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Sie und Er

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601374 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[17] Die Autobahn verpestet
seine Gedanken nur noch mehr

Die Autobahn verpestet seine Gedanken nur noch mehr. Das ständige Beschleunigen und Bremsen und Spurwechseln, die rasche Verlagerung der Aufmerksamkeit nach vorn und seitlich und nach hinten im Rückspiegel, die Vorwegnahme idiotischen oder offen kriminellen Verhaltens seitens der anderen Autofahrer – alles zerrt an seinen Nerven. Das Verdeck seines grünen, vierzehn Jahre alten Jaguars XJS Cabrio knattert im Gegenwind, als würde es gleich aufgehen, abreißen und ihn ungeschützt dem anhaltenden Regen aussetzen. Es ist ein Jaguar aus der schlechtesten Periode, mit einer kantigen Linienführung, die nichts zu tun hat mit den schönen fließenden Formen der sechziger Jahre und auch nichts mit dem rationaleren und lineareren Design der jüngeren Modelle. Wahrscheinlich hat er ihn deshalb gekauft: weil er ihm irgendwie verkehrt vorkam. Jetzt fährt er allerdings zu schnell für das nicht sonderlich stabile Chassis, das Gaspedal zu drei Viertel durchgedrückt, die Tachonadel zittert unentschieden zwischen 140 und 150, die Reifen verlieren gelegentlich die Bodenhaftung wegen der riesigen Pfützen und des schlechten Zustands der Aufhängung. Ab und zu nimmt er einen Schluck Wodka aus der Flasche auf dem Beifahrersitz: Er schraubt den Verschluss mit einer Hand auf und wieder zu und wirft sie zurück [18] auf ihren Platz. Ständig drückt er auf die Repeat-Taste des CD-Players, um noch einmal I Cover The Waterfront von John Lee Hooker in einer Studioaufnahme zusammen mit Van Morrison abzuspielen, aber auch auf höchster Lautstärke kommt die Musik kaum an gegen das Trommeln des Regens und das Schlagen des Verdecks und das Dröhnen des Motors und das Rollen der Reifen und das vielfältige Zischen und Sausen der Zugluft, die durch alle Ritzen des alten Jaguars dringt. Dasselbe Stück hundertmal hintereinander anzuhören, bis es zum Ohrwurm wird und er jede einzelne Passage auswendig kann, ist eine Manie von ihm. Nur so gelingt es ihm, der harmonischen Struktur auf den Grund zu gehen und zu dem durchzudringen, was hinter den Tönen steht: das Studio und die Blicke zwischen den Musikern, ihre Bewegungen und ihre Ticks, die Kombination von Fähigkeiten und Grenzen, die den besonderen Stil eines jeden hervorbringt, die plötzlichen Intuitionen, die einer Phrase ihren Sinn geben, die Höhenflüge, die Wiederholungen, die Rückkehr zum Thema, so als käme man nach Hause, beruhigend und leicht von Wehmut durchzogen beim Gedanken an das, was noch hätte geschehen können, wenn man noch länger fortgeblieben wäre.

Letztendlich heitert ihn Musik nie sonderlich auf; im Gegenteil, fast immer vertieft sie seine Traurigkeit oder erhöht seine Anspannung, so wie jetzt auf dieser Autobahn voller Pkws und Lastwagen im strömenden Regen. Obwohl er schneller fährt als erlaubt, kommen hinter ihm ständig Limousinen und Coupés und Geländewagen angerast, die ihn mit dem bläulich weißen Licht ihrer Xenonscheinwerfer anblinken und bis auf wenige Zentimeter [19] auffahren, um ihn, Stoßdämpfer an Stoßdämpfer, zum Ausweichen zu zwingen, bis er plötzlich auf die Bremse tritt und sie zwingt, ebenfalls zu bremsen und sich in die erste Lücke rechts einzufädeln und dort im wütenden Zickzack zwischen den Spuren wieder zu beschleunigen. Entweder haben sie Navigationsgeräte, die ihnen die Standorte der elektronischen Geschwindigkeitskontrollen anzeigen, oder die richtigen Kontakte, um sich die Bußgelder tilgen zu lassen, oder es ist ihnen einfach egal, und sie zählen auf die Langsamkeit der Bürokratie in der italienischen Verwaltung und ihre periodischen Amnestien. Jedenfalls fahren sie durchgehend 180 bis 200 Stundenkilometer, wenn ihnen nicht gerade ein alter Jaguar im Weg ist. Auch hier schwankt er zwischen zwei gegensätzlichen Positionen, wie bei fast allem. Er weiß genau, dass er tollkühner fahren könnte als sie alle zusammen, wenn er wollte. Es ist kein abstraktes Wissen: Er hat es im Hirn und in den Beinen, in den Füßen, in den Händen, in dem Adrenalin, das beim bloßen Gedanken in seinem Blutkreislauf zirkuliert. Es ist alles da, am Grund seiner schlimmsten Gedanken, bereit, ans Licht zu kommen. Doch kriminelles Fahren gehört zu den Verhaltensweisen, die er hasst an diesem ungezogenen, gleichgültigen, vulgären, feigen Land voller Gesetze und ohne Regeln. Die Vorstellung, dass es potentiell auch Teil seines eigenen Wesens ist, erfüllt ihn mit dumpfem Groll und treibt ihn dazu, mit 140 Stundenkilometern die Überholspur zu blockieren.

Irgendwann schaltet er den CD-Player ab, weil er nichts hören kann, zieht den MP3-Player aus dem Handschuhfach, versucht, die Kabel zu entwirren, ohne die Kontrolle [20] über das Lenkrad zu verlieren, nimmt die Ohrhörer und schiebt sie so tief ins Ohr, wie es geht. Er lässt mit dem Menü die Playlists durchlaufen bis zur Abteilung »Sprachen«, klickt wahllos auf eine aus einer sehr langen Liste von Deutschlektionen. Der Lehrer ist ein polnischer Jude mit französischem Namen, nach Frankreich ausgewandert, um der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen; später ging er in den Widerstand, wurde drei- oder viermal von den Deutschen verhaftet, entwischte aber jedes Mal, indem er vorgab, er sei ein anderer, bis er am Ende des Krieges nach Los Angeles auswanderte, um eine Sprachenschule zu eröffnen. Dass er diese Geschichte kennt, verleiht dieser Stimme eines gutmütigen alten Onkels mit oft hörbar klapperndem Gebiss einen anderen Klang; zudem ist der Typ vor ein paar Jahren gestorben, so dass bei seinen Sätzen immer auch ein leises Verlustgefühl mitschwingt.

Jedenfalls hat es etwas Hypnotisierendes, hier im ständigen Krach und Vibrieren dieses scheinbar endlose Asphaltband entlangzurasen, es erlaubt ihm, alles viel besser aufzunehmen, als wenn er es in einem Zimmer sitzend lernte. Nach vier oder fünf Lektionen, die er sich auf diversen Autofahrten angehört hat, kann er schon einige einfache Sätze bilden, wenn er auch aufgrund des Lärms keine Ahnung hat, wie seine Aussprache ist. Er hatte schon immer ein Gespür für Sprachen und Akzente, wahrscheinlich weil er sich nirgendwo recht verwurzelt fühlt und ein aus einem festen Zusammenhang herausgelöstes Individuum dazu neigt, Techniken zu entwickeln, die ihm gestatten, unter unterschiedlichen Bedingungen zu überleben. Aber natürlich geht es auch darum, immer wieder eine neue [21] Herausforderung zu suchen, um sich zu beweisen, dass man geistig noch nicht am Ende ist. Es kommt manchmal vor, dass ein Leser oder eine Leserin von vielleicht fünfundzwanzig Jahren ihn um ein Autogramm in einem Buch bittet und ihm dann erzählt, im Unterschied zu ihm leider nie aus dem Land herausgekommen zu sein und keine Fremdsprache zu sprechen. »Und was zum Teufel hindert dich daran?«, antwortet er dann jeweils und würde sie am liebsten an den Schultern packen und heftig schütteln. Ihm scheint, dass es mit Italien auch deshalb bergab geht, weil gewisse Beschränkungen einfach hingenommen werden, als ob es natürliche Barrieren wären, die unüberwindlich sind.

Er versucht, sich auf einige Verbformen zu konzentrieren, aber jedes neue Blinken und Drängen von Autos hinter ihm vergiftet sein Blut noch etwas mehr. Er würde gern einen Zustand größerer Gelassenheit erreichen und sich nicht mehr darum scheren, aber es gelingt ihm einfach nicht. Die Überholer gestikulieren wild, wenn sie schließlich rechts an ihm vorbeifahren: Sie zeigen ihm die Hörner, den Mittelfinger, schreien unhörbare, aber leicht vorstellbare Beleidigungen. Er dreht sich um, fixiert sie, fährt sich mit zwei Fingern über den Hals, um ihnen mimisch die Kehle durchzuschneiden. Die Geste dauert nur eine Sekunde, aber die Überholenden verlieren in dem Moment sichtlich die Fassung. In manchen Fällen bleiben sie etwas zurück, in anderen gestikulieren sie noch wütender und bremsen unvermittelt, sobald sie wieder vor ihm fahren, versuchen, ihn ins Schleudern zu bringen. Er reagiert genauso wüst wie sie oder noch wüster: Er würde auf sie schießen, wenn er eine Pistole oder ein Gewehr mit [22] abgesägtem Lauf hätte oder noch lieber ein auf die Motorhaube montiertes Maschinengewehr oder eine Bazooka, die man per Knopfdruck am Steuer bedienen könnte. Ganz realistisch malt er sich den Knall aus, das Geräusch der splitternden Scheiben, das Quietschen der Räder, während das andere Auto sich querstellt und wegrutscht und gegen die Flanke eines Lastwagens oder eines anderen Autos oder gegen die Leitplanke prallt und eine katastrophale Kettenreaktion auslöst, in die er selbst verwickelt ist, falls es ihm nicht gelingt, sich mit erstaunlicher Promptheit im Zickzack zwischen den Wracks hindurchzuschlängeln. Er zweifelt nicht daran, dass seine Impulse den gleichen Ursprung haben wie die der Überholenden, aber dieses Wissen mindert keineswegs die Heftigkeit seiner Visionen, sondern verleiht ihnen letztlich eine noch destruktivere Note. Ebenso lebhaft stellt er sich vor, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen wegen des umfassenden Ekels, der ihn bis in die Knochen durchdringt. Er kann sich ausmalen, wie die Menschen, die er kennt, dann reagieren: seine Kinder, die vier oder fünf Frauen, mit denen er zu tun hat, seine zwei oder drei guten Freunde, seine Agentin, sein Verleger, ein paar Journalisten, die Besitzerin des ehemaligen Klosters auf den Bergen Liguriens, von wo er soeben geflüchtet ist, das slawische Zimmermädchen, das heute Morgen im Flur einen Strauß verwelkter Schwertlilien aus einer hässlichen Kristallvase genommen hat. Er fährt weiterhin stur zehn Kilometer über der vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzung auf der...