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Saturday

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600285 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[7] Eins

Henry Perowne, ein Neurochirurg, wacht einige Stunden vor Tagesanbruch auf und merkt, daß er in Bewegung ist, daß er im Sitzen die Decke zurückschlägt und aufsteht. Wann genau ihm das bewußt wird, weiß er nicht, doch scheint es auch nicht von Bedeutung zu sein. Und obwohl ihm derlei noch nie passiert ist, macht es ihm keine Angst, es überrascht ihn nicht einmal, denn seine Glieder sind entspannt, die Bewegungen angenehm, Rücken und Beine fühlen sich ungewöhnlich kräftig an. Er steht am Bett, nackt – er schläft immer nackt –, und richtet sich zu ganzer Länge auf; er nimmt den ruhigen Atem seiner Frau wahr, die winterlich kühle Schlafzimmerluft auf der Haut. Auch das ist ein angenehmes Gefühl. Der Wecker zeigt zwanzig vor vier. Er hat keine Ahnung, warum er nicht mehr im Bett liegt: Er muß sich nicht erleichtern, weder ein Traum noch ein unerledigtes Problem vom Vortag noch der Zustand der Welt plagen ihn. Es ist, als sei er, so wie er da im Dunkeln steht, gänzlich entwickelt und ohne jeden Ballast Stoff geworden aus dem Nichts. Trotz der frühen Stunde und der vielen Arbeit in letzter Zeit ist er nicht müde, auch macht ihm kein neuer Fall zu schaffen. Genaugenommen fühlt er sich sogar hellwach, klar im Kopf und unvermutet hochgestimmt. Wie von allein und ohne einen festen Vorsatz geht er zum nächstgelegenen der drei Schlafzimmerfenster, wobei er [8] sich so leicht und gelöst bewegt, daß er zu schlafwandeln oder zu träumen glaubt. Sollte das der Fall sein, wäre er enttäuscht. Träume interessieren ihn nicht, da findet er die Möglichkeit schon ergiebiger, daß dies real sein könnte. Er ist ganz er selbst, kein Zweifel, er weiß, daß der Schlaf vorüber ist: Zwischen Schlaf und Wachsein trennen, die Grenzlinie ziehen zu können, daran erkennt man einen gesunden Verstand.

Das Schlafzimmer ist groß und spärlich eingerichtet. Während er mit beinahe komischer Leichtigkeit durch den Raum schwebt, betrübt ihn für einen Moment die Vorstellung, daß diese Erfahrung enden wird, doch verflüchtigt sich der Gedanke wieder. Henry steht am Mittelfenster und zieht behutsam, damit Rosalind nicht aufwacht, den großen, hölzernen Klappladen auf. Er denkt dabei an sich und nimmt gleichzeitig Rücksicht. Er will nicht gefragt werden, was er gerade treibt – was könnte er darauf schon erwidern und warum mit dem Versuch einer Antwort diesen Augenblick zerstören? Er öffnet den zweiten Laden, faltet ihn in den Rahmenkasten und schiebt leise das Fenster in die Höhe. Es ist um einiges größer als er selbst, gleitet aber, vom verborgenen Bleigewicht gezogen, schwerelos nach oben. Als ihn die Februarluft umweht, spannt sich seine Haut, doch macht ihm die Kälte nichts aus. Vom zweiten Stock blickt er in die Nacht, sieht die Stadt im eisig weißen Licht, die knochig kahlen Bäume auf dem Platz und zehn Meter unter ihm den schwarzen Eisenzaun wie eine Reihe aufgestellter Speere. Es ist ein, zwei Grad unter Null, die Luft ist klar. Das gleißende Licht der Straßenlampe blendet nicht alle Sterne aus, Reste von Sternbildern hängen am [9] Südhimmel über der Regency-Fassade der gegenüberliegenden Platzseite. Diese Fassade ist eine Rekonstruktion, ein Nachbau – der Stadtteil Fitzrovia wurde im Krieg mehrmals von der Luftwaffe getroffen –, und direkt dahinter ragt der Post Office Tower auf, tagsüber städtisch, schäbig, doch nachts, in Dunkel gehüllt und nur dezent angestrahlt, ein kühnes Denkmal optimistischerer Tage.

Und nun, was sind das jetzt für Tage? Verwirrend und beängstigend findet er sie meist, wenn er sich im wöchentlichen Trott die Zeit nimmt, darüber nachzudenken. Doch im Moment sieht er das anders. Er beugt sich vor, stützt sich an der Fensterbank auf den Handflächen ab und freut sich über die klare Luft, die unbelebte Szenerie. Seine Augen – ohnedies gut – scheinen noch schärfer als sonst zu sein. Er kann den Glimmer im Pflaster des zur Fußgängerzone erklärten Platzes erkennen, den durch Kälte und Entfernung zu beinahe etwas Schönem verhärteten, an Schneeflocken erinnernden Taubenkot. Ihm behagt die Symmetrie der schwarzen Eisengitterstäbe und ihrer noch dunkleren Schatten, das Muster der kopfsteingepflasterten Abwasserrinne. Die überquellenden Abfallkörbe lassen eher an Wohlstand als an Müll denken, die leeren Bänke um den kreisrunden Park harren gelassen ihrer täglichen Benutzer – vergnügte Büromannschaften, ernste, strebsame Jungen aus dem indischen Wohnheim, Liebespaare im stillen Drama oder Glück, zwielichtige Drogendealer oder die verwahrloste alte Frau mit ihrem wilden, gespenstischen Rufen. Weg da, schreit sie manchmal stundenlang, heiser zeternd wie ein Sumpfvogel oder ein Tier aus dem Zoo.

Wie er dasteht – gegen die Kälte so immun wie eine [10] Marmorstatue – und zur Charlotte Street hinüberschaut, auf den perspektivisch verkürzten Wirrwarr der Fassaden, die Baugerüste und Pultdächer, findet Henry, daß Städte ein Erfolg sind, eine geniale Erfindung, ein organisches Meisterwerk – wie um Korallenriffe drängen sich Millionen um die angehäuften, vielschichtigen Errungenschaften der Jahrhunderte, schlafen, arbeiten und vergnügen sich, einträchtig zumeist, und wollen fast alle, daß es funktioniert. Die Gegend aber, in der die Perownes wohnen, ist ein Höhepunkt aufeinander abgestimmter Proportionen, dieser vollkommene, von Robert Adam angelegte Platz, der einen runden Park umschließt – Traum des achtzehnten Jahrhunderts, von Modernem umspült und umschlossen, vom Straßenlicht oben und Glasfaserkabeln unten, von kühlem, frischem Wasser, das durch Rohre strömt, und Unrat, der, gleich vergessen, fortgeschwemmt wird.

Gewohnt, die eigenen Stimmungen zu beobachten, wundert er sich über seine anhaltende, alles verzerrende Euphorie. Vielleicht hatte es, während er schlief, auf molekularer Ebene einen chemischen Unfall gegeben – ein Tablett mit Flüssigkeiten, die verschüttet wurden und dopaminerge Rezeptoren veranlaßten, eine Kaskade erfreulicher intrazellulärer Ereignisse auszulösen, vielleicht aber lag es auch nur an der Aussicht auf den vor ihm liegenden Samstag oder an den paradoxen Folgen seiner extremen Müdigkeit. Jedenfalls hatte er die Woche ungewöhnlich erschöpft zu Ende gebracht, war in ein leeres Haus heimgekehrt, hatte sich mit einem Buch in die Wanne gelegt und es genossen, mit niemandem reden zu müssen. Seine belesene, allzu belesene Tochter Daisy hatte ihm Darwins Biographie geschickt, die [11] wiederum irgendwie mit einem Roman von Joseph Conrad in Zusammenhang stand, den sie ihm ans Herz gelegt und den er noch nicht einmal angefangen hat – Seefahrt, und war sie auch noch so moralisch befrachtet, interessierte ihn nicht sonderlich. Seit einigen Jahren schon nahm sich seine Tochter dessen an, was sie seine erstaunliche Ignoranz nannte, kümmerte sich um seine literarische Fortbildung und schimpfte über seine Unempfänglichkeit und seinen schlechten Geschmack. Sie hatte nicht mal so unrecht –, war er doch direkt von der Schule über das Medizinstudium ins Sklavendasein eines Assistenzarztes geraten, um gleich anschließend die Ausbildung zum Neurochirurgen zu beginnen, von der er ebenso in Atem gehalten wurde wie von der Vaterschaft – weshalb er seit fünfzehn Jahren kaum ein Buch angerührt hatte, in dem es nicht um Medizin ging. Allerdings hatte er dermaßen viel Tod, Furcht, Mut und Leid kennengelernt, daß es seiner Meinung nach für ein halbes Dutzend literarischer Werke reichen würde. Trotzdem hält er sich an ihre Leseliste – auf diese Weise bleibt er mit ihr in Verbindung, während sie sich in einem Pariser Vorort, von der Familie fort, zu unergründlicher Weiblichkeit entwickelt; heute abend kommt sie nach sechs Monaten zum ersten Mal wieder nach Hause – ein weiterer Anlaß zu Euphorie.

Er war mit Daisys Hausaufgaben im Rückstand. Während er gelegentlich mit einem Zeh die Zufuhr frischen, heißen Wassers kontrollierte, las er mit müden Augen einen Bericht über die Eile, mit der Darwin Die Entstehung der Arten zu Ende brachte, sowie eine Zusammenfassung der letzten, in späteren Ausgaben überarbeiteten Seiten. [12] Gleichzeitig hörte er im Radio die Nachrichten. Der wackere Hans Blix hatte sich erneut an die UNO gewandt, und man war allgemein der Auffassung, daß er der Begründung für einen Krieg so ziemlich den Boden entzogen hatte. Erst als Perowne begriff, daß er eigentlich nichts mitbekam, stellte er das Radio aus, blätterte zurück und begann von neuem zu lesen. Manchmal ließ ihn diese Biographie in nostalgischen Bildern von einem grünen, liebenswerten, in Pferdegespanne geschirrten England schwelgen, dann wieder deprimierte es ihn ein wenig, daß ein paar hundert Seiten ein ganzes Leben enthalten konnten – eingeweckt wie selbstgemachter Chutney. Wie leicht sich doch eine Existenz mit all ihren Sehnsüchten, dem Netz aus Freunden und Familie, den vielen geliebten, so selbstverständlich besessenen Dingen in Nichts auflösen konnte. Später streckte er sich lang auf dem Bett aus, um über das Abendessen nachzudenken – und dann erinnerte er sich an nichts mehr. Offenbar hatte Rosalind ihn zugedeckt, als sie von der Arbeit heimkam. Sicher hatte sie ihn auch geküßt. Achtundvierzig Jahre alt und an einem Freitag abend um halb zehn fest eingeschlafen – so sieht das moderne Berufsleben aus. Er arbeitete hart, alle um ihn herum arbeiteten hart, doch da unter dem Krankenhauspersonal die Grippe umging, war diese Woche noch anstrengender als sonst gewesen – auf seinem Operationsplan hatten die Namen von doppelt so vielen Patienten wie sonst gestanden.

Mit Tricks und Timing gelang es ihm, im ersten...