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Der große Gatsby

F. Scott Fitzgerald

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601992 , 320 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[11] 1

Als ich noch jünger und verwundbarer war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir bis heute im Kopf herumgeht.

»Wann immer du jemanden kritisieren willst«, sagte er, »denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt es so gut hatten wie du.«

Mehr sagte er nicht, doch da wir uns auf eine diskrete Weise stets hervorragend verstanden haben, wusste ich, dass er wesentlich mehr damit meinte. Folglich neige ich dazu, mich mit allem Urteil zurückzuhalten, eine Angewohnheit, dank deren sich mir über die Jahre viele merkwürdige Gestalten anvertraut haben und ich manchem notorischen Langweiler ins Netz gegangen bin. Der Sonderling wittert diese Eigenschaft bei einem normalen Sterblichen rasch und macht sie sich gern zunutze, und so kam es, dass ich im College fälschlich für einen Intriganten gehalten wurde, weil ich in die geheimen Nöte seltsamer und wildfremder Männer eingeweiht war. Die meisten Geständnisse wurden mir aufgedrängt; oft habe ich mich schlafend gestellt, so getan, als sei ich beschäftigt, oder eine feindselige Leichtfertigkeit vorgetäuscht, sobald ich aus untrüglichen Zeichen schloss, dass ein intimes Bekenntnis am Horizont heraufzog. Denn die intimen Bekenntnisse junger Männer oder doch die [12] Worte, in die sie sie kleiden, stammen in aller Regel aus zweiter Hand und sind von offenkundigen Auslassungen entstellt. Sich im Urteil zurückzuhalten ist eine Sache grenzenloser Hoffnung. Ich fürchte noch heute manchmal, mir könnte etwas entgehen, wenn ich vergesse, was mein Vater hochmütig andeutete und was ich ebenso hochmütig wiederhole: Nicht jedem von uns wird gleich viel Gespür für die Grundregeln des Anstands in die Wiege gelegt.

Nachdem ich derart mit meiner Langmut geprahlt habe, muss ich gestehen, dass sie ihre Grenzen hat. Menschliches Verhalten kann auf festen Fels oder feuchtes Marschland gegründet sein, doch ab einem gewissen Punkt ist es mir einerlei, worauf es sich gründet. Als ich vorigen Herbst von der Ostküste zurückkehrte, wünschte ich mir nur, die Welt möge für alle Zeit in Uniform und einer Art moralischer Hab-Acht-Stellung verharren; mein Bedarf an wilden Ausschweifungen mit privilegierten Einblicken in das menschliche Herz war gedeckt. Nur Gatsby, der Mann, der diesem Buch seinen Namen leiht, blieb davon ausgenommen – Gatsby, der für alles stand, was ich aufrichtig verachte. Wenn Persönlichkeit ein Zusammenspiel geglückter Gesten ist, dann hatte er etwas Zauberhaftes an sich, eine erhöhte Empfindsamkeit für die Verheißungen des Lebens, so als wäre er mit einem raffinierten Gerät verbunden, das ein Erdbeben aus zehntausend Meilen Entfernung registriert. Seine Sensibilität hatte nichts mit jener beliebigen Eindrucksfähigkeit gemein, die sich so hochtrabend »schöpferische Veranlagung« nennt – sie verdankte sich vielmehr einer außergewöhnlichen Gabe der Hoffnung, einer romantischen Sinnesart, wie ich sie bei niemandem sonst gefunden habe [13] und wohl auch nie wieder finden werde. Nein – Gatsby war letztlich kein schlechter Kerl; doch was ihn verfolgte, welch faulen Dunst seine Träume hinterließen – das war es, was meinem Interesse an den unnützen Sorgen und kurzatmigen Freuden der Menschen vorerst ein Ende bereitete.

Meine Familie genießt in dieser Stadt im Mittelwesten seit drei Generationen Ansehen und Wohlstand. Die Carraways sind so etwas wie ein Klan; nach einer alten Überlieferung entstammen wir dem Geschlecht der Dukes of Bucchleuch, doch der eigentliche Begründer meiner Linie war der Bruder meines Großvaters, der einundfünfzig hierherkam, einen Ersatzmann in den Bürgerkrieg schickte und den Eisenwarengroßhandel aus der Taufe hob, den mein Vater noch heute betreibt.

Ich habe diesen Großonkel nie kennengelernt, aber es wird behauptet, ich sähe ihm ähnlich – unter besonderem Verweis auf das ziemlich grob gemalte Porträt, das in Vaters Büro hängt. Ich legte 1915, nur ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, in New Haven mein Examen ab und nahm kurz darauf an jener verspäteten germanischen Völkerwanderung teil, die als der Erste Weltkrieg in die Geschichte eingegangen ist. Der Gegenangriff hatte mich mit solcher Begeisterung erfüllt, dass ich nach meiner Rückkehr keine Ruhe fand. Der Mittelwesten, früher der warme Mittelpunkt der Welt, kam mir nun wie der äußerste, zerklüftete Rand des Universums vor, und so beschloss ich, an die Ostküste zu ziehen und das Börsengeschäft zu erlernen. So gut wie alle, die ich kannte, waren im Börsengeschäft tätig, deswegen nahm ich an, dass es leicht noch einen weiteren [14] Mann ernähren konnte. Meine Tanten und Onkel beratschlagten darüber, als gälte es, eine Privatschule für mich auszuwählen, und sagten am Ende mit sehr ernster und zweifelnder Miene: »Also gu-ut.« Vater versprach, ein Jahr lang für mich aufzukommen, und nach manchen Verzögerungen brach ich im Frühling zweiundzwanzig auf und ließ mich – auf Dauer, wie ich glaubte – an der Ostküste nieder.

Am praktischsten wäre es gewesen, eine Bleibe in der Stadt zu suchen, aber draußen war es warm, und ich hatte gerade ein Land weiter Wiesen und freundlicher Bäume hinter mir gelassen; als mir daher ein junger Mann im Büro vorschlug, mit ihm gemeinsam ein Haus außerhalb der Stadt zu mieten, schien mir das eine großartige Idee zu sein. Er fand auch das Haus, einen verwitterten, baufälligen Bungalow für achtzig im Monat, doch im letzten Moment schickte die Firma ihn nach Washington, und so zog ich allein aufs Land. Ich hatte einen Hund – jedenfalls ein paar Tage, bis er mir weglief –, einen alten Dodge und eine Finnin, die mir das Bett machte, das Frühstück bereitete und am Elektroherd finnische Lebensweisheiten vor sich hin murmelte.

Zuerst war es einsam dort, doch eines Morgens sprach mich auf der Straße ein Mann an, der vor noch kürzerer Zeit hergekommen war als ich.

»Wo geht es nach West Egg Village?«, fragte er ratlos.

Ich sagte es ihm. Und als ich meinen Weg fortsetzte, war ich nicht mehr einsam. Ich war einer, der sich auskannte, ein Pfadfinder, ein Pionier. Er hatte mich beiläufig mit dem Bürgerrecht der Gegend ausgezeichnet.

[15] Die Sonne schien, ich sah die Blätter an den Bäumen wie im Zeitraffer sprießen, und da regte sich in mir die vertraute Gewissheit, dass das Leben mit dem Sommer neu beginnt.

Es gab zum Beispiel so viel zu lesen und so viel Gesundheit aus der jungen, atemspendenden Luft zu schöpfen. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über Bank- und Kreditwesen und sichere Kapitalanlagen, und sie standen in meinem Regal, rot und golden glänzend wie frischgeprägte Münzen, und versprachen, die schillernden Geheimnisse preiszugeben, die nur Midas und Morgan und Maecenas kannten. Überdies hegte ich die hehre Absicht, noch viele andere Bücher zu lesen. Im College hatte ich gewisse literarische Neigungen gehabt – ein Jahr lang schrieb ich sehr ernste, treuherzige Kolumnen für die Yale News –, und nun wollte ich all diesen Dingen wieder einen Platz in meinem Leben einräumen und aufs Neue zu jenem beschränktesten aller Spezialisten werden: dem »umfassend gebildeten Mann«. Das ist nicht bloß ein Aphorismus – man sieht in der Tat viel mehr vom Leben, wenn man nur aus einem Fenster hinausschaut.

Der Zufall wollte es, dass ich an einem der sonderbarsten Orte ganz Nordamerikas gelandet war. Er befand sich auf jener schmalen, turbulenten Insel, die sich genau östlich von New York erstreckt und neben anderen Launen der Natur zwei Merkwürdigkeiten hervorgebracht hat: Zwanzig Meilen vor der Stadt ragen zwei gewaltige Eier, die identische Umrisse haben und nur durch eine gefällige Bucht voneinander getrennt sind, in das gezähmteste salzige Gewässer der westlichen Hemisphäre hinein: den großen, nassen Scheunenhof des Long-Island-Sunds. Sie sind nicht [16] vollkommen oval, sondern auf ihrer Landseite – wie das Ei des Kolumbus – flachgedrückt, doch ihre physische Ähnlichkeit muss für die Möwen, die über sie hinwegfliegen, eine Quelle fortwährender Verwunderung sein. Den Flügellosen dagegen dürfte ihre Unähnlichkeit in allen Details außer Größe und Gestalt weitaus interessanter erscheinen.

Ich wohnte in West Egg, dem – nun ja, dem weniger eleganten der Inselteile, wenngleich das ein äußerst oberflächliches Attribut ist, um den seltsamen und durchaus beklemmenden Unterschied zwischen beiden zu beschreiben. Mein Haus lag oben, nur fünfzig Meter vom Sund entfernt, an der Spitze des Eis zwischen zwei riesigen Villen eingepfercht, die für zwölf- beziehungsweise fünfzehntausend Dollar den Sommer vermietet wurden. Die zu meiner Rechten, eine geradezu kolossale Angelegenheit, war die exakte Kopie eines Hôtel de Ville in der Normandie mit einem Turm an der Seite – funkelnagelneu unter einem dünnen Efeubart –, einem Marmor-Swimmingpool und mehr als 16 Hektar Park- und Rasenfläche. Das war Gatsbys Anwesen. Oder besser gesagt, da ich Mr. Gatsby noch nicht kannte: das Anwesen, das von einem Herrn dieses Namens bewohnt wurde. Mein eigenes Haus war ein Schandfleck, aber es war ein kleiner Schandfleck, an dem sich niemand störte, und so genoss ich einen freien Blick auf das Wasser, einen eingeschränkten Blick auf den nachbarlichen Garten und das tröstliche Gefühl, in unmittelbarer Nähe von Millionären zu wohnen – und das alles für achtzig Dollar im Monat.

Jenseits der Bucht glitzerten die weißen Paläste des eleganten East Egg am Ufer, und eigentlich beginnt die Geschichte dieses Sommers an jenem Abend, als ich dort hin[17] überfuhr, um bei...