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Ihre Nacht

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601671 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

 

 

 

 

[5] Ich glaube, es war kurz vor unserem ersten Schultag. Da hab ich Shōichi zum letzten Mal gesehen.

Jener Tag war so schön, dass ich mir wünschte, er würde nie aufhören. Ich erinnere mich sehr gut. Es war eine Zeit, in der mein Zuhause mehr und mehr von etwas Dunklem überschattet wurde.

Mama und Shōichis Mutter waren Zwillinge und hatten ein gutes Verhältnis zueinander, wie normale Schwestern eben. Doch das sollte sich ändern. Als ahnten sie etwas, plauderten sie in aufgekratzter Stimmung und schauten dabei vergnügt uns Kindern beim Spielen zu, mit einem Blick, der zu sagen schien: Gibt es ein größeres Glück auf Erden? Wer Kinder hat, braucht nichts anderes mehr. – Es war das letzte Mal, dass ich die beiden so unbeschwert erlebte.

Shōichi und ich, das weiß ich noch, leckten Eis und schlürften selbstgemachtes Calpis* [* Mit Molke hergestelltes erfrischendes Getränk. (Anmerkung des Übers.)]. Wir [6] breiteten im Garten eine Picknickdecke aus und begannen zu kochen. Auf den improvisierten Küchenherd stellten wir einen Plastiktopf, gaben Plastikkarotten und Plastikkartoffeln hinein, und als Dessert formten wir Bällchen aus feuchter Erde, die wir sorgfältig aneinanderreihten.

Obwohl Shōichi und ich die Kinder von Zwillingen waren, konnten wir in unseren Gesichtern keine Ähnlichkeit entdecken. Wir glichen wohl unseren Vätern. Er hatte große runde Augen, volle Lippen und eine schmale, weit vorstehende Nase. Ich hingegen hatte ein schmales Gesicht, schmale Augen und eine breite, flache Nase. Unsere Mütter, die sich wie ein Ei dem andern glichen, hörte ich immer wieder sagen: »Diese Kinder sehen sich überhaupt nicht ähnlich, ist das nicht komisch?«

Manchmal, wenn ich in guter Stimmung bin, erinnere ich mich plötzlich wieder an das durchsichtig schimmernde Licht jenes Tages.

Anders als meine Mutter, die immer rundlicher geworden war, deren ganze Erscheinung etwas Schwammiges, Düsteres an sich hatte, sah die Tante mit ihrer schlanken Figur geradezu blendend aus.

Ach, wenn das meine Mutter wäre, dachte ich in einem Anflug von Neid. Shōichi lebt in einer Welt ohne Sorgen, er kann sich wie ein kleiner König fühlen. Sicher wird für ihn auch in Zukunft die [7] Sonne scheinen, so wie sie jetzt seinen schönen Garten und seine schöne Mutter bescheint. Er hat gut lachen, das Leben zeigt sich ihm von seiner besten Seite. Auf mich aber wartet Ungemach, ich drohe im Schlamm jenes Teiches dort zu versinken, wie eine Ameise zertreten zu werden oder noch als verpuppter Falter zu verenden. So sehen meine Zukunftsperspektiven aus. Was für ein tolles Lebensgefühl!

Natürlich standen mir diese Worte nicht zur Verfügung, aber was ich empfand, entsprach dem haargenau. Nur, sosehr ich mich bemühte, Shōichi als verwöhnten kleinen Kerl hinzustellen – es wollte mir nicht gelingen. Dieser Junge war einfach zu nett, man konnte ihm nichts verübeln. Könnte ich ihn vor Neid nur hassen und ihm die Schuld an meinem Elend zuschieben, dachte ich. Aber wie dankbar war ich jedes Mal, wenn Shōichi mich anlächelte…

Solche Gedanken und Gefühle beschäftigten mich, während wir eifrig Erdbällchen formten und Pfannkuchen backten. Die Tante brachte uns auch Pappmaché. Mit der breiigen Masse formten wir allerlei Dinge und pinselten sie farbig an. Wir bastelten aber nicht wild drauflos, sondern teilten die Arbeit auf und halfen dem andern, wenn nötig. Am liebsten hätte ich immer so weitergemacht. Dieses friedliche Miteinander wünschte ich mir auch in [8] meinem Alltag. Eine Welt ohne launische Wutausbrüche, ohne Ungewissheiten. Eine Welt, in der man einfach füreinander da ist und sich auf das konzentrieren kann, was man vor Augen hat. Das wäre ein Glück!

Ich schaute zum tiefblauen Himmel auf und dachte an die Zukunft. Ein banges Gefühl ergriff mich.

Nie mehr möchte ich weg von hier… Aber ich spürte, es würde anders kommen. Unsere Lebenswege würden sich trennen und in sehr unterschiedliche Richtungen führen.

Unsere Gesichter, unsere Schultern kamen sich so nahe, dass sie sich beinahe berührten. Bitterkeit und Trauer erfüllten mein Herz.

Wieder schaute ich zum Himmel auf, der mit sonnenbeschienenen Schäfchenwolken übersät war. Wie eine Armada von Schiffen zogen sie gemächlich dahin. Die Freude an der Schönheit der Natur ist das Einzige, was mir keiner wird nehmen können – niemals, sagte, nein, schwor ich mir.

Meinen Cousin Shōichi sah ich erst als erwachsenen jungen Mann wieder, und zwar völlig überraschend an einem Spätnachmittag im Herbst, als ich nach längerer Abwesenheit in meine kleine schäbige Wohnung in Tōkyō zurückgekehrt war.

[9] Ich hatte einen Brummschädel und nichts gegessen, nur einen Kaffee nach dem anderen getrunken und auf das Wiedererwachen meiner Lebensgeister gewartet.

Wenn man einfach so in den Tag hineinlebt, weiß man je länger je weniger, warum und wofür man eigentlich da ist. Na, du lebst eben, egal wie, sagte ich mir und machte weiter wie immer. Aber gelegentlich kamen mir Zweifel, und ich fragte mich, ob das nicht schleichender Selbstmord ist, so ein Leben. Zum Beispiel wenn ich von der vielen Herumreiserei erschöpft war, wenn ich mich ins Bett verkroch und die Einsamkeit mich überfiel, so dass der ganze Körper zu zittern begann und selbst tiefes Atemholen das beklemmende Gefühl in der Brust nicht löste, oder auch wenn ich zurückdachte an jene Zeit, als ich noch eine Familie hatte.

Am Tag zuvor hatte ich von einem alten Freund Geld bekommen. Eine Weile lang brauchte ich mir wenigstens finanziell keine Sorgen zu machen, was mich trotz meines Katers in euphorische Stimmung versetzte. Er hatte mich gefragt, wovon ich in letzter Zeit leben würde, und ich hatte geantwortet: Nach wie vor auf Kosten anderer Leute, wie ein Schmarotzer. Da sagte er: Ich helfe dir, und ließ mir umgehend Geld auf mein Konto überweisen. Daraufhin gingen wir in die Kneipe eines [10] gemeinsamen Bekannten, um einen zu trinken. Wir aßen und tranken und schwatzten, und plötzlich war es Mitternacht. Als wir aufbrachen, wollte er nichts weiter von mir. Auch das kommt vor. Jedenfalls lädt er mich, wenn wir uns sehen, nicht nur zum Essen ein, sondern gibt mir auch Geld. Und da er es nicht zurückhaben will, bedeutet »geben« letztlich schenken. Offenbar tut er das gern, es gibt ihm das Gefühl, ich wäre seine Frau, es bereichert sein Leben. Meine Erklärungsversuche, warum ich keine feste Arbeit habe, warum ich unauffällig und zurückgezogen lebe, nimmt er mir partout nicht ab. Er denkt, ich sei ein bisschen verrückt oder in Wahrheit eine Tochter aus reichem Haus. Womöglich denkt er gar, er wäre der einzige Mann, den ich wirklich liebe und immer lieben werde. Vielleicht macht er sich Vorwürfe, dass er mich nicht geheiratet hat, wer weiß. Meiner Erfahrung nach glauben vier von fünf Männern, gleich welchen Alters, die Frauen um sie herum wollten etwas von ihnen. Wenn das bei mir nur so wäre!, denke ich manchmal, aber die grenzenlose Leichtigkeit meines Daseins – obwohl es nicht sehr abwechslungsreich ist und die Zukunft ungewiss – würde ich doch auch nicht missen wollen.

Natürlich sehnte ich mich immer mal wieder nach einer festen Arbeit oder dachte ans Heiraten [11] und Kinderkriegen. Der Partner war nicht das Problem, denn mit einem Mann, von dem ich guten Gewissens hätte sagen können, wenn, dann der, war ich schon seit Jahren zusammen. Das Problem war, dass ich mich nicht so leicht zu diesem oder jenem durchringen konnte. Ich hatte das Gefühl, mich allein vor der Vergangenheit meiner Familie retten zu müssen. Ich hatte Angst davor, jemanden ernsthaft in mein Leben hereinzulassen, und ich hatte auch keine Lust, lang und breit zu erklären, warum das so war. Ich fühlte mich wie eine Art Krankheitserreger, das wurde ich einfach nicht los. Wo ich bin, ist immer auch ein Hauch von Tod, der sich wie ein Schleier über alles legt. Abgesehen von einem dunklen, geheimnisvollen Etwas, das da zwischen Mann und Frau herrscht, kann ich in einer Beziehung nichts Positives erkennen. So viel ist schiefgelaufen, so viel missraten, und dennoch lebe ich… Ist das nicht unendlich traurig?

Aber, dachte ich, es hat schon seinen Sinn.

Als ich spürte, wie mein Kater sich langsam davonmachte, fühlte ich mich fast wie im siebten Himmel. Schöner noch als die Gewissheit, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, ist der Moment, wo sich das Übel von einem abzuwenden beginnt. Wenn ich lange und intensiv in den Himmel schaue, denke ich jedes Mal: Einfach nur da zu sein ist [12] schon ein Glück. Sieh mal, diese feinziselierten Linien der Wolken dort am Horizont… Das hast du so noch nie gesehen… Genieß das Leben!, sage ich mir trotzig, du möchtest es doch nicht missen, oder? Und tatsächlich, seit meiner Kindheit hat sich daran nichts geändert.

Shōichi war kein Durchschnittsmensch geworden. Das wurde mir, als ich ihn sah, sofort bewusst.

Jede seiner Gesten verriet Besonnenheit und Aufmerksamkeit. Es gab nichts an ihm, was mich irgendwie gestört hätte. Man braucht nur auf die äußere Erscheinung zu achten und die Art, wie Leute reden – meistens reicht das schon, um sie einschätzen zu können.

Verträumt oder eher benommen hatte ich zum Fenster hinausgeschaut, als es plötzlich klopfte. Ich ging zur Tür und äugte durch das Guckloch.

Draußen stand, kerzengerade, schick gekleidet und mit erwartungsvollem, festem Blick – Shōichi. Als hätte er schon seit...