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Winterträume

F. Scott Fitzgerald

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601404 , 976 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[9] Kopf und Schultern

I

1915 war Horace Tarbox dreizehn Jahre alt. In jenem Jahr legte er an der Universität Princeton die Eingangsexamina ab und erhielt in Cäsar, Cicero, Vergil, Xenophon, Homer, Algebra, Planimetrie, Stereometrie und Chemie jeweils die Note »Ausgezeichnet«.

Zwei Jahre später, George M. Cohan schrieb damals gerade seinen berühmten Song Over There, kam Horace – mittlerweile im zweiten Semester und seinen gleichaltrigen Kommilitonen bereits um Längen voraus – mit seinen Thesen über den Syllogismus als obsolete Form der Scholastik zu Potte, und während der Schlacht von Château-Thierry saß er an seinem Schreibtisch und überlegte sich, ob er wirklich noch bis zu seinem siebzehnten Geburtstag warten sollte, bevor er sich an die Niederschrift seiner Essayreihe über Die Tendenz der Neurealisten zum Pragmatismus machte.

Kurz darauf erzählte ihm ein Zeitungsjunge, dass der Krieg vorbei war, und das freute ihn, denn es bedeutete, dass der Verlag Peat Brothers nun endlich die neue Auflage von Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes herausbringen würde. Auf eine Art war ja der [10] Krieg in Ordnung, weil er den jungen Männern irgendwie zu mehr Selbstvertrauen verhalf, aber andererseits konnte Horace es dem Präsidenten einfach nicht verzeihen, dass er dieser Blaskapelle die Erlaubnis erteilt hatte, in der Nacht des falschen Waffenstillstands direkt unter seinem Fenster zu spielen, wodurch er drei wichtige Sätze aus seinem Aufsatz Über den deutschen Idealismus weglassen musste.

Im Jahr darauf ging er nach Yale, um seinen Magister zu machen.

Da war er siebzehn, groß und schlank, hatte kurzsichtige graue Augen und legte ein Gebaren an den Tag, als distanzierte er sich ganz entschieden und persönlich von den Wörtern, die er von sich gab und die eben bloß Wörter waren.

»Es kommt mir immer so vor, als würde ich mich gar nicht richtig mit ihm unterhalten«, beschwerte sich Professor Dillinger bei einem mitfühlenden Kollegen. »Ich hab jedes Mal das Gefühl, dass ich mit seinem Stellvertreter rede. Stets rechne ich damit, dass er mir sagt: ›Na schön, ich frag mal bei mir selber nach, dann sehen wir weiter.‹«

Und eines Tages, gerade so, als wäre Horace Tarbox Mr. Beef, der Metzger, oder Mr. Hat, der Herrenausstatter, mischte sich völlig unbeschwert das Leben ein, schnappte ihn, nahm ihn sich vor, zog ihn in die Länge und dröselte ihn auseinander wie ein Stück irische Spitze auf einem Samstagnachmittagswühltisch.

Und wenn ich das jetzt einmal literarisch ausdrücken wollte, dann müsste ich besser sagen: Alles kam bloß daher, dass damals, zur Kolonialzeit, als die verwegenen Siedler an eine kahle Stelle in Connecticut kamen und sich [11] gegenseitig fragten: »Na, was erbauen wir denn hier nun Schönes?«, der Verwegenste unter ihnen erwidert hatte: »Lasst uns eine Stadt erbauen, in der Theaterimpresarios Probeaufführungen von musikalischen Komödien machen können!« Dass sie dann später das Yale College gegründet haben, um dort die Probeaufführungen ihrer musikalischen Komödien zu machen, ist ja eine allgemein bekannte Geschichte. Also jedenfalls, im Dezember hatte Home James! seine Premiere im Shubert, und die Studenten im Saal brachten Marcia Meadow, die im ersten Akt ihren Song The Blundering Blimp gesungen und im letzten einen unglaublich wippeligen, hippeligen Shimmy aufs Parkett gelegt hatte, Ovationen dar und wollten sie gar nicht mehr von der Bühne lassen.

Marcia war neunzehn. Flügel hatte sie keine, doch das Publikum war sich weitgehend einig, dass sie auch keine brauchte. Sie war naturblond auf die Welt gekommen und ging am hellerlichten Mittag ohne Schminke auf die Straße. Ansonsten war sie auch nicht besser als die meisten Frauen.

Charlie Moon kam auf die Idee, ihr fünftausend Pall Mall zu versprechen, wenn sie dem außerordentlichen Wunderkind Horace Tarbox einen Besuch abstattete. Charlie studierte im letzten Semester am Sheffield, und er und Horace waren Vettern ersten Grades. Die beiden verband so eine Art Hassliebe.

Horace war an jenem Abend ganz besonders beschäftigt. Er zermarterte sich den Kopf darüber, warum der Franzose Laurier die Bedeutung der Neurealisten falsch eingeschätzt hatte. Folgerichtig fühlte er sich durch das leise, aber dennoch unüberhörbare Klopfen an der Tür [12] seines Studierzimmers lediglich dazu veranlasst, Spekulationen darüber anzustellen, ob so ein Klopfen denn tatsächlich existiere, wenn kein Ohr vorhanden sei, es zu hören. Er bildete sich schon ein, immer tiefer in den Pragmatismus abzugleiten. In Wahrheit aber bewegte er sich, ohne es zu ahnen, in atemberaubendem Tempo auf etwas völlig anderes zu.

Das Klopfen erklang – drei Sekunden verrannen – das Klopfen erklang.

»Herein«, murmelte Horace automatisch.

Er hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss, saß über sein Buch gebeugt in dem großen Sessel am Kamin und blickte nicht auf.

»Legen Sie’s nebenan aufs Bett«, sagte er zerstreut.

»Was soll ich nebenan aufs Bett legen?«

Bei ihren Songs musste Marcia Meadow mehr reden als singen, ihre Sprechstimme aber war wie eine Begleitmusik aus Harfenklängen.

»Die Wäsche.«

»Kann ich nich.«

Horace zuckte ungeduldig in seinem Sessel.

»Wieso können Sie nicht?«

»Na weil, ich habse nich.«

»Hm!«, erwiderte er unwirsch. »Ja dann werden Sie vermutlich noch einmal zurückgehen müssen und sie holen.«

Vor dem Kamin stand noch ein zweiter Lehnstuhl. Horace hatte die Angewohnheit, sich während des Abends mal in den einen, mal in den anderen zu setzen, teils um sich etwas Bewegung zu verschaffen, teils auch einfach der Abwechslung halber. Den einen nannte er Berkeley, den [13] anderen Hume. Auf einmal hörte er, wie eine raschelnde, schimmernde Gestalt auf Hume sich niederließ. Er blickte auf.

»So«, sagte Marcia mit diesem süßen Lächeln aus dem zweiten Akt (»Oh, dann hat mein Tanz dem Duc also gefallen!«), »so, Omar Chaijam, da bin ich nu und sitze vis-à-vis von Sie und singe in der Wildnis.«

Horace starrte sie verdutzt an. Sekundenschnell durchfuhr ihn der Verdacht, dass sie nur als Phantom existiere, als Ausgeburt seiner Phantasie. Schließlich kamen doch Frauen nicht einfach in die Zimmer von Männern und ließen sich auf einem männlichen Hume nieder. Frauen brachten die Wäsche und nahmen einem den Sitzplatz in der Straßenbahn weg, und später, wenn man alt genug war, um zu lernen, was Fesseln sind, dann heirateten sie einen.

Diese Frau hier hatte sich eindeutig aus Hume heraus vergegenständlicht. Selbst der braune Firlefanz, den sie an ihrem gardinendünnen braunen Kleid hatte, war eine Emanation von Humes ledernem Arm da drüben! Er musste nur lange genug hinschauen, schon würde er durch sie hindurch geradewegs seinen Hume erblicken und wäre wieder allein in seinem Zimmer. Er fuhr sich mit der Faust über die Augen. Es wurde wirklich Zeit, dass er seine Übungen am Trapez wieder aufnahm.

»Großer Gott, nu kucken Sie mich doch nich so tadelnd an!«, bemerkte die Emanation freundlich. »Ich hab ja schon bald das Gefühl, Sie wolln mich wegzaubern, Sie Superschlaukopf, Sie. Und dann wär nix mehr von mir übrig wie bloß in Ihre Augen noch mein Schatten.«

Horace hustete. Husten war die eine der insgesamt zwei [14] körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm zu Gebote standen. Wenn er sprach, vergaß man geradezu, dass er überhaupt einen Körper hatte. Es war, als hörte man sich eine Grammophonaufnahme eines längst verstorbenen Sängers an.

»Was wollen Sie?«, fragte er.

»Ich will die Briefe«, jammerte Marcia melodramatisch, »die Briefe, wo Sie 1881 von mein Großvater gekauft ham.«

Horace überlegte.

»Ich habe Ihre Briefe nicht«, sagte er dann in ruhigem Ton. »Ich bin erst siebzehn Jahre alt. Mein Vater wurde erst am 3. März 1879 geboren. Sie scheinen mich mit jemand zu verwechseln.«

»Sie sind erst siebzehn?«, wiederholte Marcia misstrauisch.

»Erst siebzehn.«

»Ich kannte mal eine«, sagte Marcia versonnen, »die war erst sechzehn und war schon bei so ’m Tingeltangeltheater. Na, die war vielleicht verliebt in sich selber, die musste immer, wenn sie ›sechzehn‹ sagen wollte, ’n ›erst‹ vorneweg sagen. Wir ham sie schließlich ›Erst-Jenny‹ genannt. Und die ist heute noch genau da, wo sie angefangen hat – bloß schlimmer. ›Erst‹ ist ’ne schlechte Angewohnheit, Omar – klingt irgendwie nach Alibi.«

»Ich heiße nicht Omar.«

»Weiß ich doch«, gab Marcia ihm kopfnickend recht. »Sie heißen Horace. Ich sag ja auch bloß Omar zu Ihnen, weil Sie mich an ’ne gerauchte Zigarette erinnern.«

»Und Ihre Briefe, die habe ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihrem Großvater jemals begegnet sein [15] soll. Ich halte es, offen gestanden, für sehr unwahrscheinlich, dass Sie 1881 bereits gelebt haben.«

Marcia starrte ihn verwundert an.

»Ich – 1881? Na, und ob! Ich bin schon in der zweiten Reihe rumgehopst, wie das Florodora-Sextett noch auf der Klosterschule war. Ich war Julias Amme in der Erstaufführung von Mr. Sol Smith. Doch, doch, Omar, und im Krieg von 1812 war ich Kantinensängerin.«

Horace’ Geist vollführte einen ebenso jähen wie erfolgreichen Sprung; er grinste.

»Hat Ihnen...