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Das Meer der Wahrheit

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602319 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[7] Am Morgen des 24. November

Am Morgen des 24. November lagen draußen mindestens vierzig Zentimeter Schnee, und mein Bruder rief an, um mir zu sagen, dass unser Vater gestorben war.

Nach dem Aufwachen hatte ich die Fensterblenden geöffnet und eine Weile das Weiß betrachtet, das Bäume und Felder und ferne Häuser einförmig zudeckte bis zum Horizont, wo die welligen Hügel mit dem sehr hellen Grau des Himmels verschwammen. Ich hatte der Stille gelauscht, tief die eisige Luft eingesogen, Atemwölkchen ausgestoßen. Einige Schneeflocken hatten sich mir auf Stirn, Brust und Hände gelegt, die Kälte war über meine nackte Haut gestrichen. Zwar schneit es hier in der Gegend zu häufig, als dass man das gleiche Gefühl von Verzauberung wie in der Kindheit empfinden könnte, dennoch fasziniert es mich jedes Mal, wie die Geräusche gedämpfter und die Entfernungen länger werden, wie dürres Holz, Dornengestrüpp, Steine, Löcher und Risse im Boden unter der weißen Oberfläche verschwinden und die Illusion einer einheitlichen Landschaft erwecken. Ich wusste, dass das Staunen über die Verwandlung nicht lange anhalten und schon bald etliche praktische Schwierigkeiten auftauchen würden, doch in den ersten Minuten ließ ich mich verzaubern, während ich mehrere Schichten Baumwolle und Wolle übereinander anzog.

[8] In der Küche hatte ich Tee aufgesetzt und Haferbrei zubereitet, hatte Knie- und Armbeugen gemacht, um mich aufzuwärmen. Beim Frühstück hatte ich in einem Aufsatz über Ozeanströmungen geblättert, den ich brauchte, weil ich an einem Buch über das Überleben auf offenem Meer nach einem Schiffbruch schrieb. Dann hatte ich prüfend das Telefon abgehoben, und es war absolut stumm. Ich hatte es nicht anders erwartet, denn die Leitungen laufen ein paar Kilometer lang durch einen Wald, ein Gewitter oder ein Windstoß oder eben Schnee genügt, damit die Verbindung ausfällt. Es dauert jedes Mal tagelang, bis jemand kommt und sie repariert, vorausgesetzt, man hat die Geduld, mehrmals täglich die Störungsstelle anzurufen und zu mahnen. Andererseits jedoch missfiel es mir nicht, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein: Ich fühlte mich vor den drohenden Anforderungen der Welt geschützt, sie rückten in so weite Ferne, dass sie beinahe unverständlich wurden.

Ich zog mein Handy aus der Tasche des Anoraks, in dem ich es aufbewahrte, neben der Eingangstür: Ich hatte vergessen, es aufzuladen, auf dem Minidisplay blinkte das Batteriesymbol. Auch das Symbol »verpasste Gespräche« leuchtete, aber noch bevor ich nachsehen konnte, wer denn angerufen hatte, erklang die pseudokaribische Melodie, die ich im Ausschlussverfahren unter den verfügbaren Klingeltönen ausgewählt hatte. Ich stieg in die hohen Gummistiefel und ging vors Haus in den Schnee hinaus, zu dem Baum, wo man einen besseren Empfang hat. Bei jedem Schritt sank ich ein, es war, als bewegte ich mich auf einem anderen Planeten.

Mein Bruder Fabio war aufgeregter als gewöhnlich: [9] »Lorenzo«, sagte er, »seit gestern Abend versuche ich dich zu erreichen, auf dem Festnetz und auf dem Handy.«

»Das Festnetztelefon funktioniert nicht bei Schnee, und das Handy hat im Haus keinen Empfang«, erwiderte ich im leicht schleppenden Tonfall dessen, der schon weidlich verfügbare Informationen wiederholt.

»Papa ist tot«, sagte mein Bruder.

»Was?«, fragte ich, im Kopf ein Bild unseres Vaters bei sich zu Hause im Wohnzimmer, während er sich mir zuwendet, um etwas zu sagen. Der Schnee reichte mir bis zum Knie, die Lorbeersträucher bogen sich unter der weißen Last, die sie zu zerbrechen drohte.

»Ja«, sagte mein Bruder.

»Wann?« Eine der vielen, halb formulierten Fragen, die mir durchs Hirn schossen.

»Gegen zehn.« Fabio hatte es eilig, wie immer: Abgesehen von unserem Telefongespräch gab es andere, mindestens ebenso wichtige Fragen, die auf ihn warteten.

»Aber wie ist es passiert?« Auch wenn ich nie gedacht hatte, dass unser Vater buchstäblich ewig leben könnte, gehörte er doch seit meiner Geburt zu meiner geistigen Landschaft, durch alle Perioden und Phasen hindurch: Eine Welt ohne ihn neu zu gestalten war nicht leicht.

»Myokardinfarkt«, sagte mein Bruder.

»Wo?«

»Zu Hause, in seinem Arbeitszimmer. Luz hat sofort den Notarzt gerufen, aber als sie gekommen sind, war nichts mehr zu machen. Sie haben ihn nicht einmal mitgenommen.«

»Aha.« Ich griff nach einem langen Stock unter dem [10] Vordach und begann, die niedergedrückten Lorbeerzweige zu bearbeiten. Die Schneemasse löste sich in pulverigen Klumpen, die Äste schwankten. Ich schlug kräftiger zu: Einige Äste schnellten befreit nach oben und schleuderten mir dabei Schnee ins Gesicht, in die Haare und in den Ausschnitt des Pullovers.

»Darf man erfahren, was du da machst?«, sagte mein Bruder. »Was ist das für ein Radau?«

»Nichts. Das ist der Schnee.«

»Wann meinst du, dass du kommen kannst?«, fragte er, die Ungeduld saß ihm im Nacken.

»Sofort. Jetzt.« Ich fühlte mich schuldig, dass ich nicht schon dort war, unabhängig vom Tonfall meines Bruders, dennoch konnte ich nicht widerstehen und schlug noch ein paar Mal mit dem Stock auf die Zweige, um sie zu befreien. Kleine Lawinen glitten zwischen Wolken von Pulverschnee über die grünen Blätter und versanken in der weichen weißen Schicht, die den Boden bedeckte.

»Beeil dich«, sagte mein Bruder. »Ich kann mich nicht allein um alles kümmern.«

»Bin schon unterwegs. Muss ja nur zweihundertsechzig Kilometer fahren, dann bin ich da.«

Ich hätte gern noch etwas über den vermutlichen Zustand der Straßen hinzugefügt, aber mein Handy war leer und ging aus. Ich kehrte ins Haus zurück, um mir die Zähne zu putzen und ein paar Sachen in einen Rucksack zu packen. Mir standen noch einige andere Bilder meines Vaters vor Augen, nicht aus allerjüngster Zeit, denn es war ungefähr zwei Monate her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten: Immer sah er mich mit einem unschlüssigen Ausdruck [11] zwischen Neugier und Ratlosigkeit an. Ich lief wieder hinaus, schloss die Haustür ab und stieg rutschend den Abhang zu dem offenen Vorplatz hinunter.

Der Pick-up war unter der dicken Schneedecke kaum erkennbar. Mit einer Schaufel begann ich ihn wütend auszugraben. Ich fühlte mich von der Materie behindert, und gleichzeitig wurde ich den Gedanken nicht los, dass eigentlich keine Eile geboten war. Das ist eine der Nebenwirkungen des Lebens außerhalb der Welt, ohne Uhren und mit instabilen Telefonverbindungen, und das, was passiert war, verstärkte sie noch. Deutlich spürte ich die Belanglosigkeit von Absichten und Zeitplänen, Konzepten, Kalendern, Terminen und Erwartungen.

Als das Auto weit genug freigeschaufelt zu sein schien, setzte ich mich ans Steuer und ließ den Motor an, der Scheibenwischer beförderte Schneebrocken über die Windschutzscheibe. Der Sitz war kalt, die Scheiben beschlugen sich sofort; meine Knie schlotterten, und ich klapperte mit den Zähnen, während sich der einfache Dieselmotor erwärmte.

Ohne viel zu sehen, fuhr ich die kleine Straße hinunter, und an der ersten Kurve hielt mich eine Masse quer über die Fahrbahn gestürzter, schneebedeckter Bäume auf, denen die noch belaubten Kronen und die auf dem abschüssigen Lehmboden nur schwach greifenden Wurzeln zum Verhängnis geworden waren. Ich stieg aus und versuchte sie wegzustoßen, aber es war hoffnungslos, also musste ich zurückstapfen, den Abhang wieder hinaufklettern und die Motorsäge aus dem Geräteschuppen holen. Natürlich war ihr Tank leer, ich musste erst Öl und Benzin mischen und [12] die Mischung dann mit einem Trichter einfüllen, alles mit vor Kälte und Hast starren Fingern. Ich zog an der Anlasserschnur, aber aus irgendeinem Grund sprang der kleine Einzylinder-Motor nicht an. Immer wieder riss ich an der Schnur, versuchte, die Luftzufuhr zu schließen, wieder zu öffnen: nichts. Ich warf die Motorsäge in den Schnee, sie versank darin. Dann holte ich die Handsäge aus dem Schuppen und lief, vor Aufregung schlimmer stolpernd und rutschend als zuvor, zu den Bäumen zurück.

Ast um Ast sägte ich ab, zerlegte anschließend die Stämme und warf die Stücke einzeln zur Seite. Der Schnee stäubte mir in die Stiefel, die Augen und die Ohren, machte mir durch die zerschlissenen, aufgeplatzten Lederhandschuhe hindurch die Finger nass. Ich plagte mich so sehr, dass mein baumwollenes Unterhemd und der unterste Wollpullover in Minutenschnelle durchgeschwitzt waren, dennoch hatte ich weder Zeit noch Lust, eine Pause einzulegen, nicht einmal, um mir den Anorak auszuziehen. Ich sägte, bis mir die Armmuskeln schmerzten, und die Augen tränten vor Anstrengung. Ab und zu trat ich einige Schritte zurück, um das Ergebnis zu begutachten, und hatte nicht den Eindruck, dem Ziel, mir einen Durchlass zu eröffnen, näher gekommen zu sein. Völlig in die mechanische Systematik meiner Räumaktion vertieft, arbeitete ich immer weiter, bis mir irgendwann bewusst wurde, dass die Durchfahrt frei war. Nass von geschmolzenem Schnee und Schweiß, wie ich war, sprang ich in den Pick-up, ließ den Motor wieder an und fuhr das Sträßchen hinunter, wobei ich mich mehr auf mein Gedächtnis als auf die Sicht stützte.

Es war nicht leicht, die dreihundert Meter bis zur [13] Landstraße zu überwinden, weil ich mit der Kühlerhaube eine ständig höher werdende Schneemauer vor mir herschob und die Ränder der Fahrbahn nur erahnen konnte, dauernd musste ich das Steuer herumreißen, um nicht umzukippen und zwischen den Bäumen im Wald zu landen. Als ich...