dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Bis zur Neige - Ein Fall für Berlin und Wien

Claus-Ulrich Bielefeld, Petra Hartlieb

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601770 , 480 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[12] 2

Auf der Autobahn verspürte Anna dieses Hochgefühl, das sie immer dann befiel, wenn sie mehr als vierundzwanzig Stunden am Stück freihatte. Ihr siebzehnjähriger Sohn saß neben ihr, und da sie sich nicht auf eine CD einigen konnten, hörten sie FM4 – ein Kompromiss. Eigentlich wollte Anna nichts als Ruhe und versuchte, das Hämmern der Musik auszublenden. Nur keinen Konflikt, dachte sie. Selten genug, dass Florian freiwillig mit ihr das Wochenende verbrachte.

Es war noch nicht lange her, da konnte er nicht genug kriegen vom Leben auf dem Land, von Ausflügen mit dem Mountainbike, unzähligen Tischtennismatches, und wenn Anna zusammenzuzählen versuchte, wie oft sie gemeinsam den kleinen Bach aufgestaut hatten, sah sie einen riesigen Stausee vor ihrem geistigen Auge. Dann kam bald die Ich-igle-mich-lieber-in-meinem-Zimmer-ein-Phase, und seit er samstagabends ausging, war er vielleicht noch zweimal mitgefahren.

Als sie den Knoten Stockerau mit dem ländlichen Einkaufsparadies hinter sich gelassen hatte, sah sie die flirrende Hitze über der Ebene. Florian setzte seine lächerliche verspiegelte Pilotenbrille auf.

»Was essen wir?«

[13] »Was willst du essen?«

»Grillen?«

»Wenn du den Grillmeister machst?«

»Verstehe. Grillen ist Männersache.«

»Ja. Genauso wie Rasenmähen und Heckenschneiden.«

»Verschone mich. Ich hab ganz viel zum Lesen mit. Keine Gartenarbeit.«

»Schon gut, ich mach’s ja gerne.«

Das kleine Haus im Weinviertel war gut in Schuss. Seit Anna es vor über zehn Jahren von ihrer Großtante überraschend geerbt hatte, versuchte sie, alle notwendigen Reparaturen immer sofort erledigen zu lassen. Und auch wenn sie es nicht sehr oft nach Salchenberg schaffte, hätte sie das Häuschen nie verkaufen wollen. Manchmal reichte ihr alleine das Gefühl, einen Ort zu haben, an den sie jederzeit fahren konnte, wenn ihr alles zu viel wurde.

Ihr Job als Chefinspektorin der Wiener Mordkommission erlaubte ihr nicht oft, am Freitagmittag das Wochenende einzuläuten, doch die Stadt war durch die Julihitze wie gelähmt: Die ganze Woche kein Einsatz, der Schreibtisch war aufgeräumt, alle Fallberichte abgelegt. Und ihr Kollege Robert Kolonja übernahm den Bereitschaftsdienst.

Sie hielten noch am großen Supermarkt an der Bundesstraße, denn in Salchenberg gab es außer drei Heurigen und einem Gasthaus keinerlei Einkaufsmöglichkeiten. Lediglich unter der Woche versorgte ein mobiler Bäcker die Leute mit dem Notwendigsten, doch den hatte Anna bis jetzt immer verschlafen.

[14] Als sie in die kleine Ortschaft einbogen, kam ihnen der Nachbar auf dem Traktor entgegen. Er tippte lässig an den Hut, und Anna winkte zurück. Als sie vor ihrem Haus parkte, öffnete Frau Haidinger von gegenüber sofort das Küchenfenster.

»Frau Habel. Sind S’ auch mal wieder hier! Ich hab schon glaubt, sie kommen nimma.«

»Tja, Frau Haidinger, leider viel zu selten. Die Arbeit ist doch immer wichtiger.«

»Ja, und der Florian! Mein Gott, bist du groß geworden.«

Florian grüßte kurz und machte sich daran, die Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen.

»Ham S’ scho ghört? Jetzt hamma auch a Leich.«

»Oje, wer ist denn gestorben?«

Obwohl Anna seit zehn Jahren nach Salchenberg kam, kannte sie nur wenige Bewohner des kleinen Ortes. Dass regelmäßig jemand starb, war nicht verwunderlich, eine überwiegende Mehrheit der Einwohner war weit über sechzig.

»Der Bachmüller von oben rechts in der Kellergasse.«

»Den kannte ich gar nicht. Wie alt ist er denn geworden?«

»Na, ein junger Bursch war das. Dreiundfünfzig. So ein Unglück!«

»Was ist denn passiert?«

»Man weiß es nicht genau. Der Sieberer hat ihn im Weinkeller gfunden. Angeblich sah er aus, als würd er schlafen. War aber bewusstlos, oder – wie sagt man – im Koma.«

[15] »Mein Gott, das ist ja furchtbar. Und dann?«

»Na, der Sieberer hat die Rettung angrufen. Die sind gleich nach Wien gfahren mit ihm, aber im Spital is er gstorbn.«

»Wann ist das denn passiert?«

»Gestern Abend, ich wollt grad Nachrichten schauen, da is hier der Wirbel losgangen.«

»Ich muss dann mal…«

Anna deutete mit dem Kopf auf ihr Auto. Frau Haidinger verabschiedete sich sichtlich ungern und beobachtete vom Küchenfenster aus, wie Anna die restlichen Sachen ins Haus trug.

Nachdem sie das große Tor zur Straße wieder geschlossen hatte, überfiel Anna sofort die Ruhe, die sie immer zwischen diesen alten Mauern verspürte. Das Gras war viel zu hoch, die halbherzig angelegten Gemüsebeete vom Unkraut überwuchert. Und auch die Wühlmäuse hatten wieder ganze Arbeit geleistet. Doch sosehr sie Hausarbeit hasste, im Garten machte Anna die ewige Pusselei nichts aus.

Florian hatte inzwischen alle Fenster geöffnet und die Lebensmittel im Kühlschrank verstaut. Anna ging durch alle Räume und versuchte, die schmutzigen Glasscheiben und die Wollmäuse in den Ecken zu ignorieren.

»Kleine Planänderung: Du musst nicht grillen.«

»Okay. Warum, was gibt’s denn?«

»Wir gehen zum Heurigen.«

»Wieso das denn?«

»Ich muss mich mal ein wenig unter die Leut mischen.«

[16] »Du willst was über den Toten erfahren?«

»Nein. Ja. Vielleicht. Man kann sich ja ein wenig umhören.«

»Mama, du hast frei. Und außerdem bist du hier gar nicht zuständig.«

»Ich ermittle ja nicht, ich will doch nur wissen, an was der arme Weinbauer gestorben ist.«

»Wenn du meinst. Und bis dahin?«

»Keine Ahnung. – Ich mach auf jeden Fall Mittagsschlaf.«

Anna spannte die Hängematte zwischen die beiden Apfelbäume und bewaffnete sich mit Sonnenbrille, Mineralwasser, einem Kissen und dem neuen Roman von John Irving.

Doch sie konnte sich nicht recht konzentrieren, immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, sie lauschte den Stimmen hinter der Gartenmauer, und als sie sich vergewissert hatte, dass Florian über seinem Buch eingeschlafen war, machte sie sich auf zu einem kleinen Spaziergang. Sie ging die große Kellergasse hoch, eine breite Straße, die links und rechts von alten Weinkellern gesäumt war. Vor einigen standen Tische und Bänke. In der nachmittäglichen Hitze war es menschenleer, doch am Abend, wenn es kühler wurde, würde sich hier das halbe Dorf versammeln.

Oben rechts, hatte die alte Haidinger gesagt – schauen ist ja noch nicht ermitteln. Bachmüllers Keller war einer der wenigen, an denen das alte Portal stilvoll renoviert war, kein neumodisch-praktischer Schnickschnack, selbst die Fenster und das Dach hatte der Besitzer im [17] Original nachbauen lassen. An der Seite ein kleines Messingschild: Biodynamischer Weinbau Bachmüller. Das breite Tor stand offen, und Anna warf einen Blick hinein. Ein paar Regale mit Flaschen, ein Tisch mit zwei Stühlen, eine kleine Presse, mehr war nicht zu sehen. Der Raum erstreckte sich weit nach hinten, und Anna konnte im diffusen Licht eine weitere Tür erkennen. Sie wusste, dass manche dieser Keller bis zu fünfzig Meter tief in den Hang hineinführten, und steuerte auf die verschlossene Tür zu, ein paar Schritte nur wollte sie sich reinwagen, einen Blick nach hinten werfen. Anna tastete die feuchten Wände nach einem Lichtschalter ab, konnte aber keinen finden. Inzwischen hatten sich ihre Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, sie öffnete die Tür und wagte sich tiefer in den Stollen. Von der sommerlichen Hitze war hier nichts mehr zu spüren, und der typische Weinkellergeruch schlug ihr entgegen: feucht, moosig und leicht säuerlich.

»Wer ist da?!«

Anna drehte sich so abrupt um, dass sie über ein paar leere Weinflaschen stolperte, und schrie auf. Nun war kein Ton mehr zu hören, und Anna steuerte langsam auf den vorderen Teil des Kellers zu. Wie peinlich, wie schrecklich peinlich, dachte sie und überlegte fieberhaft eine gute Ausrede. Neben dem Tisch stand eine schmale, blonde Frau und starrte Anna angsterfüllt entgegen. Ihre Hände umklammerten einen alten Reisigbesen, der im Ernstfall als Waffe wohl in tausend Stücke zersplittert wäre.

»Nicht erschrecken! Ich bin von der Polizei.«

[18] »Was tun Sie hier in unserem Keller? Sie dürfen doch nicht einfach so hier rein!«

Die Stimme der Frau klang verunsichert, sie ließ den Besen sinken und war sichtlich erleichtert, einer Frau gegenüberzustehen.

»Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin hier vorbeigekommen, und die Tür stand offen. Ich hab ein Geräusch gehört, und da wollt ich nachschauen.«

»Sie lügen doch! Sie sind überhaupt nicht von der Polizei. Sie sind einfach nur neugierig und sind hier eingedrungen!«

Ihre Stimme wurde schrill, und sie schien den Tränen nahe.

»Ich bin wirklich von der Polizei, glauben Sie mir. Ich hab nur meine Dienstmarke nicht dabei, weil ich im Wochenende bin. Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Anna Habel, ich hab da unten an der Austraße ein kleines Häuschen.«

»Uschi Mader.«

Sämtliche Energie schien nun aus der schmalen Person entwichen zu sein. Sie sank kraftlos auf einen der Stühle und vergrub das Gesicht in den Händen.

Anna zog den zweiten Stuhl näher und setzte sich ihr gegenüber.

»Sind Sie die Frau vom Bachmüller?«

»Freundin. Heiraten wollt er ja nie. Und jetzt steh ich da. Mit nichts!«

»Das tut mir leid, aber vielleicht ist ja...