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Der Koch

Martin Suter

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600469 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

[5] MÄRZ 2008

1

»Maravan! Siphon!«

Maravan legte rasch das scharfe Messer neben die feinen Gemüsestreifen, ging zum Wärmeschrank, entnahm ihm den heißen Edelstahlsiphon und brachte ihn zu Anton Fink.

Der Siphon enthielt die Paste für die Bärlauchsabayon der marinierten Makrelenfilets.

Noch bevor sie den Tisch erreicht hatte, würde sie in sich zusammengefallen sein, darauf könnte Maravan wetten. Er hatte nämlich beobachtet, wie Fink, der Spezialist für molekulare Küche, Xanthan und Johannisbrotkernmehl verwendet hatte. Anstatt Xanthan und Guarkernmehl, wie es sich für heiße Schäume empfahl.

Er stellte den Siphon auf die Arbeitsfläche vor dem ungeduldig wartenden Koch.

»Maravan! Julienne!« Diesmal war es die Stimme von Bertrand, dem Beilagenkoch, in dessen Auftrag er eigentlich dabei war, die Julienne zu schneiden. Maravan eilte zu seinem Küchenbrett zurück. In ein paar Sekunden hatte er das restliche Gemüse geschnitten – Maravan war ein Messervirtuose – und brachte Bertrand die Gemüsestreifen.

»Scheiße!«, schrie hinter ihm Anton Fink, der Mann fürs Molekulare.

[6] Der Huwyler – kein Mensch sagte »Chez Huwyler«, wie es auf der Fassade stand – war in Anbetracht der Wirtschaftslage und des Wetters gut besetzt. Nur dem genauen Beobachter wäre aufgefallen, dass Tisch vier und neun fehlten und auf zwei anderen die Réservé-Schilder noch immer auf ihre Gäste warteten.

Das Lokal war, wie die meisten Spitzenrestaurants aus der Nouvelle-Cuisine-Zeit, etwas überdekoriert. Die Tapeten gemustert, die Vorhänge aus schwerem Brokatimitat, an den Wänden goldgerahmte Öldrucke berühmter Stillleben. Die Platzteller waren zu groß und zu bunt, das Besteck zu unhandlich und die Gläser zu originell.

Fritz Huwyler war sich bewusst, dass der Trend an seinem Restaurant vorbeigezogen war. Er besaß genaue Pläne für dessen Neupositionierung, wie seine Einrichtungsberaterin es nannte. Aber dies war keine Zeit für Investitionen, er hatte sich entschieden, in kleinen Schritten Neuerungen vorzunehmen. Eine davon war die Farbe von Kochjacke, Hose und Dreieckstuch: alles in trendigem Schwarz. Die ganze Brigade war so eingekleidet, bis und mit Commis de Cuisine. Nur die Küchenhilfen und Officeangestellten trugen nach wie vor Weiß.

Auch was die Küche anging, hatte er sachte mit einer Neuorientierung begonnen: Die klassischen und halbklassischen Gerichte wurden da und dort durch molekulare Highlights akzentuiert. Zu diesem Zweck hatte er die vakant gewordene Stelle des Gardemanger mit einem Koch mit molekularer Erfahrung besetzt.

Huwyler selbst besaß in dieser Hinsicht keine persönlichen Ambitionen mehr. Er legte in der Küche nur noch selten [7] Hand an und konzentrierte sich auf den administrativen und gastgeberischen Teil seiner Aufgabe. Kam dazu, dass er Mitte fünfzig war und ein vielfach preisgekrönter Koch, vor dreißig Jahren sogar ein Pionier der Nouvelle Cuisine. Er fand, er habe seinen Teil zur kulinarischen Entwicklung des Landes beigetragen. Er war zu alt, um noch einmal etwas Neues zu lernen.

Seit der unschönen Trennung von seiner Frau, der er einen großen Teil des Erfolges von Chez Huwyler und die ganze verunglückte Inneneinrichtung zu verdanken hatte, erfüllte er gegenüber der Gästeschaft alle Repräsentationsaufgaben. Vor der Trennung waren ihm die allabendlichen Rundgänge von Tisch zu Tisch eine lästige Pflicht gewesen, aber inzwischen war er auf den Geschmack gekommen. Es geschah immer öfter, dass er sich an einem der Tische verplauderte. Dieses spät entdeckte Kommunikationstalent hatte auch dazu geführt, dass er sich im Berufsverband engagierte und dafür viel Zeit opferte. Fritz Huwyler war Vorstandsmitglied und zur Zeit turnusgemäß amtierender Präsident von swisschefs.

Im Moment stand er neben Tisch eins, einem Sechsertisch, der heute nur für zwei gedeckt war. Dort saß Eric Dalmann mit einem Geschäftsfreund aus Holland. Dalmann hatte zum Aperitif einen 2005er Chardonnay von Thomas Studach aus Malans à hundertzwanzig Franken bestellt anstatt, wie sonst immer, eine Flasche Krug Grande Cuvée brut für vierhundertzwanzig.

Das war aber auch sein einziges Zugeständnis an die Wirtschaftskrise. Zum Essen hatte er wie immer das große Surprise bestellt.

[8] »Und Sie? Spüren Sie etwas von der Krise?«, erkundigte sich Dalmann.

»Null«, log Huwyler.

»Qualität ist krisenfest«, antwortete Dalmann und hob die Hände, um Platz zu machen für den Teller mit der schweren Cloche, den die Kellnerin brachte.

Auch etwas, das er nächstens abschaffen würde, das Theater mit den Cloches, dachte Huwyler, bevor die junge Frau mit jeder Hand einen Messingknopf ergriff und die silbernen Glocken lüftete.

»Mariniertes Makrelenfilet auf seinem Fenchelherzbett mit Bärlauchsabayon«, verkündete sie.

Keiner der beiden Herren blickte auf seinen Teller, beide hatten nur Augen für die Frau, die sie gebracht hatte.

Nur Huwyler starrte auf die Bärlauchsabayon, die als grüner Schleim den ganzen Tellerboden bedeckte.

Andrea hatte sich an die Wirkung gewöhnt, die sie auf Männer ausübte. Meistens war sie ihr lästig, nur ab und zu fand sie sie praktisch und bediente sich ihrer. Vor allem, wenn es darum ging, eine Stelle zu finden. Was oft vorkam, denn ihr Aussehen machte es ihr nicht nur leicht, eine Stelle zu finden. Es machte es ihr auch schwer, sie zu behalten.

Sie war noch keine zehn Tage im Huwyler, und schon gab es diese kleinen Rivalitäten in der Küche und im Service, die sie so gut kannte und die ihr so zum Hals heraushingen. Früher hatte sie versucht, darauf mit fröhlicher Kumpelhaftigkeit zu reagieren. Aber das hatte jedes Mal zu Missverständnissen geführt. Inzwischen gab sie sich [9] unterschiedslos distanziert. Das trug ihr den Ruf der Hochnäsigkeit ein. Womit sie aber gut leben konnte.

Und auch damit, dass diese beiden Säcke anstatt den Teller sie anstarrten. Vielleicht entging ihnen so, dass die Makrelenfilets in ihrer Bärlauchtunke aufweichten.

»Als seine Frau noch da war, war das Essen besser«, bemerkte Dalmann, als er wieder mit seinem Gast allein war.

»Hatte sie sich auch um die Küche gekümmert?«

»Nein, aber er mehr.«

Van Genderen lachte und ließ sich den Fisch schmecken. Er war die Nummer zwei eines internationalen Unternehmens mit Sitz in Holland, eines der wichtigsten Zulieferer der Solarindustrie. Mit Dalmann traf er sich, weil der ihm gewisse Kontakte vermitteln konnte. Eine von Dalmanns Spezialitäten – Kontakte vermitteln.

Dalmann war vor ein paar Wochen vierundsechzig geworden und trug die Spuren eines Geschäftslebens, in welchem das Kulinarische immer ein entscheidendes Überzeugungsmittel gewesen war: ein wenig Übergewicht, dem er mit einer Weste etwas Form zu geben versuchte, Tränensäcke unter den wässrigen blassblauen Augen, schlaffe, über den Backenknochen immer etwas gerötete, grobporige Gesichtshaut, schmale Lippen und eine mit den Jahren immer sonorer gewordene Stimme. Von seinem gelbblonden Haar war nur ein Halbkranz geblieben, der im Nacken über den Hemdkragen reichte und seitlich in zwei dichte, halblange Koteletten überging, vom gleichen graumelierten Gelb wie seine Brauen.

Dalmann war schon immer das gewesen, was man heute einen Networker nennt. Er pflegte systematisch [10] Beziehungen, vermittelte Geschäfte, gab Tipps und bekam welche, brachte Leute zusammen, sammelte Informationen und gab sie selektiv weiter, wusste, wann schweigen und wann reden. Und davon lebte er, und zwar ziemlich gut.

Im Moment schwieg Dalmann. Und während Van Genderen in seinem gurgelnden Holländerdeutsch auf ihn einsprach, beobachtete er unauffällig, wer an diesem Abend sonst noch alles im Huwyler war.

Die Medien waren vertreten durch zwei Mitglieder der Unternehmensleitung eines der großen Verlagshäuser (mit Damen), das in letzter Zeit durch rigorose Sparmaßnahmen aufgefallen war. Die Politik durch einen etwas in Vergessenheit geratenen Parteipolitiker mit seiner Gattin und zwei jüngeren Ehepaaren, Parteifreunden wohl, die im Auftrag der Parteileitung einen Jahrestag des Seniors feiern mussten. Die Medizin glänzte durch die Anwesenheit eines Klinikdirektors mit einem Chefarzt im ernsten Gespräch. Am Nebentisch speiste ein hoher Funktionär eines kriselnden, zur Zeit sponsorlosen Fußballclubs mit dem Finanzchef eines Versicherungskonzerns, beide in Begleitung ihrer Gemahlinnen. Sonst saßen da: ein Autoimporteur, ein Inhaber einer Werbeagentur und ein nicht ganz freiwillig abgetretener Bankpräsident, alle mit ihren großen, dünnen, blonden zweiten Frauen.

Der Raum war erfüllt vom behaglichen Gemurmel halblauter Stimmen, dem behutsamen Klappern und Klirren der Bestecke und den unaufdringlichen Düften sorgfältig komponierter Speisen. Das Licht war warm und schmeichelhaft, und die Böen des Regens, der gegen Abend begonnen hatte, [11] den frischen späten Schnee in grauen Matsch zu verwandeln, waren nur für die Gäste mit Fensterplatz als fernes Knistern durch die Vorhänge zu vernehmen. Es war, als hätte sich der Huwyler für diesen Abend gegen die Welt da draußen verpuppt.

Die Welt da draußen bot auch keinen erfreulichen Anblick. Es war endlich an den Tag gekommen, dass die Finanzmärkte jahrelang mit Katzengold gehandelt hatten. Unsinkbare Banken sandten mit schwerer Schlagseite Notrufe aus. Jeden Tag gerieten mehr Wirtschaftssektoren in den Strudel der Finanzkrise. Automarken...