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Die dunkle Seite des Mondes

Martin Suter

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600445 , 320 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[23] 2

Lucille fror. Sie trug gestrickte Pulswärmer und hatte wollene Ballettstulpen über ihre Strümpfe gezogen. Wie im Winter. Dabei war es Ende März. Am letzten Mittwoch hatte es noch ausgesehen, als komme der Frühling. Sie hatte sich schon zwei Zimttees geholt und eigentlich Lust auf einen dritten. Damit wäre sie dann – Standgebühr und Transportspesen inbegriffen – zwölf Franken im Minus. Es bestand wenig Hoffnung, daß sich diese Bilanz noch entscheidend verbessern würde. An Tagen wie diesem kauften die Leute weder indische Seidentücher noch Räucherstäbchen.

Lucille besaß den Stand schon seit drei Jahren. Sie hatte ihn von ihrem damaligen Freund übernommen. Mit ihm reiste sie zweimal im Jahr nach Indien und Indonesien und kaufte dort für ein halbes Jahr ein. Sie war dreiundzwanzig, als er beschloß, dort zu bleiben. Sie flog alleine zurück. Am Anfang kaufte er noch für sie ein. Aber inzwischen hatte Lucille ihre eigenen Quellen.

Der Stand ermöglichte ihr, zu überleben und ab und zu nach Asien zu reisen, wo sie nach ihrer Überzeugung in einem früheren Leben gelebt haben mußte. Sie teilte die Wohnung mit einer Freundin, die in einem Jeansladen arbeitete. Im Moment hatte sie keinen festen Freund.

[24] Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Lucille beeilte sich, zum Teestand zu kommen, bevor der Regen stärker wurde. Als sie mit ihrem Zimttee zurückkam, stand ein Mann vor ihrem Stand. Der vom letzten Mittwoch.

»Ich hätte einen Halter kaufen sollen«, erklärte er. »Welchen empfehlen Sie?«

»Bei diesem Wetter den teuersten.« Der Mann sah aus, als hätte er Humor.

»Welcher ist das?«

Sie zeigte ihm einen in der Form eines kleinen Holzskis mit eingelegten Messingsternen.

»Und der zweitteuerste?« Der Mann sah nicht aus, als ob es ihm auf fünfundzwanzig Franken mehr oder weniger ankam. Aber sie zeigte auf ein rundes verziertes Messingmodell.

»Wäre Ihnen auch gedient, wenn ich zwei von den Zweitteuersten nehme? Sie gefallen mir besser.«

»Sehr gedient.« Lucille lächelte. Er war nicht ihre Welt, aber er gefiel ihr. Wenn sie sich ein paar Zentimeter Haare dazu- und ein paar Jahre wegdachte. »Suchen Sie sich zwei aus.«

»Könnten nicht Sie das für mich tun? Ich weiß nicht, worauf man achten muß.«

Lucille suchte zwei Stäbchenhalter aus und verpackte sie in weinrotes Seidenpapier. »Stäbchen haben Sie noch genug?«

»Ein Päckchen könnte nicht schaden. Ich hatte Sandlewood.«

Sie legte die Stäbchen neben die Päckchen. »Kennen Sie Superior Tibet Incense

[25] Urs schüttelte den Kopf.

»Das habe ich am liebsten.«

»Dann möchte ich es versuchen.«

Lucille suchte eine Packung heraus. »Anstatt oder zusätzlich?«

Urs mußte lachen. »Zusätzlich.«

»Ein Seidentuch brauchen Sie nicht?«

»Ich trage Krawatten.«

»Für Ihre Frau, dachte ich.«

»Ich habe keine Frau.«

Auch Evelyne Vogt hatte ihren Jour fixe. Sie traf sich mit ihrer Freundin Ruth Zopp zum Lunch. Die Restaurants wechselten, der Tag blieb immer der gleiche: jeder zweite Freitag.

Diesmal hatten sie sich für eine neueröffnete Sushi-Bar entschieden. Ruth Zopp war über alles auf dem laufenden, was in der Stadt kulinarisch, künstlerisch und gesellschaftlich los war. Sie war eine Tochter aus reichem Haus und mit einem Mann aus ihren Kreisen verheiratet. Sie arbeitete nicht, aber ihr Filofax war vollgekritzelt mit Terminen und platzte aus den Nähten vor Visitenkärtchen und Freßzetteln. Sie liebte es, Leute zusammenzubringen, ihre Beziehungen spielen zu lassen und die Fäden zu ziehen. Evelyne hatte ihr viele Kunden zu verdanken.

»Laß uns an ein Tischchen sitzen. Sushi-barmen sind immer so geschwätzig«, raunte sie Evelyne zu, als sie zu ihr an die Bar trat. Sie hatte zwanzig Minuten Verspätung, wenig für ihre Verhältnisse.

Ruth Zopp war eine attraktive Frau. Ihre Kleidung und [26] ihr Schmuck waren immer spektakulär und ihre Mimik immer in Bewegung. Evelyne kannte sie seit vielen Jahren. Aber noch immer hätte sie nicht sagen können, ob Ruth eigentlich auch eine schöne Frau war.

Sie setzten sich also an ein Tischchen und bestellten gemischtes Sushi – Inari, Chirashi, Nigiri und Norimaki. Ruth beherrschte ihre Stäbchen mit atemberaubender Beiläufigkeit. Sie fischte sich die Häppchen, tunkte sie in die Soja-Wasabi-Sauce und redete dazu, ohne ihre Freundin aus den Augen zu lassen.

Es dauerte eine Weile, bis Evelyne zu Wort kam. »Weißt du, was das Neuste ist? Urs brennt Räucherstäbchen.«

»Urs und Räucherstäbchen?«

»Am Abend riecht das ganze Haus wie ein Aschram. Und er: wie weggetreten.«

»Vielleicht meditiert er.«

»Ich habe ihn gefragt. Er behauptet, er rieche es einfach gerne.«

»Kommt auf die Sorte an.«

»Sandelholz. Und etwas Tibetanisches.«

»Tibetanisch? Dann meditiert er doch. Wäre nicht der einzige. Geiser hat auch angefangen. Und Grafs fliegen jeden Monat nach New York zu ihrem Rinpoche.«

»Aber weshalb meditiert er ohne mich?«

»Vielleicht ist er sich noch zu wenig sicher. Vielleicht ist es noch zu persönlich. Urs ist ja nicht gerade der meditative Typ.«

Evelyne legte ihr letztes Norimaki auf den Teller zurück. »Meditieren tut man nur, wenn man Probleme hat.«

»Vielleicht hat er.«

[27] »Wenn ich einen Menschen kenne, der keine Probleme zu haben braucht, dann Urs.«

»Vielleicht Midlife-crisis.«

»Seine Midlife-crisis war ich.«

»Bedeutende Männer haben mehr als eine Midlife-crisis.«

»Du glaubst, es steckt eine Frau dahinter.«

»Wenn Männer sich verändern, ist das nicht der abwegigste Gedanke.«

Einer der ganz großen Klienten von Urs Blank war Anton Huwyler. Er war Präsident der CONFED, der größten Versicherungsgruppe des Landes, und saß in den Verwaltungsräten der meisten bedeutenden Unternehmen. Ihm hatte Urs es letztlich zu verdanken, daß er von Geiger, von Berg & Minder als Partner aufgenommen worden war. Huwyler hatte einen Narren an ihm gefressen und in immer mehr Fällen auf ihm als Gesprächspartner bestanden. Nach und nach war Urs’ Portefeuille so gewichtig geworden, daß ihm die drei Anwälte der Kanzlei die Partnerschaft angeboten hatten. Urs vermutete allerdings, daß die Anregung dazu von Huwyler gekommen war.

Sie saßen in Anton Huwylers »Sakristei«, wie dessen persönliches Arbeitszimmer intern genannt wurde. Ein geräumiges Büro, das eingerichtet war wie das Arbeitszimmer eines vom Erfolg überraschten Bauunternehmers in den siebziger Jahren. Viel gemasertes Holz mit Messingbeschlägen, eine Polstergruppe aus grünem Samt mit Kordelborten, Zinnkrüge mit Inschriften, ein Steinbockgeweih mit Messingschild: »Unserem verehrten [28] Bataillonskommandanten in dankbarer Erinnerung. Offiziere und Unteroffiziere Geb S Bat 11. 24. Juni 1987.«

Huwyler empfing dort nur seine engsten Mitarbeiter. Normalerweise hielt er Sitzungen in seinem repräsentativen Sitzungszimmer ab, das vom hauseigenen Architektenteam nach den neuen Unternehmensrichtlinien für Spitzenkader gestylt war und in welchem er sich wie ein Fremder fühlte.

Huwyler war kein Mann, der lange um den heißen Brei herumredet. »Was ich Ihnen jetzt sage, wissen nicht einmal Ihre Partner. Wir gehen mit BRITISH LIFE, SECURITÉ DU NORD und HANSA ALLGEMEINE zusammen. Das gibt den größten Versicherungskonzern der Welt. Mit Abstand.«

Er gab Urs Blank etwas Zeit, sich gebührend überrascht zu zeigen. Dann fügte er hinzu: »Und ich möchte, daß Sie das für uns machen.«

Blank hatte soeben das aufsehenerregendste Mandat erhalten, das bisher auf diesem Gebiet vergeben worden war. Aber alles, was er hervorbrachte, war: »Wenn Sie mir das zutrauen.«

Huwyler lachte. »Sie sich etwa nicht?«

Blank stimmte in sein Lachen ein. Aber als er eine Viertelstunde später die »Sakristei« verließ, haßte er sich dafür, daß er nicht nein gesagt hatte.

Die CONFED-Fusion wäre normalerweise das Haupttraktandum der Partnersitzung gewesen. Aber Urs Blank erwähnte sie mit keinem Wort. Er war sich seiner Sache nicht sicher. Und um seinen Partnern die Ungeheuerlichkeit begreiflich zu machen, daß er das Mandat ablehnen wollte, mußte er ganz sicher sein.

[29] Dafür kam die CHARADE-ELEGANTSA-Fusion zur Sprache. Dr. Minder wandte sich an Blank: »Die ELEGANTSA-Sache ist nicht mehr lange unter dem Deckel zu halten. Alle wissen davon und wundern sich, weshalb ihr damit nicht herauskommt.«

»Fluri«, erklärte Blank. »Ziert sich.«

»Kann er sich das leisten?« fragte Dr. von Berg. Die Frage war an die ganze Runde gerichtet.

Dr. Geiger räusperte sich. »Nach meinen Informationen nicht.«

Blank wunderte sich immer wieder über die Quellen seiner Partner. »Was für Informationen?«

»Er steht das nächste Jahr nicht durch. Zu viele Leichen im Keller.«

»Was für Leichen?«

»Der ›Rußlandfeldzug‹.«

»Das ist auf dem Tisch.« Der ›Rußlandfeldzug‹ war Fluris Versuch gewesen, auf dem russischen Markt Fuß zu fassen. Die Rubelkrise war ihm dazwischengekommen, und er mußte sich damals mit einer blutigen Nase zurückziehen.

»Wieviel?«

»Er rechnet mit zwei, schlimmstenfalls zweieinhalb...