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Delikatessen - Der vierte Fall für Bruno, Chef de police

Martin Walker

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601657 , 416 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[22] 2

Als Horst ihn über das Ausgrabungsfeld führte, über das ein Raster aus weißen Schnüren gespannt war, staunte Bruno wieder einmal über die Sorgfalt und Mühe, die das Team an den Tag legte. Jede Handvoll ausgegrabener Erde wurde gesiebt, jedes mögliche Fundstück mit feinen Pinseln abgestaubt, und alle waren so konzentriert bei der Arbeit, dass kaum jemand auf ihn achtete, als er vorbeiging. Manche standen in den parallel verlaufenden Gräben, die so tief waren, dass sie darin verschwanden, und auch sie blickten nur auf, wenn er sich über den Rand beugte und ihnen das wenige Sonnenlicht nahm, das sie hatten.

Er hörte jemanden »Bruno« rufen, drehte sich um und sah ein hübsches schlankes Mädchen mit hellen Haaren herbeilaufen. Sie sprang über einen Haufen ausgehobener Erde und warf sich ihm in die Arme.

»Dominique«, begrüßte er sie freudig. Er kannte sie seit ihrer Kindheit. Ihr Vater, Stéphane, war ein Jagdgefährte. Er führte eine kleine Milchwirtschaft in den Hügeln und stellte den tomme d’Audrix her, Brunos Lieblingskäse. Seit Brunos Ankunft in Saint-Denis durfte er jeden Winter an der Schlachtung des Hausschweins teilnehmen, wobei ihm und Dominique die Aufgabe zufiel, dessen Innereien im kalten Wasser des nahen Flusses zu waschen. Jetzt studierte [23] Dominique an der Universität in Grenoble und war aktives Mitglied der Grünen Partei. »Ich wollte sowieso zu euch auf den Hof kommen. Dein Vater hat mich Sonntag zum Mittagessen eingeladen.«

»Bist du wegen des Toten hier?«, fragte sie und hakte sich bei ihm unter.

»Genau, ich schaue ihn mir jetzt einmal an. Wir sehen uns dann am Sonntag.«

»Nein, schon heute Abend im Museum. Du musst dir den Professor anhören. Er wird etwas Großes ankündigen; mehr darf ich nicht verraten. So, und jetzt muss ich wieder Dreck sieben.«

Sie lief davon, und Bruno ließ den Blick wieder über das Ausgrabungsgelände schweifen. Die Gräben liefen auf einen Felsüberhang zu, vor dem ein quadratisches Loch ausgehoben worden war, rund vier mal vier Meter groß und drei Meter tief. Am Rand lehnten Aluleitern. Auf dem Grund lag ein großer flacher Stein mit sonderbaren Vertiefungen an der Oberfläche. Davor hockten drei Archäologen. Sie beschäftigten sich mit Bruchstücken von glatter Beschaffenheit und bräunlicher Farbe und gingen mit Pinseln zu Werke, die so fein waren wie die eines Miniaturenmalers. Bruno glaubte, erkennen zu können, dass sie Knochenreste in den Händen hielten, und schaute sich fragend nach Horst um, weil er annahm, dass der ihn wegen dieser Skelettteile gerufen hatte. Die Männer im Loch schenkten ihm keine Beachtung. Die Intensität, mit der sie arbeiteten, verblüffte ihn noch mehr angesichts der gespenstischen Natur ihrer Entdeckung. Er hatte damit gerechnet, ein Team anzutreffen, das zu schockiert war, um weiterarbeiten [24] zu können. Aber für Archäologen schienen Knochen und der Tod etwas Alltägliches zu sein.

»Entschuldigung, dieses Grab ist überfüllt«, sagte Horst. »Die Fundstelle Ihres Toten liegt ein bisschen abseits.« Sein Bart war seit ihrer letzten Begegnung noch etwas weißer geworden, das Kopfhaar lichter. Er trug dieselbe englische Tweedjacke mit Lederflicken an den Ellbogen wie im Vorjahr und all die Jahre zuvor. »Die Knochen da unten sind über dreißigtausend Jahre alt. Was ich Ihnen zeigen will, ist jüngeren Datums.«

Er führte Bruno an einem Flaschenzug vorbei, der an einem Dreifuß hing und mit einer Winde bedient wurde, und steuerte auf einen längeren, schmalen Graben zu, der gut einen Meter tief war. Davor standen zwei Frauen, eine junge hübsche und eine ältere mit roten Haaren, die ein grün-weiß gestreiftes Herrenhemd trug, und sahen ihnen entgegen.

Die junge Frau, die ihr dunkles glänzendes Haar zu einem losen Knoten am Hinterkopf gewunden und mit zwei Stäbchen so festgesteckt hatte, dass sie wie eine alte Fernsehantenne aussahen, legte einem stämmigen jungen Mann mit langen Haaren tröstend eine Hand auf die Schulter. Er kniete mit gebeugtem Kopf am Graben. Neben ihm lag eine kleine Kelle. Die rothaarige Frau lächelte Bruno freundlich zu, der sich nun vor jene heikle Frage gestellt sah, die eine Begrüßung auf französische Art häufig aufwarf. Er war unschlüssig, ob er sie schon gut genug für eine bise kannte, ein Küsschen auf beide Wangen. Sie war Leiterin einer der wissenschaftlichen Abteilungen im Musée national de Préhistoire von Les Eyzies.

»Bonjour, Clothilde«, sagte er und schüttelte kurz [25] entschlossen der rothaarigen Französin die Hand. Sie jedoch zog ihn an der ausgestreckten Hand zu sich hin und küsste ihn entschieden auf die Wangen, als wollte sie ein für alle Mal klarstellen, dass sie sich durch nichts von einer herzlichen Begrüßung abhalten ließ, schon gar nicht von einer gerade entdeckten Leiche. Clothilde Daunier zählte zu den prominentesten Archäologen Frankreichs. Sie und Horst waren einmal ein Liebespaar gewesen und auch jetzt immer noch eng befreundet. Bei einer Flasche Wein, aus Deutschland für Bruno mitgebracht, hatte Horst ihm einmal anvertraut, dass Clothilde die Liebe seines Lebens sei, obwohl ihre Affäre zu diesem Zeitpunkt angeblich schon vorüber war. Bruno zweifelte jedoch daran, denn er war sich sicher, Horst in jenem grün-weiß gestreiften Hemd gesehen zu haben, das Clothilde nun trug.

»Bruno, darf ich vorstellen, diese junge Dame ist Kajte aus Holland. Ich hoffe, ihren Namen richtig ausgesprochen zu haben«, sagte Clothilde. Das Mädchen lächelte kühl und reichte Bruno die Hand. Sie machte einen sehr selbstbewussten Eindruck und taxierte ihn mit ihren grauen Augen schnell und gründlich. Sie trug wie alle anderen Studenten auf dem Gelände eine kurze Khakihose und ein Jeanshemd; ihre Sachen aber sahen teuer aus. Vielleicht lag es an der Art, wie sie sie trug, dachte Bruno. »Und dies ist der junge Mann, der die Leiche gefunden hat. Er kommt aus England, heißt Teddy und ist aus verständlichen Gründen ziemlich mitgenommen.«

»Wann haben Sie den Fund gemacht?«, fragte Bruno mit Blick in den Graben, wo er einen Schädel entdeckte, zwei Schulterblätter und das, was er für Armknochen hielt. [26] Hüften und Beine steckten noch halb verschüttet unter der Erde. Das ausgestreckte Skelett lag mit dem Gesicht nach unten. Verrottete Teile dessen, was eine Lederjacke gewesen sein mochte, mischten sich unter die losen Erdkrumen und Steinchen auf dem Rücken des Toten. Am Schädel klebten noch ein paar Strähnen, und da, wo der Hals gewesen war, schimmerte golden das von Horst erwähnte Medaillon mit dem heiligen Christophorus. Am deutlichsten zu erkennen waren die mit einem rötlichen Stromkabel im Rücken gefesselten Hände. Am linken Handgelenk hing eine Swatch.

»Um Himmels willen!«, sagte Bruno. »Wenn man sich die gefesselten Hände ansieht, könnte man meinen, er wäre lebendig begraben worden.«

»Den Gedanken hatte ich auch«, entgegnete Clothilde. »Ich fürchte, dieses Grab wird mich in meinen Träumen verfolgen. Da deutet doch alles auf einen Mord hin, oder?«

»Jedenfalls wird sich die Police Nationale darum kümmern müssen. Und die Gerichtsmedizin. Ich muss Meldung machen, und dann wird dieser Ort hier abgesichert. Man wird genau wissen wollen, wann und wo das Skelett gefunden wurde.«

»Teddy hat es gefunden, kurz nach Arbeitsbeginn. Wir fangen immer um halb acht an, und ich habe Sie schon vor acht Uhr angerufen«, sagte Horst. »Zuerst waren nur die Handknochen zu sehen. Als wir dann ein bisschen mehr Erde abgetragen haben, kam der Rest zum Vorschein.«

»Bonjour, Teddy«, grüßte Bruno den jungen Mann. »Sprechen Sie Französisch?«

»Ein… bisschen«, antwortete er stockend. Bruno [27] blickte in zwei hellblaue Augen. Ebenso auffallend war das markante, vorspringende Kinn. »Habe den professeur sofort informiert. War allein, als ich das hier gefunden habe.« Er hatte eine sehr tiefe Stimme und war schwer zu verstehen wegen seiner Aussprache, die so melodisch klang, dass Bruno ihn weder für einen Engländer noch für einen Deutschen halten konnte.

Bruno wandte sich an Horst. »War er allein? Ich dachte, Sie arbeiten im Team«, fragte er in Erinnerung an frühere Ausgrabungen.

»Eigentlich ja, aber Teddy hatte eine interessante Idee, die er verfolgen wollte«, antwortete Horst. »Er suchte nach Abfällen und der Latrine, und zwar abseits des Frischwasserzulaufs. Das macht Sinn – vorausgesetzt, der Bach hatte vor dreißigtausend Jahren dasselbe Bett wie heute, was ich sehr bezweifle.«

»Solche sogenannten Muschelhaufen sind archäologische Fundgruben. Sie verraten uns eine Menge über das, was die Menschen damals gegessen haben, welche Werkzeuge sie hatten und so weiter«, erklärte Clothilde. »Ich weiß, dass Teddy sorgfältig arbeitet, also haben wir ihn machen lassen. Er gräbt hier schon seit drei Tagen.«

»Ich muss einen Arzt rufen. Auch wenn alles so offensichtlich ist, brauchen wir einen Totenschein.« Bruno wandte sich ab und nahm das Handy aus der Gürteltasche, um Fabiola in der Klinik anzurufen. Sie war nicht nur eine gute Freundin, sondern verstand sich auch auf forensische Untersuchungen.

Während er dem Summton lauschte, schaute er auf den Felsen, der hoch über der Ausgrabungsstätte aufragte und [28] mit seinem Überhang ein schmales schützendes Dach bildete. Rund fünfzehn Meter entfernt stürzte ein Bach über den bewaldeten Abhang, dem sich ein zweiter Felsvorsprung ohne Überhang anschloss. Die Reifenspuren von Horsts...