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Der letzte Weynfeldt

Martin Suter

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600483 , 320 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[5] 1

»Tu es nicht«, wollte er sagen, aber es ging nicht.

Adrian Weynfeldt hielt den Blick auf die weißen, sommersprossigen Fäuste der Frau gerichtet. Sie hatten das schmiedeeiserne Geländer so fest umklammert, dass die Knöchel noch weißer hervortraten. Er wagte nicht, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatte ihn als Zeugen ausgesucht. Er hoffte, ein Sprung ohne Blickkontakt wäre ihr zu unpersönlich.

Zwischen Balkonboden und Geländer guckten ihre nackten Füße herein. Jeder Zehennagel war in einer anderen Farbe lackiert. Das war ihm schon gestern Abend aufgefallen. Rot, gelb, grün, blau, violett der rechte. Der linke in der umgekehrten Reihenfolge. Violett, blau, grün, gelb, rot. So leuchteten die beiden mittleren Zehennägel in der gleichen Farbe: grün.

Bei den Fingernägeln hatte sie auf das Spiel verzichtet. Sie trugen einen transparenten Lack und waren dort, wo sie über das Nagelbett hinausragten, weiß hintermalt. Er konnte sie in diesem Moment zwar nicht sehen, aber er erinnerte sich. Weynfeldt war ein Augenmensch.

Das Weiß ihrer Knöchel verdunkelte sich ein wenig, was bedeutete, dass sie ihren Griff lockerte. »Das sind nur gut zehn Meter«, warf er rasch ein, »das überlebst du vielleicht. Stell dir lieber nicht vor, wie.«

[6] Die Knöchel wurden wieder weißer. Weynfeldt zog seinen linken Fuß auf die Höhe des rechten und schob diesen einen halben Schritt vor.

»Bleib, wo du bist!«, sagte die Frau.

Hieß sie Gabriela? Er konnte sich nicht erinnern, sein Namensgedächtnis taugte nichts. »Abgemacht: Ich bleibe, wo ich bin. Aber du auch.«

Sie gab keine Antwort, aber die Knöchel blieben weiß.

Hinter den Bürofenstern in der Neorenaissance-Fassade gegenüber brannte sonst fast den ganzen Tag über Licht. Aber heute waren sie dunkel. Es war Sonntag, noch früh am Vormittag. Die Straßen waren menschenleer, in großen Abständen fuhren Trams vorbei, und ganz selten war ein Auto zu hören. Weynfeldt schauderte bei der Vorstellung, die Szene könnte sich an einem Werktag abspielen. Die Frau trug einen schwarzen BH und ein dazu passendes knappes Höschen. So hoffte er jedenfalls – das grüne Segeltuch, das als Blickschutz vor dem Geländer hing, verdeckte sie von der Taille an abwärts. Und als er erwacht war, war sie schon dort draußen gestanden.

Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Kein Geräusch, eher das fremde Parfum. Er war eine Weile mit geschlossenen Augen dagelegen und hatte versucht, sich an ihren Namen zu erinnern. Ihr Gesicht hatte er vor sich.

Ein wenig hagerer vielleicht, ein wenig entschlossener, ein wenig illusionsloser. Aber die gleiche helle, sommersprossige Haut, die gleichen etwas schrägen grünen Augen, die gleichen roten Haare und vor allem: der gleiche Mund, dessen Oberlippe sich in ihrer Form kaum von der Unterlippe unterschied.

[7] Es war das Gesicht, das er seit so vielen Jahren zu vergessen und zu erinnern versuchte.

Adrian Weynfeldt hatte den Samstagabend wie immer zugebracht: im Kreise der älteren seiner Freunde. Er hatte zwei Freundeskreise, die keine Berührungspunkte besaßen: Der eine bestand aus Leuten, die fünfzehn oder noch mehr Jahre jünger waren als er. Bei ihnen galt er als das etwas exotische Original, dem man sich anvertrauen, das man aber auch ein wenig belächeln konnte, das diskret die Restaurantrechnungen beglich und auch ab und zu bei finanziellen Engpässen aushalf. Sie behandelten ihn mit betonter Nonchalance als einen der ihren und sonnten sich doch heimlich im Glanz seines alten Namens und Geldes. Mit ihnen besuchte er Clubs und Lounges, für die er sich allein zu alt gefühlt hätte.

Sein anderer Bekanntenkreis bestand aus Leuten, die noch seine Eltern gekannt hatten oder zumindest aus ihren Kreisen stammten. Sie waren alle über sechzig, einige älter als siebzig, und ein paar von ihnen hatten die achtzig überschritten. Und dennoch gehörten sie seiner Generation an. Ihre Eltern waren ungefähr im gleichen Alter wie die seinen gewesen, denn Adrian Weynfeldt war das späte Kind eines lange kinderlos gebliebenen Paares. Seine Mutter war vierundvierzig gewesen, als er zur Welt kam, und vor bald fünf Jahren, genau an seinem Fünfzigsten, mit fast fünfundneunzig gestorben.

Freunde in seinem eigenen Alter besaß Weynfeldt keine.

Den Samstagabend hatte er also im Kreise der betagteren Freunde zugebracht, in der Alten Färberei, dem gutbürgerlichen Restaurant eines Zunfthauses in der Altstadt, keine [8] zehn Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. Dr. Widler war da gewesen, der alte Hausarzt seiner Mutter, der in den letzten Monaten immer apathischer geworden, um ein paar Kleidergrößen geschrumpft war und in seinen Maßanzügen verlorenzugehen drohte. Umso lebhafter seine Frau, immer noch tadellos geschminkt, tadellos frisiert und tadellos gekleidet. Und noch immer machte sie sich einen Spaß daraus, ihre Porzellandamenhaftigkeit mit Kraftausdrücken und ordinären Äußerungen zu kontrastieren.

Remo Kalt war dazugestoßen, sein kürzlich verwitweter Vetter mütterlicherseits, Mitte siebzig, im schwarzen Dreiteiler mit goldener Uhrkette und kurz getrimmtem Thomas-Mann-Schnurrbart, als käme er direkt aus einer Porträtsitzung mit Ferdinand Hodler. Remo Kalt war Treuhänder, hatte das Vermögen von Weynfeldts Eltern verwaltet und tat das weiterhin für deren Sohn. Adrian hätte das auch selbst übernehmen können, aber er brachte es nicht übers Herz, Kalt sein letztes Mandat zu entziehen. Viel falsch machen konnte der nicht. Es handelte sich zwar nicht um ein riesiges Vermögen, aber um ein solides. Und es war konservativ und langfristig angelegt.

Sie hatten die Bernerplatte bestellt, die im Winter jeden Samstagabend auf der Karte stand. Dr. Widler hatte kaum etwas angerührt, seine während ihrer bald achtzig Jahre von gertenschlank über dünn nun mager gewordene Frau Mereth hatte sich von allem – Speck, Zunge, Saucisson, Geräuchertem – zweimal servieren lassen. Kalt hatte mitgehalten, und Weynfeldt hatte gegessen wie ein Mann, dem es noch nicht ganz egal war, wie er aussah.

Es war ein angestrengt lustiger Abend geworden. [9] Angestrengt, weil Mereth Widlers Provokationen schon etwas abgegriffen waren und weil auf der Tischrunde die Gewissheit lastete, dass es wohl eines der letzten Male sein würde, an denen ihr Mann mit am Tisch saß.

Widlers verabschiedeten sich früh, Weynfeldt trank mit Remo Kalt noch one for the road, und als ihnen kurz darauf der Gesprächsstoff ausging, bestellten sie ein Taxi für Kalt.

Weynfeldt wartete mit ihm vor dem Eingang. Es war ein frühlingshafter Abend, viel zu mild für Februar. Der Himmel war klar, und ein noch fast voller Mond schwebte hoch über den steilen Dächern der Altstadt. Die Gasse war menschenleer bis auf eine ältere Frau mit einem aufgeregten Spitz an der Leine. Sie beobachteten schweigend, wie sie sich hilflos von ihrem Hund spazieren führen ließ, stehenblieb, wo er schnüffeln, den Schritt beschleunigte, wo er vorbeigehen und die Route änderte, wo er die Gasse überqueren wollte.

Endlich krochen die Lichtkegel zweier Scheinwerfer hinter der Biegung hervor, gefolgt von einem Taxi, das langsam auf sie zufuhr und auf ihrer Höhe stehenblieb. Sie verabschiedeten sich mit einem formellen Händedruck, und Weynfeldt schaute dem Wagen nach, dessen Taxischild erloschen war und dessen Bremslichter vor der Einmündung in die Hauptstraße aufglühten.

Sein Heimweg führte ein Stück am Fluss entlang und am La Rivière vorbei, an welchem er um diese Zeit – es war erst kurz vor elf – nur schwer vorbeigehen konnte. Er betrat das Lokal, wie so oft an einem Samstagabend, den er in Gesellschaft seiner betagteren Freunde verbracht hatte.

Das La Rivière war noch vor zwei, drei Jahren eine etwas [10] angestaubte Konditorei gewesen. Dann wurde es von einem der vielen aufstrebenden Gastronomieunternehmen der Stadt übernommen, das daraus eine sehr amerikanische Cocktailbar machte. Man trank dort aus schlichten Gläsern Martinis, Manhattans, Daiquiries und Margaritas, die einem von zwei Barkeepern in eierschalenfarbenen Dinnerjackets gemixt wurden. An Samstagabenden spielte ein Trio gedämpft seine Smooth Jazz Classics.

Jetzt war das La Rivière noch halbleer, doch das würde sich in der nächsten Viertelstunde ändern, wenn die Kinos aus waren. Weynfeldt setzte sich an seinen Stammplatz an der Bar, den ersten Hocker an der Wand. Von dort aus konnte er das Geschehen überblicken und musste sich nie mit mehr als einem Sitznachbarn abgeben. Der Barman kannte ihn und brachte ihm seinen Martini, von dem er nur die Olive essen würde. Weynfeldt war ein mäßiger Trinker.

Er neigte auch sonst nicht zu Ausschweifungen. Wenn er auf dem Nachhauseweg noch in einer Bar hereinschaute, tat er das nicht wie andere Junggesellen auf der Suche nach einem bisschen Gesellschaft, Wärme, Sex. Er litt nicht unter Einsamkeit. Im Gegenteil: Er genoss es, allein zu sein. Wenn er dennoch immer wieder Gesellschaft suchte, tat er das mehr, um seiner Neigung zum Einzelgängertum entgegenzuwirken.

Was sein Bedürfnis nach Sex betraf: Es spielte seit einer Episode – besser gesagt: seit einem Schicksalsschlag – in seinem früheren Leben eine immer nebensächlichere Rolle.

Deswegen war der weitere Verlauf des Abends alles andere als typisch für Adrian Weynfeldt.

Kaum hatte ihm der Barman den Martini gebracht, betrat [11] eine Frau das La Rivière, steuerte auf die Bar zu, legte Mantel und Handtasche auf den Hocker neben Weynfeldt, setzte sich...