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Das Hotel New Hampshire

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600216 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

[9] 1.

Der Bär namens State o’ Maine

In jenem Sommer, als mein Vater den Bären kaufte, war noch keiner von uns auf der Welt – wir waren noch nicht mal gezeugt: weder Frank, der älteste, noch Franny, die lauteste, noch ich, der nächste, noch die jüngsten von uns, Lilly und Egg. Mein Vater und meine Mutter kannten sich von klein auf und waren praktisch miteinander groß geworden, doch ihre »eheliche Vereinigung«, wie Frank das immer nannte, hatte damals, als Vater den Bären kaufte, noch nicht stattgefunden.

»Ihre ›eheliche Vereinigung‹, Frank?« triezte ihn Franny gern; Frank war zwar der Älteste, aber mir kam er jünger vor als Franny, und sie behandelte ihn immer wie ein kleines Kind. »Du meinst doch Frank«, sagte Franny, »daß sie noch nicht angefangen hatten mit vögeln.«

»Sie hatten ihr Verhältnis noch nicht vollzogen«, sagte Lilly einmal; obwohl sie, abgesehen von Egg, jünger war als wir anderen, spielte sich Lilly immer als die große Schwester von allen auf – sehr zum Ärger Frannys.

»›Vollzogen‹?« sagte Franny. Ich weiß nicht mehr, wie alt Franny damals war, aber Egg war für solche Sprüche bestimmt noch zu jung: »Den Sex haben Vater und Mutter doch erst entdeckt, nachdem der alte Herr diesen Bären gekauft hatte«, sagte Franny. »Der Bär brachte sie auf die Idee – ein richtig ordinärer, geiler Bock, der dauernd Bäume besprang und an sich selber rumfummelte und versuchte, Hunde zu vergewaltigen.«

»Er hat hin und wieder einen Hund rauh angefaßt«, sagte Frank angewidert. »Er hat nie Hunde vergewaltigt.«

»Er hat es versucht«, sagte Franny. »Du kennst doch die Geschichte.«

[10] »Vaters Geschichte«, sagte daraufhin Lilly, die auf etwas andere Art angewidert war als Frank; es war Franny, die Frank anwiderte, doch Lilly fand Vater widerlich.

Und so liegt es nun an mir, dem mittleren und am wenigsten voreingenommenen von uns Kindern, die Tatsachen ins rechte – oder fast rechte – Licht zu rücken. Wir waren eine Familie, deren Lieblingsgeschichte die Romanze zwischen meiner Mutter und meinem Vater war: wie Vater den Bären kaufte, wie Mutter und Vater sich verliebten und in rascher Folge Frank, Franny und mich zeugten (»Peng, Peng, Peng!« sagt Franny gern), und wie sie dann, nach einer kurzen Verschnaufpause, noch Lilly und Egg (»Blup und Pfft«, sagt Franny) in die Welt setzten. Die Geschichte, die wir als Kinder zu hören bekamen und die wir uns in den Jahren danach immer wieder von neuem erzählten, scheint sich auf die Jahre zu konzentrieren, von denen wir selber nichts wissen konnten und die wir heute nur so sehen können, wie unsere Eltern sie in ihren vielen Versionen schilderten. Ich glaube, ich sehe meine Eltern klarer in diesen früheren Jahren als in den Jahren, an die ich mich tatsächlich erinnern kann, denn natürlich sind die Zeiten, die ich selbst erlebte, dadurch gefärbt, daß es Auf-und-Ab-Zeiten waren, über die ich Auf-und-Ab-Meinungen habe. Wenn ich aber an den berühmten Sommer des Bären und an den Zauber der ersten Liebe meiner Mutter und meines Vaters denke, dann kann ich mir da einen eindeutigeren Standpunkt erlauben.

Wenn sich Vater beim Erzählen der Geschichte verhaspelte – sei es, daß er einer früheren Version widersprach, sei es, daß er unsere Lieblingsstellen ausließ –, zeterten wir wie wütende Vögel.

»Entweder lügst du jetzt, oder du hast beim letzten Mal gelogen«, warf Franny (immer die strengste von uns) ihm vor, doch Vater schüttelte nur unschuldig den Kopf.

»Versteht ihr denn nicht?« fragte er uns dann. »In eurer Vorstellung ist die Geschichte lebendiger als in meiner Erinnerung.«

[11] »Lauf, hol Mutter«, wies Franny mich dann an und schubste mich von der Couch. Oder Frank hob Lilly von seinem Schoß und flüsterte ihr ins Ohr: »Lauf, hol Mutter.« Und dann mußte unsere Mutter als Zeugin auftreten, weil wir Vater der Fälschung verdächtigten.

»Oder aber, du läßt all die saftigen Stellen absichtlich weg«, beschuldigte ihn Franny, »nur weil du meinst, Lilly und Egg seien noch zu jung für die ganzen Rumvögeleien.«

»Es gab keine Rumvögeleien«, schaltete Mutter sich ein. »Es gab nicht die sexuellen Freiheiten und das Durcheinander von heute. Wenn ein Mädchen die Nacht oder das Wochenende mit einem Mann verbrachte, hielten sogar Gleichaltrige sie für ein Flittchen oder was Schlimmeres; danach war sie für uns so gut wie gestorben. ›Die Sorte hält sich an ihresgleichen‹, sagten wir immer, oder: ›Schlecht und schlecht gesellt sich gern.‹« Und Franny, ob acht oder zehn oder fünfzehn oder fünfundzwanzig, verdrehte dann immer die Augen und stieß mir den Ellbogen in die Rippen oder kitzelte mich, und wenn ich zurückkitzelte, brüllte sie: »Perverser Kerl! Befingert die eigene Schwester!« Und ob Frank nun neun oder elf oder einundzwanzig oder einundvierzig war, sexuelle Themen und Zurschaustellungen wie die von Franny waren ihm schon immer verhaßt, und so sagte er rasch zu Vater: »Laß nur. Wie war denn das mit dem Motorrad?«

»Nein, erzähl weiter vom Sex«, sagte dann Lilly völlig humorlos zu Mutter, und Franny fuhr mir mit der Zunge ins Ohr oder machte mit den Lippen ein furzendes Geräusch an meinem Hals.

»Jedenfalls«, sagte Mutter, »redeten wir in gemischter Gesellschaft nicht offen über Sex. Es wurde geschmust und geknutscht, mehr oder weniger heftig; das geschah gewöhnlich in einem Auto. Es gab immer stille Gegenden, wo man parken konnte. Natürlich mehr Feldwege als heute, nicht so viele Menschen und nicht so viele Autos – und die Autos, das waren damals keine Kleinwagen.«

»So daß ihr euch schön langlegen konntet«, sagte Franny.

[12] Mutter warf Franny einen mißbilligenden Blick zu und fuhr mit ihrer Darstellung der Vergangenheit fort. Sie war eine wahrheitsliebende, aber langweilige Geschichtenerzählerin – mit meinem Vater gar nicht zu vergleichen –, und immer wenn wir sie beizogen, um den Wahrheitsgehalt einer Geschichte festzustellen, bereuten wir das hinterher.

»Lieber soll der alte Herr immer weitererzählen«, meinte Franny, »Mutter nimmt alles so ernst.« Frank blickte finster drein, und Franny forderte ihn auf: »Spiel doch ein bißchen mit deinem Ding, Frank, dann fühlst du dich wohler.«

Aber Frank blickte nur noch finsterer drein. Dann sagte er: »Du würdest eine bessere Antwort bekommen, wenn du Vater erst mal nach dem Motorrad oder nach etwas Konkretem fragen würdest; stattdessen kommst du mit diesen allgemeinen Dingen, Kleidern, Bräuchen, sexuellen Gewohnheiten.«

»Frank, erklär doch mal, was Sex ist«, sagte Franny, doch Vater rettete uns alle, indem er mit seiner verträumten Stimme sagte: »Glaubt mir, sowas wär heute nicht mehr möglich. Ihr denkt vielleicht, ihr habt mehr Freiheit, aber ihr habt auch mehr Gesetze. Der Bär wäre heute nicht mehr möglich. Sie würden ihn gar nicht zulassen.« Und in dem Augenblick verstummten wir, unsere ganzen Streitereien waren schlagartig vergessen. Wenn Vater redete, konnten sogar Frank und Franny in Reichweite voneinander sitzen, ohne sich zu zanken. Ich konnte dann so dicht neben Franny sitzen, daß ich sogar ihr Haar in meinem Gesicht und ihr Bein an meinem Bein spürte, doch wenn Vater redete, dachte ich überhaupt nicht an Franny. Lilly saß dann totenstill (wie das nur Lilly konnte) auf Franks Schoß. Egg war gewöhnlich zu jung, um zuzuhören oder gar etwas zu begreifen, aber er war ein ruhiges Kind. Selbst wenn Franny ihn auf den Schoß nahm, war er still; bei mir auf dem Schoß schlief er immer ein.

»Er war ein Schwarzbär«, sagte Vater; »er wog dreieinhalb Zentner und war ein bißchen widerspenstig.«

»Ursus americanus«, murmelte Frank. »Und er war unberechenbar.«

[13] »Ja«, sagte Vater, »aber doch ganz gutmütig, die meiste Zeit jedenfalls.«

»Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Franny andächtig.

Das war der Satz, mit dem Vater gewöhnlich anfing – mit dem er auch damals anfing, als ich, soweit ich mich erinnern kann, die Geschichte erstmals zu hören bekam. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein.« Ich saß bei dieser Fassung auf dem Schoß meiner Mutter, und ich kann mich erinnern, daß ich das Gefühl hatte, auf immer an die Zeit und den Ort gefesselt zu sein: Mutters Schoß, Franny auf Vaters Schoß neben mir, Frank aufrecht und abseits – im Schneidersitz auf dem abgewetzten Perserteppich, daneben unser erster Familienhund, Kummer (der eines Tages eingeschläfert werden sollte wegen seiner schrecklichen Furzerei). »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, fing Vater an. Ich sah Kummer an, unseren vertrottelten und treuen Labrador, und er wuchs vor meinen Augen bis zur Größe eines Bären und wurde dann alt und sackte neben Frank in stinkender Verfilztheit zusammen, bis er wieder bloß ein Hund war (auch wenn Kummer nie »bloß ein Hund« war).

Ich kann mich bei diesem ersten Mal nicht an Lilly oder Egg erinnern – sie müssen noch so klein gewesen sein, daß sie nicht wahrnehmbar waren, jedenfalls nicht bewußt. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Vater. »Er ging auf seinen letzten Füßen.«

»Doch es waren die einzigen Füße, die er hatte!« sangen wir dann im Chor – Frank, Franny und ich –, das war unser einstudierter Anteil am Ritual. Und später, als sie die Geschichte draufhatten, stimmten auch Lilly und schließlich sogar Egg mit ein.

»Der Bär hatte keine Freude mehr an seiner Rolle als Entertainer«, sagte Vater....