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Liebe am Ende der Welt

Anthony McCarten

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601930 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[5] Arbeiterinnen

Es war am Samstagabend, nach der Arbeit, aber noch bevor der Pub zumachte, dass Delia Chapman einen Außerirdischen sah. Na ja, genau genommen stimmt das nicht ganz – es waren zehn Außerirdische. Sie blieben etwa eine halbe Stunde. Und sie nahmen Delia mit auf ihr Raumschiff. Sie trugen silberne Anzüge und Edelstahlstiefel. Das Schiff war ultramodern und äußerst eindrucksvoll.

Delia hatte ihre dritte Halbschicht in Folge in der Packerei von Borthwicks Fleischfabrik hinter sich. Mit anderen Worten: Ihr Körper war noch beim Frühstück, in ihrem Kopf war es Mitternacht, und ihre innere Uhr war so durcheinander wie die einer Stewardess, die Langstrecken fliegt. Trotz ihrer Erschöpfung war sie zu aufgekratzt, um zu schlafen. Als sie die Farm ihrer Familie verließ, hatte sie noch immer die weiße Kittelschürze und die Gummistiefel an, die sie bei der Arbeit trug. Sie kaufte sich am Texacana-Take-away eine Tüte Fritten und schlenderte am Fluss entlang in Richtung Schnellstraße, hinaus aus der Stadt.

Wie konnte man auch damit rechnen, in Opunake einen Außerirdischen zu treffen? Da Delia auf ein so spektakuläres Ereignis nicht gefasst war, blieben ihre Auskünfte darüber, um es vorsichtig zu sagen, bruchstückhaft. Zwei Stunden später konnte sie immerhin berichten, dass es schön [6] gewesen sei, sie habe Lichter und ein paar Umrisse gesehen und ungefähr ein Dutzend – wortlose – Aufforderungen erhalten. Aber darüber hinaus und als die Leute die pikanteren Einzelheiten hören wollten, konnte Delia nur noch sagen, dass ihre Besucher während des gesamten Vorfalls ausgesprochen höflich gewesen seien und sie behandelt hätten wie eine hochwichtige Person.

Erst als beim Bäcker, im Wettbüro und an der Kasse des New-World-Supermarkts die ersten und äußerst amüsierten Reaktionen auf Delias Bericht die Runde gemacht hatten und jeder sein »bescheuertes Huhn« oder »bekloppte Tussi« oder »nicht alle Tassen im Schrank« beigesteuert hatte, war auch für eine etwas abgeklärtere Sicht der Dinge Platz.

Delia Chapman war sechzehn Jahre alt. Sie war im vorletzten Highschooljahr und hatte, genau wie ein ganzer Schwarm anderer ahnungsloser junger Frauen, einen Ferienjob bei Borthwick angenommen. Die Firma unterwarf um diese Zeit, wo die Schlachtquote den jährlichen Höhepunkt erreichte, ihre Angestellten einer gnadenlosen Folge von Tag- und Nachtschichten. Jeder wusste, dass 80 Prozent der weiblichen Bevölkerung der Stadt wegen dieser unmenschlichen Anforderungen am Rand des Nervenzusammenbruchs waren. Delias hysterische Behauptungen mussten also vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Es gab andere Erklärungen dafür, wieso sie auf die Idee kam, sich eine solche Geschichte auszudenken. Alle wussten, dass Delia Chapman immer eine Baseballkappe der Los Angeles Lakers aufhatte, egal, wohin sie ging. Oft trug sie dazu ein T-Shirt der University of North Carolina sowie amerikanische Turnschuhe, und mit dem Walkman am [7] Hüftgürtel und dem Kaugummi im Mund erschien sie geradezu als Inbegriff des American Way of Life. War denn da die Vision eines Ufos nicht nur der nächste logische Schritt ihrer Verwandlung in einen Yankee?

Zum Zeitpunkt des Besuches aus dem Weltall, den der Ortspolizist später auf ca. 9 Uhr 20 abends schätzte, saß der Großteil der Einwohnerschaft wie gebannt vor dem Fernseher in der Bar und verfolgte ein Rugby-Endspiel zwischen der neuseeländischen Nationalmannschaft und England, eine Aufzeichnung aus Twickenham. Erbitterte Kämpfe um die Senderechte hatten dazu geführt, dass es hier keine LiveÜbertragung gab, und alle waren gespannt bis zum Platzen, weil sie es sich den ganzen Tag lang versagt hatten, von irgendwoher den Ausgang des Spiels vorab zu erfahren.

Um 9 Uhr 50, als das Spiel noch im Gange und der Ausgang mehr als ungewiss war, hatte sich Delias Leben bereits für immer verändert. Nur der Verkäufer im Texacana, ein einfältiger Trottel, erinnerte sich, dass Delia eine Portion Fritten und keinen Essig genommen hatte; das war der einzige Teil ihrer seltsamen Geschichte, für den es einen Zeugen gab.

Ortspolizist Harvey Watson, der am Wochenende auch als Delias Basketball-Trainer fungierte, redete sanft auf sie ein – eher wie ein Priester, der eine verwirrte Beichte abnimmt –, als er sie eine Stunde nach dem Ereignis nach Hause fuhr. Er wollte wissen, warum sie ihm so eine Geschichte erzählte. Hatte sie so etwas im Film gesehen? Die Hälfte des Weihnachtsprogramms im Kino und praktisch sämtliche Fernsehserien handelten ja dieser Tage von Aliens. Vielleicht habe sie einfach zu viele davon gesehen. Ihm sei gleich [8] aufgefallen, dass Delia unter einer Art Schock stehe, sagte er; es werde ihr sofort bessergehen, wenn sie ihm die Wahrheit sage. Er spürte, wie sie innerlich mit sich rang auf der Suche nach einer anderen Geschichte, mit der sie das zerzauste Haar, die Schrammen am Arm und den unsteten Blick erklären konnte. Aber dann schien es doch etwas zu geben, was sie von einer anderen Erklärung ihrer Verwirrung abhielt. Sie öffnete den Mund, doch ihre Konzentration schwand schon wieder. Und als Worte kamen, da waren es nur die gleichen wie zuvor.

»Das Schiff war wie ein… na, so eine Art… Lichtkugel, könnte man sagen. Eine große Lichtkugel. Und es stand auf… auf so einem…«

»Ja? Worauf stand es?«, fragte der Polizist und hörte gebannt zu. »Es stand…?«

»Auf einem Stativ.«

Delia war nicht gerade passend für eine Botschafterin angezogen gewesen, als sie so unvermutet erwählt wurde. Wie musste sie diesen Besuchern erschienen sein, als sie in ihren Gummistiefeln vor ihnen stand, eine Tüte Fritten in der Hand? Mit ihrer weißen Kittelschürze musste den Außerirdischen die Menschheit als eine weitaus praktischer denkende Lebensform vorgekommen sein, als sie in Wirklichkeit war; eine bleiche Rasse, dunkelblond mit weit aufgerissenen Augen, schüchtern, stumm, folgsam, harmlose Vegetarier.

Delia stand an diesem Samstagabend für Milliarden ihrer Art.

Am anderen Ende des Städtchens saß Delias Vater vor dem Fernseher. Marty Chapman war im Glauben, dass seine [9] Tochter mit genau der Art von brennendem Kopfschmerz zu Bett gegangen war, die ihn jetzt quälte. Sein Interesse an Sport war ihm, wie so vieles andere in den letzten Jahren, abhandengekommen. Es hatte sich verflüchtigt wie Brennspiritus aus einer offenen Flasche. Er sah sich eine Gartensendung im zweiten Programm an.

Es ging um die Aufzucht von Dahlien in einem Gewächshaus, und Marty verfolgte die Sendung mit schwindender Begeisterung, ein Bein über die Lehne seines Sessels gelegt, während im Schaum seines halbleeren Bierglases unbemerkt eine Motte um ihr Leben kämpfte. Auf dem Bildschirm erläuterte eine füllige englische Dame ihr Patentrezept für die Dahlienzucht. Als die Stimmung umschlug und sie sich zu Hetztiraden über Unkraut hinreißen ließ, stand Marty auf und schaltete das Gerät ab. Es wurde still im Haus, und die Angst vor einem Leben in Einsamkeit stieg um ihn auf wie ein Nebel.

Sein weißes Hemd klebte ihm vor Schweiß unter den Armen, und seine Schläfen pochten. Er beschloss, Aspirin und Wasser mit nach oben in sein einsames Witwerbett zu nehmen.

Bevor er hinaufging, trat er auf die von den Topfpflanzen seiner verstorbenen Frau gesäumte Veranda und wässerte mit seinem Urin ausgiebig das Gras. Auf der Farm durfte man keine Flüssigkeit verschwenden. In der Ferne sah er im Mondlicht seine mageren, halbverdursteten Rinder auf den Hügeln. Im Winter überschwemmte der Fluss die tiefer gelegenen Wiesen und überzog sie mit einer Schlammschicht; jetzt musste er sehen, wie er mit einer frühen Dürre fertig wurde, mit der heißesten Weihnachtswoche seit [10] zweiundvierzig Jahren. Er machte seine Hose zu und lehnte sich an den Türrahmen, wo die Größe seiner Tochter in zehn Stufen mit Kerben markiert war, von der Kindheit bis vor einem Jahr, wo er sie für ausgewachsen erklärt hatte. Er zerrte an den vom Schlamm steifen Schnürsenkeln, streifte mühsam die Stiefel von den Füßen und ließ sie zum Lüften draußen.

Oben blieb Marty vor der Tür seiner Tochter stehen. Er tat es hauptsächlich, weil es seine Gewohnheit war. Nicht selten war sie in diesem Zimmer, weil er sie dorthin verbannt hatte, und so blieb er automatisch stehen und horchte, ob Protestlaute von jenseits der geschlossenen Tür kamen. Sein Patentrezept für die schwierige Rolle des alleinerziehenden Vaters war Delias lückenlose Überwachung. Doch wo Weisheit und Erfahrung ihm erlaubt hätten, seine Energien für die Augenblicke aufzusparen, in denen Sorge wirklich angebracht war, wurde er immer ratloser, je erwachsener seine Tochter wurde, und geriet schließlich in einen Zustand permanenter Wachsamkeit, der seine Kräfte fast vollständig aufzehrte. Frauen waren ihm immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen, und nun, da seine Tochter zur Frau wurde, trieb ihn dieses Problem zur Verzweiflung.

Mit seinen Zähnen riss Marty das Aspirin aus der Folie, ließ es ins Glas fallen und sah den Linderung versprechenden weißen Bläschen zu. Mit pochenden Schläfen wartete er, bis die Tablette auf den Boden des Glases sank, das Wasser milchig wurde und die brausende Scheibe wieder an die Oberfläche stieg, inzwischen zu einem kleinen weißen Plättchen geschrumpft. Er trank gierig, dann legte er zum letzten Mal das Ohr an Delias Tür. Er widmete sich dieser Aufgabe mit aller Aufmerksamkeit, lauschte nach [11] Schluchzern oder dem Radio oder tonlosem Gesang zu einem unhörbaren Walkman. Er klopfte, dann rief er laut ihren...