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Magic Hoffmann

Jakob Arjouni

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600049 , 288 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[10] 2

Weiße Turnschuhe, knöchelhoch, mit schwarzen Streifen. Ob man so was heute noch trug? Fred zog die Schnürsenkel fest und machte einen Knoten. Draußen gingen die anderen zur Werkstatt. Manche klopften gegen die Tür.

»Mach’s gut, Magic!«

»Worauf ihr euch verlassen könnt!«

Fred hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Übermüdet und euphorisch wie er war, kam ihm das Leben an diesem Morgen cowboyeinfach vor. Vier Jahre abgerissen, Tasche packen, Sonnenaufgang. Jetzt konnte ihm niemand mehr was! Und wenn die Schuhe außer Mode waren, würde er sie eben wieder in Mode bringen. Wäre schließlich nicht das erste Mal. Früher im Dance 2000 …

Er schloß den Reißverschluß des blauen Overalls und betrachtete sich im Spiegel. Das breite, kantige Kinn, auf dem kein richtiger Bart wachsen wollte, die heraustretenden, immer leicht verdutzt wirkenden Augen, die abstehenden Ohren und die halblangen, dunkelblonden Haare, die er sich seit seinem vierzehnten Lebensjahr selber schnitt: Er nahm sie auf der Kopfmitte in die Faust und stutzte, was überstand. Er war der alte geblieben – keine Frage. Und er war stolz drauf. Sie hatten ihn nicht kleingekriegt. Weder Sozialisierungsversuche von oben noch kriminelle Mitmach-Angebote von unten hatten ihm etwas anhaben können. Das Gefängnis war nur ein Wartezimmer gewesen, in dem er die [11] meiste Zeit mit geschlossenen Augen gesessen und sich die Ohren zugehalten hatte.

Die anfängliche Bewunderung seiner Mitgefangenen für den geschickt gemachten Banküberfall und Freds Weigerung vor Gericht, seine Kumpel zu verraten, war schnell der Gleichgültigkeit gewichen gegenüber einem, der sich aus allem raushielt und sich für nichts zu interessieren schien, außer für Fischfang und Blockhüttenbau. Einige hielten ihn für dumm, andere für ein Großmaul, manche für beides. Tatsächlich war Fred dumm ebenso wie klug. Sagenhafte Einfalt wechselte sich mit überraschender Schlauheit ab. So hatte er sehr schnell begriffen, welche Wärter er für sich gewinnen mußte, um in Ruhe gelassen zu werden, war aber lange Zeit nicht dahintergekommen, warum sein eigentlich sehr friedlicher Zellennachbar ihn in der Turnhalle immer wieder zum Ringkampf herausforderte, obwohl Fred viel kräftiger war. Einmal hatte Fred ihn zum Spaß gewinnen lassen und zum ersten Mal unter ihm liegend einen spitzen Druck am Bauchnabel verspürt. Was Fred nicht interessierte, kapierte er auch nicht, und dabei wurde er zum »Großmaul«. Denn Nichtkapieren tat er nicht still und heimlich, sondern laut und anmaßend, mit fliegenden Fahnen. So erklärte er den Jungs in der Gefängnisschreinerei, die alle besser waren als er: Sich mit Schwalbenschwanzverzinkungen und Furnier das Hirn zu verstopfen mache nur für Idioten Sinn. Nicht von ungefähr hatten sich seine Kontakte zu den Mitgefangenen bald auf Tischfußball und den Austausch von Sexheften beschränkt. Außerdem mochte Fred den Jammer oder die Wut der anderen nicht – im Knast durfte man keine traurige Figur abgeben, fand er. Frei, reich und [12] gesund, da konnte man schon mal heulen. Aber gefangen, von Wärtern tyrannisiert, ohne Frauen und dann auch noch unglücklich …?!

Fred fuhr sich durch die Haare: Mit den Heften war es nun endlich vorbei! Er war nicht schön, hatte aber früher mit mehr oder weniger bewußt angewandtem Trottel-Charme und unbekümmerter Art jede Menge Erfolg bei Mädchen gehabt. Warum sollte es inzwischen anders sein? … Gleich würde er entlassen, würde er Blusen, Röcke, Hintern und Beine sehen, würde das Leben wieder anfangen – so wie es früher gewesen war, nur mit zweihunderttausend Mark anstatt Pfennigen in der Tasche!

Fred schloß den Koffer, hockte sich auf die Bettkante und rauchte eine letzte Zigarette.

Wenig später holte ihn der Gefängniswärter und brachte ihn zum Tor. Durch die Gegensprechanlage informierte der Wärter den Wachmann: »Fred Hoffmann zur Entlassung.«

Die erste Lage Stahl schob sich beiseite, und sie gingen in die Schleuse. Der Wachmann beäugte sie prüfend durchs Panzerglas, dann drückte er einen Knopf, und die zweite Lage öffnete sich.

»Viel Glück, Hoffmann.«

»Thanks, aber jetzt brauch ich keins mehr.«

»Gerade jetzt.«

Fred schüttelte den Kopf. »I have friends.« Und money, dachte er, aber das konnte er natürlich nicht sagen.

Der Wärter seufzte. »Und gewöhn dir das alberne Englisch ab. Damit hält dich jeder für schwachsinnig, und du kriegst nie ’ne Arbeit.«

»Im Gegenteil«, sagte Fred, »wo ich hingehe, krieg ich [13] nur Arbeit, wenn ich englisch spreche – falls ich überhaupt welche will, Mister.«

Sie gaben sich die Hand, und Fred trat auf die sonnenüberflutete, leere Straße. Hinter ihm schloß sich das Tor. Es dauerte einen Moment, bis er sich ans Licht gewöhnte. Gegenüber stand ein Kiosk, dahinter waren helle Wohnhäuser mit offenen Fenstern und bunt leuchtenden Blumenkästen. Es roch nach Flieder, und die Bäume längs der Straße waren grün. Blätter raschelten im Wind, Vögel zwitscherten, sonst war es still. Wenn das kein Frühlingstag, wenn das kein Anfang war, dachte Fred, what a wonderful world!

Er stellte den Koffer ab und zog die Jacke aus. Außer dem Kioskverkäufer war weit und breit kein Mensch zu sehen. Auf die Postkarten hatte er geschrieben: zwischen zehn und elf. Auf seiner Uhr war es kurz vor elf.

Er nahm den Koffer und schlenderte zum Kiosk. Der Verkäufer, ein Mann um die Vierzig mit schütterem Haar, döste über einer Zeitung.

»Morning!«

Der Verkäufer fuhr auf. »… Oh! Morgen.«

Fred lachte. »Frühjahrsmüdigkeit, was?!«

»Mhmhm. Was wünschen Sie?«

»Eine Flasche Sekt, und zwar vom besten!«

Seit seiner Verhaftung hatte Fred, bis auf heimlich in Zellennischen gebrannte Blindmacher, keinen Alkohol mehr getrunken. Eine lange Zeit für einen, dem er in jeder halbwegs genießbaren Form schmeckte.

»Vom besten?«, der Verkäufer kratzte sich am Kinn, »Faber?«

»Ist das Ihr bester?«

[14] »Wenn man so will, ja, der einzige.«

Während der Verkäufer zur Kühltruhe schlurfte, sah Fred erneut links und rechts die Straße runter.

»Wieviel Uhr ist es?«

Der Verkäufer stellte die Flasche ab und sah auf seine Armbanduhr.

»Kurz nach halb zwölf.«

»Muß meine wohl stehengeblieben sein …«

»Möchten Sie ’n Becher?«

Anstatt zu antworten, klopfte Fred aufs Zifferblatt. Der Verkäufer gähnte. »Nicht mehr ’s neuste Modell, hm?«

Fred sah auf und starrte den Verkäufer einen Moment lang ausdruckslos an. Dann wandte er sich wieder der Uhr zu. Der Verkäufer hob die Augenbrauen. Wie empfindlich die jungen Leute heutzutage in Modefragen waren! Freundlich fragte er: »Also ’n Becher?«

»Für Sie auch einen.«

»Für mich?«

Nickend zog Fred die Uhr vom Arm und warf sie in den Kiosk-Mülleimer. »Gibt was zu feiern!«

Der Verkäufer wollte schon den Kopf schütteln, als sein Blick auf Freds Koffer fiel. Er hatte den Kiosk gegenüber vom Gefängnistor lange genug, um zu wissen, was kleine schäbige Koffer hier zu bedeuten hatten. Ein Jugendknast, keine wirklich schweren Jungs, keine, die es einfach wegsteckten, nach Jahren plötzlich wieder auf der anderen Seite der Mauer zu stehen. Viele wollten dann mit ihm einen trinken, und meistens tat er ihnen den Gefallen. Wieder schlurfte er nach hinten, holte zwei Plastikbecher.

»Aber nur zum Anstoßen.«

[15] Fred lachte. »Sure, und wie oft wir anstoßen, werden wir dann ja sehen.«

Den ersten Becher stürzte er in einem Zug runter und schloß kurz die Augen. »What a feeling!«

Danach tranken sie stumm. Fred beobachtete die Straße, und der Verkäufer musterte ihn. Dämliche Augen, dachte er, wie sie so herausglupschten. Andererseits hatte noch keiner der Jungs bei seiner ersten Flasche in Freiheit einen so bestimmten und zielstrebigen Blick gehabt. Keine Neugierde, keine Unsicherheit, nichts. Als hätte er für einen Boxkampf trainiert, zu dem jeden Moment der Gong ertönen konnte.

Tatsächlich war in Freds Kopf alles fast auf die Minute vorbereitet: Wiedersehen mit Annette und Nickel, dann ins Clash, später ins Dance 2000, er mit irgendeiner Frau, und am nächsten Morgen Kanada-Besprechung. Wenn das Gefängnis zu irgend etwas taugte, dann als eine Art höhere Schule fürs Pläneschmieden, und die hatte Fred mit Eins abgeschlossen.

Ein junges Paar bog in die Straße ein und kam schnell näher. Sie blond und rundlich, er dunkelhaarig und groß. Beide trugen etwas unterm Arm und schienen es eilig zu haben. Annette und Nickel, kein Zweifel. Fred wandte sich abrupt dem Verkäufer zu und griff nach der Flasche. »Trinken wir noch einen.« Sie sollten ihn nicht warten sehen.

»Danke, ich nicht mehr.«

Der Verkäufer leerte seinen Becher und warf ihn in den Müll. Als er danach aufsah, fuhr er leicht zusammen. Wieder starrte der junge Mann ihn an. Diesmal erinnerte ihn der Blick an die Verrückten vom Johanniterheim draußen am Wald.

[16] »Ich muß noch arbeiten.«

»Dann reden wir …!«

Fred beugte sich vor und begann unvermittelt von einem Landstreicher zu sprechen, den ganz Dieburg kannte, und der, obwohl schon seit Jahren nicht mehr gesehen, immer wieder in Anekdoten auftauchte, die sich die Dieburger wie Witze erzählten. Je näher das Paar kam, desto lauter sprach Fred und desto wilder wurde die Geschichte. Dann war das Paar fast am Kiosk angelangt, und Fred...