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Venezianisches Finale - Commissario Brunettis erster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600605 , 352 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[7] 1

Der dritte Gong tönte diskret durch die Foyers und Bars des Teatro La Fenice und rief zum letzten Akt der Oper. Zigaretten wurden ausgedrückt, Gläser leer getrunken, Gespräche beendet, und langsam drängte das Publikum zurück ins Theater. Der zwischen den Akten hellerleuchtete Saal war erfüllt von gedämpftem Stimmengewirr. Hier blitzte ein Diamant, dort wurde auf nackter Schulter ein Nerzcape zurechtgerückt, da ein unsichtbares Stäubchen von einem Satinrevers geschnipst. Zuerst füllten sich die Ränge, dann das Parkett, zuletzt die drei Reihen der Logen.

Langsam verloschen die Lichter, bis es ganz dunkel war im Saal, und es breitete sich jene erwartungsvolle Spannung aus, die ein Opernhaus erfüllt, kurz bevor die Vorstellung weitergehen soll und der Dirigent auf sein Podium zurückkehrt. Das Stimmengesumm ebbte allmählich ab, die Orchestermusiker rutschten nicht länger auf ihren Stühlen herum, und die allgemeine Stille verkündete, daß man bereit war für den dritten Akt.

Die Stille dehnte sich, wurde schwer. Aus dem ersten Rang hörte man plötzlich ein Husten, jemand ließ ein Buch oder eine Handtasche fallen, doch die Tür zum Korridor hinter dem Orchestergraben blieb zu.

Die Orchestermusiker waren die ersten, die leise zu reden anfingen. Ein zweiter Geiger lehnte sich zu der Frau neben ihm hinüber und erkundigte sich, wo sie dieses Jahr ihren Urlaub verbringen wolle. In der zweiten Reihe [8] informierte eine Fagottistin ihre Nachbarin, daß bei Benetton morgen der Schlußverkauf beginne. Die Leute in den Seitenlogen schlossen sich dem Getuschel der Musiker als erste an, denn sie konnten direkt in den Orchestergraben sehen und sich ein Beispiel nehmen. Die Ränge zogen nach, dann die ersten Parkettreihen, als wollten die Reichen sich als letzte von solchem Benehmen anstecken lassen.

Das Summen steigerte sich zum Gemurmel. Minuten verstrichen. Plötzlich wurden die Falten des steifen grünen Samtvorhanges energisch auseinandergeschlagen, und Amadeo Fasini, der Intendant des Theaters, trat etwas linkisch durch den schmalen Spalt. Der Beleuchter an seinem Schaltpult über dem zweiten Rang hatte keine Ahnung, was los war, und entschied sich endlich dafür, einen grellen weißen Kreis auf die Gestalt auf der Bühne zu richten. Geblendet hob Fasini den Arm vors Gesicht, und so, den Arm wie zur Abwehr eines Schlages erhoben, begann er zu sprechen: »Meine Damen und Herren –« Er hielt inne und gestikulierte wild mit der Linken zu dem Beleuchter, der seinen Irrtum bemerkte und den Scheinwerfer wieder ausschaltete. Fasini, von seiner vorübergehenden Blindheit erlöst, fing noch einmal an: »Meine Damen und Herren, leider muß ich Ihnen mitteilen, daß Maestro Wellauer die Vorstellung nicht zu Ende leiten kann.« Fragendes Geraune drang ihm aus dem Publikum entgegen, Köpfe wandten sich unter Seidengeraschel, aber er sprach weiter. »Maestro Longhi wird seinen Platz am Pult einnehmen.« Und schnell, ehe das Raunen so laut werden konnte, daß seine Worte darin untergingen, fragte er mit betont ruhiger Stimme: »Ist ein Arzt im Saal?«

[9] Lange Stille; dann begannen die Leute sich umzusehen, ob jemand sich melden würde. Fast eine Minute verging. Endlich hob vorn im Parkett zögernd jemand die Hand, und eine Frau stand langsam von ihrem Platz auf. »Dottoressa, könnten Sie bitte hinter die Bühne kommen?« Fasini winkte einem der uniformierten Platzanweiser im Hintergrund, und der junge Mann eilte ans Ende der Reihe, wo die Ärztin nun stand. »Wenn Sie so freundlich wären«, sagte Fasini, wobei er einen so schmerzlichen Unterton in seine Stimme legte, als brauchte er selbst den ärztlichen Beistand, »und dem Platzanweiser folgen würden…«

Er warf einen Blick in den hufeisenförmigen, immer noch abgedunkelten Saal, versuchte zu lächeln, erfolglos, und gab es auf. »Bitte entschuldigen Sie die kleine Verzögerung, meine Damen und Herren. Die Vorstellung geht jetzt weiter.«

Er drehte sich um, kämpfte mit den Vorhangfalten und fand die Öffnung nicht mehr. Unsichtbare Hände teilten endlich von hinten den Vorhang für ihn, er schlüpfte hindurch und stand mitten in der kargen Mansarde, wo gleich Violetta sterben sollte. Aus dem Saal hörte er den verhaltenen Applaus, der den neuen Dirigenten begrüßte.

Von allen Seiten bedrängten die Sänger, Chormitglieder und Bühnenarbeiter ihn jetzt ebenso neugierig, aber viel stimmgewaltiger als zuvor das Publikum. Sonst schützte seine Stellung ihn vor Kontakten mit solch minderen Mitgliedern des Ensembles, hier aber konnte er ihnen nicht entgehen, ihren Fragen, ihrem Flüstern. »Es ist nichts weiter«, sagte er zu niemand Bestimmtem und wedelte mit den Armen, um sie von der Bühne zu treiben, auf der sie sich [10] zusammendrängten. Draußen ging das Vorspiel zum dritten Akt seinem Ende entgegen; gleich würde der Vorhang aufgehen und den Blick auf die Violetta des heutigen Abends freigeben, die nervös auf dem Bett in der Bühnenmitte saß. Fasini verdoppelte die Heftigkeit seiner Gebärden, und sie zogen sich langsam zurück, um aber in den Seitenkulissen stehenzubleiben und dort weiterzutuscheln. Er fauchte ein wütendes »Silenzio« und wartete die Wirkung ab. Als er sah, daß sie still wurden und der Vorhang langsam die Bühne freigab, ging er rasch nach rechts zum Inspizienten, neben dem jetzt die Ärztin stand, eine kleine, dunkelhaarige Frau. Unmittelbar unter dem Schild »Rauchen verboten« hielt sie eine nicht angezündete Zigarette in der Hand.

»Guten Abend, Dottoressa«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Sie ließ die Zigarette in ihre Jackentasche gleiten und gab ihm die Hand. Falls sie sich wunderte, wie wenig eilig er es auf einmal hatte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Worum geht es?« fragte sie schließlich, während Violetta hinter ihnen Germonts Brief zu lesen begann.

Fasini rieb sich, bevor er antwortete, energisch die Hände, als könnte ihm dies bei der Suche nach dem richtigen Wort helfen. »Maestro Wellauer ist…«, begann er, wußte dann aber nicht, wie er den Satz passend beenden sollte.

»Ist er krank?« fragte die Ärztin mit kaum verhohlenem Unmut über sein Verhalten.

»Nein, nein, krank ist er nicht«, erwiderte Fasini, und wieder fehlten ihm die Worte. Er rieb sich erneut die Hände.

[11] »Ich sollte vielleicht besser zu ihm gehen«, sagte sie, ließ es aber wie eine Frage klingen. »Ist er hier im Theater?«

Und als Fasini stumm blieb, fragte sie: »Hat man ihn irgendwohin gebracht?«

Da fand Fasini seine Sprache wieder. »Nein, nein. Er ist in der Garderobe.«

»Sollten wir dann nicht hingehen?«

»Ja, natürlich, Dottoressa«, stimmte er zu und schien dankbar für den Vorschlag. Er führte sie nach rechts, vorbei an einem Flügel und einer Harfe, die mit einem mattgrünen Tuch abgedeckt war, in einen schmalen Gang. An dessen Ende blieb er vor der Tür zur Garderobe des Dirigenten stehen. Die Tür war geschlossen, und davor stand ein großer Mann.

»Matteo«, sagte Fasini, »der Hilfsinspizient…«, und wandte sich dann höflich der Ärztin zu. »Das ist Dottoressa…«

»Zorzi«, sagte sie knapp. Es schien kaum der rechte Moment für förmliche Vorstellungen zu sein.

Bei der Ankunft seines Vorgesetzten und dieser Frau, die offenbar eine Ärztin war, trat der Hilfsinspizient nur allzugern beiseite. Fasini ging an ihm vorbei, stieß die Tür ein Stück weit auf, blickte über die Schulter und trat zur Seite, um die Ärztin an sich vorbei in das kleine Zimmer zu lassen.

Der Tod hatte die Züge des Mannes verzerrt, der in dem Sessel mitten im Zimmer lag. Seine Augen waren starr ins Leere gerichtet und die Lippen zu einer häßlichen Grimasse verzogen. Der Körper hing schwer zur einen Seite, der Kopf war gegen den Sesselrücken gepreßt. Auf der gestärkten, blendendweißen Hemdbrust waren Spritzer einer [12] dunklen Flüssigkeit. Einen Augenblick dachte die Ärztin, es sei Blut. Sie trat näher und roch mehr, als daß sie es sah, den Kaffee. Der andere Geruch, der sich mit dem des Kaffees vermischte, war ebenso eindeutig. Es war der durchdringende, säuerliche Geruch nach bitteren Mandeln, über den sie bislang nur gelesen hatte.

Sie hatte so oft mit dem Tod zu tun gehabt, daß sie nicht erst nach dem Puls des Mannes tasten mußte, dennoch legte sie die Finger ihrer rechten Hand unter sein hochgerecktes Kinn. Nichts, aber die Haut war noch warm. Sie trat zurück und sah sich um. Vor ihm auf dem Boden lagen die Untertasse und die kleine Tasse, worin der Kaffee gewesen war, der ihm auf die Hemdbrust gespritzt war. Sie hockte sich hin und berührte mit der Rückseite ihrer Finger die Tasse, doch die fühlte sich kalt an.

Dann erhob sie sich wieder und wandte sich an die beiden Männer, die noch immer an der Tür standen und die Beschäftigung mit dem Tod gern ihr zu überlassen schienen. »Haben Sie schon die Polizei verständigt?« fragte sie.

»Ja, ja«, murmelte Fasini, als habe er die Frage gar nicht aufgenommen.

»Signore«, sagte sie, nun mit klarer lauter Stimme, damit er sie auch richtig verstand. »Ich kann hier nichts machen. Das ist eine Angelegenheit für die Polizei. Ist sie schon benachrichtigt?«

»Ja«, wiederholte Fasini, ließ aber noch immer nicht erkennen, daß er sie gehört oder verstanden hatte. Er starrte auf den Toten hinunter und versuchte zu begreifen, welchen Schrecken und Skandal das bedeutete, was er da sah.

Abrupt drängte die Ärztin sich an ihm vorbei in den [13] Korridor. Der Hilfsinspizient folgte ihr. »Rufen Sie...