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In Sachen Signora Brunetti - Der achte Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600674 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Die Frau ging ruhigen Schrittes auf den leeren campo. Zu ihrer Linken gähnten die vergitterten Fenster einer Bank, leer in jenem wohlbehüteten Schlaf, der sich in den frühen Morgenstunden einstellt. Sie ging bis zur Mitte des Platzes und blieb dort neben den durchhängenden Ketten um das Denkmal für Daniele Manin stehen, der sich für die Freiheit der Stadt geopfert hatte. Wie passend, dachte sie.

Von links hörte sie ein Geräusch und drehte sich danach um, aber es war nur ein Wachmann der Guardia di San Marco mit seinem hechelnden Schäferhund, der viel zu jung und gutmütig aussah, um auf Diebe gefährlich zu wirken. Falls der Wachmann es seltsam fand, morgens um Viertel nach drei eine Frau in mittleren Jahren reglos auf dem Campo Manin stehen zu sehen, ließ er sich davon nichts anmerken; er steckte weiter seine orangefarbenen Zettel zwischen die Türrahmen und Schlösser der Geschäfte, Beweise dafür, daß er seine Runde gemacht und den jeweiligen Besitz unangetastet vorgefunden hatte.

Als der Wachmann und sein Hund fort waren, ging die Frau von der Absperrkette weg und stellte sich vor ein großes Schaufenster auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Im schwachen Licht der Innenbeleuchtung betrachtete sie die Poster, las die Preise der verschiedenen Sonderangebote und sah, daß Mastercard, Visa und American Express akzeptiert wurden. Über ihrer linken Schulter trug sie eine blaue Stofftasche. Mit einer Körperdrehung schwang [8] sie die schwere Tasche nach vorn, stellte sie ab und blickte darauf hinunter, bevor sie mit der rechten Hand hineingriff.

Noch ehe sie etwas herausnehmen konnte, wurde sie durch Schritte von hinten so erschreckt, daß sie die Hand wieder aus der Tasche riß und sich aufrichtete. Aber es waren nur vier Männer und eine Frau, die um drei Uhr vierzehn am Rialto aus einem Boot der Linie 1 gestiegen waren und nun auf dem Weg in einen anderen Stadtteil den campo überquerten. Keiner von ihnen beachtete die Frau, und ihre Schritte verhallten, als sie über die Brücke zur Calle della Mandola gingen.

Wieder bückte die Frau sich, griff in ihre Tasche, und diesmal kam ihre Hand mit einem großen Stein heraus, der jahrelang auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, Andenken an einen Strandurlaub in Maine vor gut zehn Jahren. Er hatte die Größe einer Grapefruit und paßte genau in ihre behandschuhte Hand. Sie betrachtete den Stein und warf ihn sogar ein paarmal kurz hoch wie einen Tennisball beim Aufschlag. Dann blickte sie von dem Stein zum Schaufenster und wieder auf den Stein.

Sie trat etwa zwei Meter weit zurück und drehte sich zur Seite, noch immer mit Blick auf die Scheibe. Sie führte die rechte Hand in Kopfhöhe nach hinten und hob den linken Arm als Gegengewicht, wie ihr Sohn es sie in einem Sommer gelehrt hatte, als er ihr beibringen wollte, wie ein Junge zu werfen und nicht wie ein Mädchen. Einen Augenblick ging ihr der Gedanke durch den Kopf, daß ihre nächste Handlung ein immerwährender Einschnitt in ihrem Leben sein könnte, aber sie tat dies sogleich als pathetische Wichtigtuerei ab.

[9] Mit einer fließenden Bewegung brachte sie die Hand mit aller Kraft nach vorn. Erst als der Arm ganz ausgestreckt war, ließ sie den Stein los. Der Schwung der eigenen Bewegung riß sie dabei nach vorn, so daß sie unwillkürlich den Kopf senkte und die Glassplitter, die von der berstenden Scheibe spritzten, in ihren Haaren landeten und sie nicht verletzten.

Der Stein mußte eine Spannungsverwerfung im Glas getroffen haben, denn statt ein kleines Loch von seiner eigenen Größe zu schlagen, öffnete er ein etwa zwei Meter hohes und ebenso breites Dreieck. Sie wartete, bis das Klirren der fallenden Scherben verstummte, doch kaum hatte es aufgehört, begann im hinteren Teil des Büros der schrille Doppelton einer Alarmanlage in den stillen Morgen hineinzuplärren. Die Frau stand aufrecht da und zupfte abwesend die Glassplitter vorn von ihrem Mantel, dann schüttelte sie, als wäre sie soeben aus einer Welle aufgetaucht, energisch den Kopf, um die Splitter wegzuschleudern, die sie in ihrem Haar fühlte. Sie trat zurück, hob ihre Tasche auf und warf sie sich über die Schulter, doch als sie plötzlich merkte, wie weich ihre Knie geworden waren, ging sie zu einem der niedrigen Pfosten, an denen die Ketten hingen, und setzte sich darauf.

Sie hatte sich vorher keine Gedanken darüber gemacht, aber nun überraschte es sie doch, wie groß das Loch war, so groß, daß ein Mensch leicht hindurchgepaßt hätte. Ein Spinnennetz feiner Risse breitete sich bis in alle vier Ecken aus; um das Loch herum war das Glas milchig und undurchsichtig, aber die scharfen, nach innen weisenden Splitter waren darum nicht weniger gefährlich.

[10] Hinter ihr, links neben der Bank, gingen in der obersten Wohnung Lichter an, dann auch in der Wohnung über der immer noch jaulenden Alarmanlage. Minuten vergingen, doch das interessierte sie erstaunlich wenig: Die Dinge würden von jetzt an ihren Lauf nehmen, egal, wie lange die Polizei für ihren Weg hierher brauchte. Nur der Lärm regte sie auf. Dieser schrille Doppelton störte den Frieden der Nacht. Aber schließlich war das der ganze Sinn der Sache, dachte sie dann: Ruhestörung.

Fensterläden wurden aufgestoßen, drei Köpfe erschienen und verschwanden ebenso rasch wieder, weitere Lichter gingen an. Es war nicht an Schlaf zu denken, solange die Alarmanlage in die Welt hinausbrüllte, daß in der Stadt ein Frevel geschah. Nach etwa zehn Minuten kamen zwei Polizisten auf den campo gerannt, einer mit der Pistole in der Hand. Er lief zu dem eingeschlagenen Schaufenster und rief: »Polizei. Kommen Sie heraus!«

Nichts rührte sich. Die Sirene jaulte weiter.

Er rief noch einmal, doch als sich noch immer nichts tat, drehte er sich zu seinem Kollegen um, der den Kopf schüttelte und mit den Achseln zuckte. Der erste steckte seine Pistole wieder ein und ging einen Schritt auf die zerbrochene Scheibe zu. Über ihm wurde ein Fenster geöffnet, und jemand rief heraus: »Könnt ihr dieses verdammte Ding nicht abschalten?« Eine weitere wütende Stimme brüllte herunter: »Ich will endlich schlafen!«

Der zweite Polizist stellte sich neben seinen Kollegen, und sie schauten zusammen nach drinnen, dann hob der erste den Fuß und trat gegen die gläsernen Stalagmiten, die gefährlich aus dem unteren Rahmen emporragten. [11] Gemeinsam stiegen sie hinein und verschwanden nach hinten. Dann gingen gleichzeitig die Lichter im Büro und die Alarmanlage aus.

Die beiden kamen wieder nach vorn, wobei der eine ihnen mit einer Taschenlampe leuchtete. Sie sahen um sich, ob etwas ganz offensichtlich gestohlen oder kaputtgemacht worden war, und stiegen durch das Loch wieder auf den campo hinaus. Erst jetzt entdeckten sie die Frau auf dem steinernen Pfosten.

Der eine, der vorhin seine Pistole gezogen hatte, ging zu ihr. »Haben Sie gesehen, was hier passiert ist, Signora?«

»Ja.«

»Was? Wer war es?« Der andere Polizist hörte die Fragen und kam hinzu, sichtlich erfreut, daß sie so schnell eine Zeugin gefunden hatten. Das würde die Sache beschleunigen und es ihnen ersparen, von Tür zu Tür gehen und ihre Fragen stellen zu müssen. Sie würden eine Täterbeschreibung erhalten, rasch aus dieser feuchten Herbstkälte zurück in die warme Questura kommen und ihren Bericht schreiben.

»Wer war es?« fragte der erste.

»Jemand hat einen Stein ins Schaufenster geworfen«, sagte die Frau.

»Wie sah er denn aus?«

»Es war kein Mann«, antwortete sie.

»War es eine Frau?« unterbrach der zweite, und sie verkniff sich die Gegenfrage, ob es vielleicht noch eine weitere Alternative gebe, von der sie noch gar nichts wisse. Nein, keine Witze. Keine Witze. Bevor das alles vorbei war, sollte es keine Witze mehr geben.

[12] »Ja, eine Frau.«

Der erste Polizist warf seinem Partner einen raschen Blick zu und fragte weiter: »Wie sah die Frau aus?«

»Etwa Anfang Vierzig, blondes, schulterlanges Haar.«

Die Frau hatte ihr Haar unter einem Kopftuch, so daß der Polizist zunächst nichts begriff. »Und was hatte sie an?« fragte er.

»Einen gelbbraunen Mantel, braune Stiefel.«

Er sah die Farbe ihres Mantels, dann blickte er auf ihre Füße. »Das ist kein Scherz, Signora. Wir wollen wissen, wie diese Frau aussah.«

Sie blickte ihm voll ins Gesicht, und im Schein der Straßenlaterne sah er in ihren Augen so etwas wie eine versteckte Leidenschaft aufblitzen. »Ohne Scherz, agente. Ich habe Ihnen gesagt, was die Frau anhatte.«

»Aber Sie beschreiben sich selbst, Signora.« Wieder hielt ihr inneres Alarmsystem sie von einem pathetischen »Ihr habt wahr gesprochen« ab. Statt dessen nickte sie.

»Sie waren das?« fragte der erste, ohne sein Erstaunen verbergen zu können.

Sie nickte wieder.

Der andere versuchte klarzustellen: »Sie haben einen Stein in das Schaufenster geworfen?«

Noch einmal nickte sie.

In stillschweigendem Einvernehmen traten die beiden ein paar Schritte beiseite, bis sie außer Hörweite waren, ohne dabei jedoch die Frau aus den Augen zu lassen. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten kurz miteinander, dann zückte der eine sein Handy und wählte die Nummer der Questura. Über ihnen ging ein Fenster auf, und ein [13] Kopf erschien, verschwand aber gleich wieder. Das Fenster wurde zugeschlagen.

Der Polizist sprach eine ganze Weile ins Telefon, berichtete, was sich zugetragen hatte, und...