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Mitgenommen

Arnon Grünberg

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601473 , 752 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[9] 1

Der Mörder von Lina Siñani Huancas Eltern konnte selbst keine Kinder zeugen, darum beschloss er, Lina Siñani Huanca zu adoptieren. Er brauchte nicht lange darüber nachzudenken, das Kind stand da im Halbdunkel und sah ihn an, als hätte es unwillkürlich erraten, dass er der Leiter dieser Operation war, als wisse es, dass die Entscheidung, was jetzt zu geschehen hatte, allein von ihm abhing. Noch bevor er irgendetwas gesagt hatte, musste die Kleine begriffen haben, dass ihrer beider Schicksal von heute an eines war. Auf immer miteinander verbunden, eine Verbindung, stärker als jede Blutsverwandtschaft.

Sie stand neben einem Holztisch mit den Resten der letzten Mahlzeit. Schmutzige Teller, Besteck, Kerzen, eine Zeitung und eine tiefe Pfanne. Die angebrannten Reste eines Eintopfs? Reis mit etwas Fleisch?

Er war aus dem Schlafzimmer heruntergekommen, um einem Geräusch nachzugehen – eine überflüssige Frage im Grunde, was konnte so ein Geräusch schon bedeuten? –, und hatte ihre Anwesenheit physisch gespürt. Obwohl sie noch einige Meter von ihm entfernt stand, nahm er sie körperlich wahr. Noch bevor er sie gesehen hatte, bevor das Licht der Taschenlampe auf ihr Gesicht fiel, fühlte er sich von ihr abgetastet wie von einer Blinden.

Er hatte seine Karriere als Späher begonnen. Er roch den [10] anderen, bevor er ihn sah. Und obwohl er diese Fähigkeit verloren geglaubt hatte – sie hatte ihn verlassen wie eine Geliebte –, war sie heute Nacht mit einem Mal wieder da. Stärker als jemals zuvor. Die alte Gewissheit, dass allein absolute Konzentration, mit der man seine Umgebung belauerte, das eigene Überleben sicherte.

Er richtete den Lichtkegel auf sie, sah ihre Zöpfe, nicht lange, doch lange genug, um zu wissen, dass er mehr Licht brauchte.

Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Hinter ihr eine Tür, die wohl in ihr Zimmer führte. Er hielt den Blick auf sie gerichtet, während seine Männer im Obergeschoss schweigend umherliefen und er die Taschenlampe auf den Boden richtete, um die Kleine nicht zu blenden. Für einen Augenblick hatte er sich gefragt, ob sie wusste, was im Schlafzimmer ihrer Eltern geschehen war, doch dann hatte er wieder fasziniert auf ihre Zöpfe gestarrt, die längsten, die er jemals gesehen hatte.

Seine Männer durchkämmten das Haus, suchten Beweismaterial, alles, was irgendwie als »belastend« eingestuft werden konnte, obwohl sich das eigentlich erübrigt hatte. Es war eine Formalität, doch gerade darum so wichtig. Formalitäten trennten den Menschen vom Chaos. Immer wieder schärfte er seinen Männern ein, dass eine Hausdurchsuchung kein Grund zum Vandalismus sei. Es ging nicht darum, so viel wie möglich zu verwüsten oder mitgehen zu lassen, es ging um belastendes Material. Manchmal waren seine Männer in einem Rausch. Kein Rausch von Alkohol oder Drogen, sondern berauscht vom Leben im ursprünglichsten Sinn: dem Rausch der Vernichtung.

[11] Das Mädchen hielt sich mit der linken Hand an einem Tischbein fest. Sie trug einen gelben Pyjama. Ihre Zöpfe waren lang und prächtig, und ihr Haar war so schwarz, dass es fast blau wirkte. Er versuchte vergeblich, ihr Alter zu schätzen. Neffen oder Nichten hatte er nicht, und seine wenigen Bekannten traf er stets ohne Kinder. Wie sollte er da das Alter eines Kindes einschätzen lernen? Er konnte andere Dinge.

Sein Vater war anglophil, ohne jemals in England gewesen zu sein. Mühsam ergatterte er ab und zu ein paar scones und etwas, das entfernt clotted cream ähnelte, und zu Weihnachten musste seine Frau sich mit einem christmas pudding abplagen. Der Vater des Majors sprach nur mäßiges Englisch, trotzdem war diese Sprache seiner felsenfesten Überzeugung nach die Sprache der Kultur schlechthin. Übermäßig gesprächig war er nie gewesen, und doch konnte er aus heiterem Himmel ein lautes »Indeed« von sich geben. Der Sohn durfte daher auch nicht Antonio heißen – wie der Vater des Vaters –, sondern musste als Anthony durchs Leben gehen.

In der Schule war er der einzige Anthony gewesen, genauso bei der Armee. Er hatte sich damit abgefunden. Höchstens hatte er sich vorgenommen, dass seine eigenen Kinder, wenn er je welche hätte, gewöhnliche Namen bekämen, solche, die man überall aussprechen konnte.

Der Major wischte sich den Schweiß von der Stirn, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. Nur ein einziges Wort kam ihm in den Sinn: »Indeed.« Er stand mit dem Rücken zur Wand und horchte auf die Schritte seiner Männer. Wie oft hatte er ihnen eingebleut: »Unsere Aufgabe erfordert Diskretion.«

[12] Er war in dieser Provinzstadt geboren worden und zur Armee gegangen, um etwas von der Welt zu sehen, etwas zu lernen, ohne dazu ein Stipendium zu benötigen oder reiche Eltern. Er wollte weg aus der Provinz, die er schon hasste, als er noch jung war, und die er immer noch hasste. Der Hass war im Laufe der Zeit nicht kleiner geworden, nur stiller. Er hatte etwas Vertrautes bekommen. Man lernte, mit ihm zu leben. Er jedenfalls hatte es gelernt. Die Männer seiner zwei älteren Schwestern hatten zwar studiert, doch einer von ihnen war arbeitslos, und der andere verdiente kaum seine Miete. Nein, er hatte sich die Universität rechtzeitig aus dem Kopf geschlagen, noch bevor er einen Fuß über ihre Schwelle gesetzt hatte, und es nie bereut. Die Armee war vielleicht nicht das, was er sich ursprünglich von ihr erträumt hatte, man hatte ihm andere Dinge versprochen, ein anderes Leben, damals in der Ausbildung, aber immer noch besser, als an einer Dorfschule als Lehrer dahinzuvegetieren. Er hatte ein ordentliches Einkommen und hatte Karriere gemacht. Selbst die Männer, die ihn ständig verhöhnten und nicht einmal damit aufhörten, wenn er in Hörweite war, mussten das zugeben, sonst hätten sie gar keinen Grund, so beleidigend über ihn zu reden.

Die Armee hatte ihm einen Ausweg geboten. Er hatte die Möglichkeit mit beiden Händen ergriffen, auch wenn die anfängliche Hoffnung sich später zerschlagen sollte. »Intelligent, aber nicht brillant«, hatte der Pater, der Anthony auf der Schule in Mathematik unterrichtete, ihm ins Zeugnis geschrieben. Diese Beschreibung stimmte noch immer, musste er zugeben, obwohl er inzwischen hinzufügen konnte: »Zeigt hohen Einsatz und viel Disziplin, verbunden mit [13] besonderer Teamfähigkeit.« Letzteres bedeutete für ihn, dass er mehr als andere Offiziere bereit war, persönliche Animositäten ruhen zu lassen. Eine Armee, in der jeder sein eigenes Süppchen kochte, war zum Tode verurteilt. Ein Soldat diente einem höheren Ziel. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er die Gabe unfehlbarer Sinneswahrnehmung gehabt, die Gabe, den anderen zu riechen, lange bevor der ihn sah. Das hatten die anderen anzuerkennen, daran hielt er sich fest.

Er beleuchtete einen Schrank in der Zimmerecke und sah Porzellanteller, Fotos, ein kleines gerahmtes Landschaftsgemälde. Dann richtete er seine Taschenlampe nach unten, Licht fiel auf seine Stiefel. Schmutzige Stiefel, fiel ihm auf, Stiefel, die dringend geputzt werden mussten. Doch alles war voller Schlamm, voller Dreck, vor allem in Vierteln wie diesem, besonders zur Regenzeit.

Der Major hustete. Langsam sah er auf, während er die Taschenlampe noch einen Moment auf den Boden gerichtet hielt. Vorsichtig schwenkte er den Strahl, das Licht traf nun den Oberkörper des Mädchens, den gelben Pyjama. Er sah dem Kind, für das er ab jetzt die Verantwortung trug, in die Augen. »Ich bin Major Anthony«, sagte er. »Ich leite diese Operation. Und wie heißt du?«

Sie bewegte sich nicht. Ihre Zöpfe hingen reglos an ihrem Körper herunter, ihre herrlichen Zöpfe.

Er redete nicht gern, und wenn er redete – vor allem mit Fremden –, klang es gezwungen. Die Armee war kein Diskussionsclub. Seiner Meinung nach wurde in der Armee sowieso schon zu viel geredet, zu viel über andere getratscht. Reden war ein Symptom der Zersetzung.

Die Kleine sah zu ihm auf. Sie starrte ihn an, ihr Gesicht [14] verriet nicht die geringste Regung, als sei sie bei lebendigem Leibe mumifiziert.

Vor circa neun Stunden hatte er zu hören bekommen, dass er den Einsatz persönlich leiten solle. In einem Nebensatz hatte man es ihm mitgeteilt und ihm dann ein Papier mit den wichtigsten Informationen in die Hand gedrückt. Bei den Wörtern »Einsatz« und »leiten« musste er jedes Mal wieder lächeln – eigentlich war er ja nicht zur Armee gegangen, um Polizist zu spielen.

Ein junger Korporal, den er noch nicht kannte, war ihm zugeteilt worden. Ein feucht glänzendes Gesicht auf einem langen mageren Körper.

»Woher kommst du?«, hatte der Major gefragt, bevor sie in den Jeep stiegen.

»Aus den Bergen«, antwortete der Korporal.

»Aus den Bergen«, wiederholte der Major. »Aha.«

Um halb zwei in der Nacht hatten sie die Kaserne verlassen, Major Anthony, der Korporal und zwei Soldaten, mit denen er schon früher zusammengearbeitet hatte. Sein Bataillon hatte die Aufgabe, verdächtige Individuen festzunehmen. Dass er als Major immer noch selbst auf Einsatz geschickt wurde, hatte vermutlich damit zu tun, dass er nicht besonders beliebt war. Nicht, dass er verhasst gewesen wäre wie gewisse andere Offiziere, die langsam von ihren Untergebenen fertiggemacht wurden. Major Anthony hatte diese Offiziere gekannt, war dabei gewesen, wie sie, um ihre Ehre zu retten, nach Abschluss einer Übung den Abzug gedrückt hatten.

Bei manchen war der Major sogar beliebt – das war [15] zumindest sein Eindruck –, nur...