dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Sanft entschlafen - Commissario Brunettis sechster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600650 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

[7] 1

Brunetti saß am Schreibtisch und starrte auf seine Füße. Sie lagen auf der herausgezogenen untersten Schublade und erwiderten vorwurfsvoll seinen Blick aus vier senkrechten Reihen kleiner, runder, metallumrahmter Augen. In der letzten halben Stunde hatte er seine Zeit und Aufmerksamkeit abwechselnd den Holztüren seines armadio an der Wand gegenüber und, wenn ihm das zu langweilig wurde, seinen Schuhen gewidmet. Hin und wieder, wenn die scharfe Schubladenkante ihm zu sehr in die Ferse schnitt, schlug er die Beine andersherum übereinander, aber das veränderte lediglich die Anordnung der kleinen runden Augen und trug wenig dazu bei, den Vorwurf in ihrem Blick zu mildern oder ihn selbst von seiner Langeweile zu erlösen.

Vice-Questore Giuseppe Patta machte seit zwei Wochen Urlaub in Thailand, ein Unternehmen, das die Belegschaft der Questura beharrlich als seine zweite Hochzeitsreise bezeichnete, und Brunetti war solange für die Verbrechensbekämpfung in Venedig zuständig. Aber offenbar war die Kriminalität mit dem Vice-Questore ins selbe Flugzeug gestiegen, denn kaum etwas von Bedeutung hatte sich ereignet, seit Patta mit seiner Frau, soeben heimgekehrt an seinen Herd und – man zitterte – in seine Arme, verreist war, abgesehen von den üblichen Einbrüchen und Taschendiebstählen. Die einzige interessante Missetat war vor zwei Tagen in einem Juweliergeschäft geschehen. Ein gutangezogenes Paar mit Kinderwagen war in den Laden gekommen, [8] und der frischgebackene Vater hatte sich, vor Stolz errötend, nach einem Diamantring erkundigt, den er der noch verlegeneren jungen Mutter schenken wolle. Sie hatte zuerst einen, dann einen anderen anprobiert. Schließlich hatte sie sich für einen lupenreinen Dreikaräter entschieden und gefragt, ob sie ihn sich draußen bei Tageslicht ansehen dürfe. Es kam, wie es kommen mußte: Sie ging vor die Tür, hob die Hand in die Sonne, lächelte und winkte dem jungen Vater, der sich über den Kinderwagen beugte, um die Decken zurechtzuzupfen, verlegen den Juwelier anlächelte und dann zu seiner Frau hinausging. Worauf sie natürlich beide verschwanden und den Kinderwagen samt Babypuppe als Hindernis in der Tür stehenließen.

So raffiniert das einerseits war, so wenig konnte man es als eine Verbrechenswelle bezeichnen, und Brunetti langweilte sich und wußte nicht recht, was ihm lieber war: die Verantwortung der Befehlsgewalt mitsamt den Papierbergen, die sie hervorzubringen schien, oder die Handlungsfreiheit, die seine untergeordnete Position ihm normalerweise gewährte. Nicht daß mit dieser Freiheit allzuviel anzufangen gewesen wäre …

Er blickte auf, als es klopfte, und lächelte erfreut, als die Tür aufging und er zum ersten Mal an diesem Tag Signorina Elettra sah, Pattas Sekretärin, die den Urlaub des Vice-Questore offenbar zum legitimen Anlaß nahm, erst um zehn Uhr zur Arbeit zu erscheinen, statt wie sonst um halb neun.

»Buon giorno, commissario«, sagte sie beim Eintreten, und ihr Lächeln erinnerte ihn flüchtig an gelato all’amarena – Rot und Weiß – zwei Farben, die sich in den Streifen ihrer Seidenbluse wiederfanden. Sie machte einen Schritt [9] zur Seite, um eine andere Frau hinter sich hereinzulassen. Brunetti warf einen kurzen Blick auf die zweite Frau und nahm flüchtig ein kastenförmig geschnittenes Kostüm aus billigem grauen Polyester wahr, dessen Rocksaum sich in unvorteilhafter Nähe zu ihren flachen Schuhen befand. Er sah die Hände der Frau linkisch eine steife Kunstlederhandtasche umklammern und wandte den Blick wieder zu Signorina Elettra.

»Commissario, hier möchte Sie jemand sprechen«, sagte sie.

»Ja?« fragte er und blickte, nicht sonderlich interessiert, noch einmal zu der anderen Frau. Aber dann sah er die Kontur ihrer rechten Wange und, als sie den Kopf drehte, um einen Blick durchs Zimmer zu werfen, den feinen Schwung von Kinn und Hals. »Ja?« wiederholte er, diesmal schon interessierter.

Auf seinen Ton hin wandte die Frau den Kopf und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, und in diesem Moment kam sie Brunetti irgendwie bekannt vor, obwohl er ganz sicher war, sie noch nie gesehen zu haben. Ihm kam der Gedanke, sie könnte vielleicht die Tochter eines Freundes sein, die seine Hilfe suchte und ihm aufgrund der Familienähnlichkeit bekannt vorkam.

»Ja, Signorina?« sagte er, wobei er sich erhob und auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zeigte. Die Frau sah kurz zu Signorina Elettra, die ihr ein Lächeln schenkte, das sie für Leute parat hatte, denen es sichtlich unangenehm war, sich in der Questura wiederzufinden. Dann sagte sie etwas von Arbeit, zu der sie zurückmüsse, und verließ das Zimmer.

[10] Die Frau setzte sich, nicht ohne vorher ihren Rock zur Seite zu schlagen. Obwohl sie schlank war, bewegte sie sich unelegant, als trüge sie nie etwas anderes als flache Schuhe.

Brunetti wußte aus langer Erfahrung, daß es am besten war, erst einmal gar nichts zu sagen und nur mit ruhiger, interessierter Miene abzuwarten, dann würde das Schweigen sein Gegenüber früher oder später zum Reden bringen. Während er also wartete, sah er ihr kurz ins Gesicht, wieder fort und von neuem hin, wobei er in seiner Erinnerung kramte, woher es ihm so bekannt vorkam. Er suchte in dem Gesicht einen Elternteil zu erkennen, oder vielleicht eine Verkäuferin, die er in einem Laden gesehen hatte und nun in der andersartigen Umgebung nicht einzuordnen wußte. Aber, dachte er bei sich, wenn sie in einem Laden arbeitet, ist es sicher keiner, der etwas mit Kleidung oder Mode zu tun hat. Ihr Kostüm war ein gräßliches, kastenförmiges Gebilde in einem Schnitt, der schon seit Jahren aus der Mode war; ihre Frisur war nur Haar, das sehr kurz und zu lieblos geschnitten war, um jungenhaft oder schick zu wirken; sie trug keinerlei Make-up. Aber als er zum dritten Mal hinsah, hatte er den Eindruck, daß sie sich auch einfach verkleidet haben konnte und ihre Schönheit verbarg. Ihre dunklen Augen standen weit auseinander, und die Wimpern waren so lang und dicht, daß sie keiner Tusche bedurften. Ihre Lippen waren blaß, aber voll und geschmeidig. Für ihre gerade Nase, schmal und ganz leicht gewölbt, fand er kein besseres Wort als edel. Und unter dem unvorteilhaft abgemähten Haar sah er eine breite, faltenlose Stirn. Aber auch nachdem er ihre Schönheit erkannt hatte, wußte er sie nirgends unterzubringen.

[11] Sie schreckte ihn mit der Frage auf: »Sie haben mich nicht erkannt, nicht wahr, Commissario?« Sogar ihre Stimme kam ihm bekannt vor, aber auch sie gehörte nirgendwohin. Er bemühte sich vergebens, sich zu erinnern, aber mit Bestimmtheit konnte er nur sagen, daß sie nichts mit der Questura oder seinem Beruf zu tun hatte.

»Nein, Signorina. Tut mir leid. Aber ich weiß, daß ich Sie kenne und nur nicht erwartet hätte, Sie hier zu sehen.« Er lächelte sie offen an, warb um ihr Verständnis für diese verbreitete menschliche Schwäche.

»Ich nehme an, daß man die meisten Leute, die Sie kennen, eigentlich nicht in der Questura zu sehen erwartet«, antwortete sie und lächelte zum Zeichen, daß sie es humorvoll meinte.

»Stimmt, meine Freunde kommen selten freiwillig hierher, und bisher mußte auch noch keiner von ihnen unfreiwillig hier erscheinen.« Diesmal sollte sein Lächeln zeigen, daß auch er über die Polizeiarbeit zu scherzen verstand. »Zum Glück«, fügte er dann noch hinzu.

»Ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun«, sagte sie, wobei sie sich wieder im Zimmer umsah, als fürchtete sie, daß ihr nun, nachdem sie eben doch hier war, irgend etwas Schlimmes zustoßen könnte.

»Das haben die meisten Leute nicht«, meinte Brunetti.

»Vermutlich«, antwortete sie, dann senkte sie den Blick auf ihre Hände und sagte ohne jede Überleitung: »Man nannte mich einmal die Unbefleckte.«

»Wie bitte?« Brunetti verstand überhaupt nichts mehr und begann sich zu fragen, ob dieser jungen Frau wohl ernstlich etwas fehlte.

[12] »Immacolata«, sagte sie, wobei sie wieder zu ihm aufsah und dieses sanfte Lächeln aufsetzte, das er schon so oft unter der gestärkten weißen Haube ihrer Tracht hatte hervorleuchten sehen. Der Name stellte sie augenblicklich an den richtigen Platz und löste das Rätsel. Der Haarschnitt fand eine Erklärung, desgleichen ihr offenkundiges Unwohlsein in der Kleidung, die sie trug. Brunetti hatte ihre Schönheit gleich bemerkt, als er Schwester Immacolata zum erstenmal in diesem Pflegeheim gesehen hatte, dem Ort der Altersruhe, an dem seine Mutter seit Jahren nicht zur Ruhe kam, aber damals hatten ihre Ordensgelübde und die lange weiße Tracht, in der sie zum Ausdruck kamen, sie mit einem Tabu umgeben, so daß Brunetti ihre Schönheit eher wie die einer Blume oder eines Bildes wahrgenommen und nur als Betrachter darauf reagiert hatte, nicht als Mann. Nun aber, befreit von Verbot und Verhüllung, hatte diese Schönheit sich mit ins Zimmer geschlichen, mochten Verlegenheit und billige Kleidung sie noch so sehr zu verbergen suchen.

Suor Immacolata war aus dem Pflegeheim seiner Mutter vor etwa einem Jahr verschwunden, und Brunetti, bestürzt ob der Verzweiflung, mit der seine Mutter auf den Verlust der Schwester reagierte, die immer am nettesten zu ihr gewesen war, hatte lediglich in Erfahrung bringen können, daß sie in ein anderes Pflegeheim des Ordens versetzt worden war. Fragen über Fragen gingen ihm jetzt durch den Kopf, die er aber alle als unpassend verwarf. Sie war ja hier; sie würde ihm schon sagen, warum.

»Ich kann nicht nach Sizilien zurück«, sagte sie unvermittelt. »Meine Familie würde es...