der eigenen Reihen; machtgierig, arrogant gegenüber der Zivilbevölkerung; gewaltbereit und feige zugleich. Nein, der Unterschied war tatsächlich nicht groß, außer daß die einen ihre Uniformen mit Orden und Lametta dekorierten, während die anderen den unauffälligen Zwirn von Armani und Brioni bevorzugten.

Mit der Geschichte der Akademie war Brunetti leidlich vertraut. 1852 von Alessandro Loredan – einem frühen Gefolgsmann und späteren General Garibaldis – auf der Giudecca gegründet, residierte die Schule in einem weitläufigen Gebäudekomplex auf der Insel. Loredan, der kinderlos und ohne männliche Erben starb, hatte zusätzlich zu diesem Anwesen auch seinen Privatpalazzo und das gesamte Familienvermögen in einen Treuhandfonds überführt, unter der Bedingung, daß die Erträge ausschließlich zum Aufbau und Erhalt der Militärakademie verwendet würden, die er nach dem Schutzpatron seines Vaters benannt hatte.

Nun waren die Oligarchen von Venedig zwar nicht unbedingt Anhänger des Risorgimento, aber wenn es galt, der [16] Stadt ein so riesiges Vermögen wie das von Alessandro Loredan zu erhalten, durfte die Gesinnung ruhig einmal hintanstehen. Nur Stunden nach dem Tod des Generals war der genaue Wert seines Vermächtnisses beziffert, und binnen Tagen hatten die im Testament benannten Treuhänder einen pensionierten Offizier, der zufällig mit einem von ihnen verschwägert war, mit der Leitung der Akademie betraut. Die wurde bis zum heutigen Tag nach streng militärischen Regeln geführt, eine Eliteschule, auf der die Söhne hoher Offiziere und vermögender Patrizierfamilien jenen sprichwörtlich letzten Schliff erhielten, der in der Regel auch ihnen den Weg in den Offiziersstand eröffnete.

Bis hierher war Brunetti mit seinem Rückblick gekommen, als das Boot hinter der Kirche Sant’ Eufemia in einen Seitenkanal einschwenkte und den nächsten Anlegeplatz ansteuerte. Pucetti sprang mit dem Tau an Land und schlang es um den eisernen Haltering auf dem Pflaster. Dann streckte er Brunetti die Hand entgegen und half ihm von Bord.

»Zur Schule geht’s da lang, nicht wahr?« Brunetti wies auf die Leeseite der Insel und zur Lagune hin, die in der Ferne gerade noch erkennbar war.

»Keine Ahnung, Signore«, gestand Pucetti. »Ich muß zugeben, daß ich außer zum Redentore-Fest eigentlich nie auf die Giudecca komme. Daher weiß ich leider auch nicht, wo die Schule ist.«

Daß seine venezianischen Mitbürger durch die Bank zähe Nesthocker waren,...