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In einer Person

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257601909 , 752 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

[11] 1

Eine Rollenbesetzung mit Hindernissen

Ich möchte damit anfangen, von Miss Frost zu erzählen. Auch wenn ich immer sage, ich sei Schriftsteller geworden, weil ich im prägenden Alter von fünfzehn einen bestimmten Dickens-Roman las, war ich in Wahrheit jünger, denn als ich das erste Mal Miss Frost begegnete und mir vorstellte, Sex mit ihr zu haben, bedeutete dieser Augenblick meines sexuellen Erwachens zugleich die Sturzgeburt meiner Phantasie. Was wir begehren, prägt uns. Ein flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller werden und Sex mit Miss Frost haben – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Ich lernte Miss Frost in einer Bibliothek kennen. Ich mag Bibliotheken, obwohl ich Mühe mit der Aussprache des Wortes habe – im Plural wie im Singular. Offenbar fällt mir die Aussprache bestimmter Wörter äußerst schwer; überwiegend Hauptwörter: Menschen, Orte und Dinge, die mich entsetzlich aufgeregt, in schwere Konflikte oder abgrundtiefe Panik gestürzt haben. Na ja, jedenfalls sind die diversen Stimmbildner, Logopäden und Psychiater, die mich – leider vergeblich – behandelt haben, zu dieser Ansicht gelangt. In der Grundschule blieb ich einmal sitzen: wegen »schwerer Sprachstörungen«, was maßlos übertrieben war. Mittlerweile bin ich Ende sechzig, fast siebzig, [12] und die Ursache meiner Sprachfehler ist mir inzwischen egal. (Kurz und knapp: Scheiß auf die Kausalität.)

Das Wort Kausalität versuche ich gar nicht erst auszusprechen, wohingegen ich mir durchaus eine halbwegs verständliche falsche Aussprache von Bibliothek oder Bibliotheken abringen kann, bei der das vertrackte Wort am Ende wie eine exotische Frucht herauskommt. (»Bibbelothek«, oder »Bibbelotheken«, sage ich – kindisch.)

Umso komischer, dass meine erste Bibliothek nicht der Rede wert war. Es war die Gemeindebücherei des Örtchens First Sister in Vermont, ein gedrungener roter Klinkerbau an der Straße, in der auch meine Großeltern wohnten. Ich lebte bei ihnen in der River Street, bis ich fünfzehn war und meine Mutter wieder heiratete. Meinen Stiefvater hatte sie bei einer Theateraufführung kennengelernt.

Die örtliche Laienschauspieltruppe nannte sich die First Sister Players; so weit ich zurückdenken kann, habe ich alle Aufführungen im kleinen Theater unseres Städtchens gesehen. Meine Mutter war die Souffleuse: Wenn jemand seinen Text vergaß, sagte sie ihm vor. (Da es eine Laitentruppe war, wurde eine Menge Text vergessen.) Lange glaubte ich, die Souffleuse sei auch Schauspielerin – eine, die geheimnisvollerweise nicht mit auf der Bühne stand und nicht kostümiert, aber für den reibungslosen Ablauf unentbehrlich war.

Als meine Mutter ihn kennenlernte, war mein Stiefvater ganz neu bei den First Sister Players. Er war gerade erst zugezogen, um in der Favorite River Academy zu unterrichten – der fast schon renommierten Privatschule, damals nur für Jungen. Schon als Kind, spätestens aber mit zehn oder elf, muss ich gewusst haben, dass ich irgendwann, [13] wenn ich »groß genug« wäre, auf diese Schule gehen würde. Die Bibliothek der Academy war moderner und besser beleuchtet, aber die Gemeindebibliothek von First Sister war meine erste Bibliothek, und die dortige Bibliothekarin meine erste Bibliothekarin. (Übrigens hatte ich mit der Aussprache von »Bibliothekarin« noch nie Mühe.)

Natürlich war Miss Frost ein unvergesslicheres Erlebnis als die Bibliothek. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ihren Vornamen erst lange nach unserer ersten Begegnung erfuhr. Jeder nannte sie Miss Frost, und ich hatte den Eindruck, dass sie so alt wie meine Mutter oder etwas jünger war, als ich endlich meinen ersten Bibliotheksausweis aus ihren Händen empfing. Meine Tante, eine ausgesprochen herrische Person, hatte mir gesagt, Miss Frost habe »früher mal sehr gut ausgesehen«, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Miss Frost jemals besser ausgesehen hatte als zu dem Zeitpunkt unserer ersten Begegnung – obwohl sich bei mir auch als Kind schon das meiste nur in der Phantasie abspielte. Meine Tante behauptete, sämtliche heiratsfähigen Männer am Ort hätten sich früher beim Anblick von Miss Frost überschlagen. Wenn einer von ihnen den Mumm aufbrachte, sie anzusprechen – Miss Frost womöglich sogar seinen Namen zu nennen –, habe die damals schöne Bibliothekarin ihn nur kühl gemustert und mit eisiger Stimme gesagt: »Ich heiße Miss Frost, bin unverheiratet und werde es auch bleiben.«

Daher war Miss Frost immer noch ledig, als ich sie kennenlernte; die heiratsfähigen Männer in First Sister hatten – für mich unbegreiflich – längst aufgehört, sie anzusprechen.

[14] Der entscheidende Roman von Charles Dickens – der mich dazu brachte, Schriftsteller werden zu wollen – war Große Erwartungen. Ich muss damals fünfzehn gewesen sein – sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Lektüre. Ich weiß, dass es vor meinem Wechsel an die weiterführende Schule war, weil ich mir das Buch aus der Stadtbücherei von First Sister holte – zweimal. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich dieses Buch erneut ausleihen wollte; nie zuvor hatte ich den Wunsch verspürt, einen ganzen Roman noch mal zu lesen.

Miss Frost sah mich mit durchdringendem Blick an. Damals reichte ich ihr nur knapp bis an die Schultern. »Miss Frost war früher mal, was man ›gutgebaut‹ nennt«, hatte meine Tante mir gesagt, als gehörten selbst Miss Frosts Statur und Figur der Vergangenheit an. (Für mich war sie ein Leben lang gut gebaut.)

Miss Frost war eine Frau mit aufrechter Haltung und breiten Schultern, mein Hauptaugenmerk allerdings galt ihren kleinen, aber wohlgeformten Brüsten. In scheinbarem Widerspruch zu ihrer mannhaften Größe und unübersehbaren körperlichen Stärke hatten Miss Frosts Brüste etwas überraschend Frisches, unwahrscheinlich Knospendes, Jungmädchenhaftes. Mir war schleierhaft, wie eine ältere Frau so aussehen konnte, doch ihre Brüste mussten die Phantasie jedes Knaben anregen, der ihr begegnete; jedenfalls bildete ich mir das ein, als ich sie – wann war das noch gleich? – 1955 kennenlernte. Damit nicht genug; man muss wissen, dass Miss Frost nie aufreizend gekleidet war, jedenfalls nicht in der vorschriftsmäßigen Stille der gottverlassenen Stadtbücherei von First Sister; ob morgens oder abends, [15] ganz egal, zu welcher Tageszeit, Besucher gab es praktisch nie.

Meine herrische Tante hatte ich (zu meiner Mutter) sagen hören: »Miss Frost ist weit über das Alter hinaus, in dem Teenager-BHs ausreichen.« Mit dreizehn hatte ich das so verstanden, dass Miss Frosts Brüste – in der kritischen Sicht meiner Tante – überhaupt nicht zu ihren BHs passten, oder umgekehrt. Das fand ich gar nicht! Und während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, warum meine Tante und ich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf Miss Frosts Brüste fixiert waren, bedachte mich die imposante Bibliothekarin mit dem bewussten durchdringenden Blick.

Mit dreizehn hatte ich sie kennengelernt; in diesem einschüchternden Moment war ich fünfzehn, aber was die Intensität von Miss Frosts langem bohrenden Blick anging, hatte ich das Gefühl, als schaue sie so schon mindestens zwei Jahre. Schließlich beschied sie meinen Wunsch, die Großen Erwartungen noch mal zu lesen, mit: »Den Roman hast du schon gelesen, William.«

»Ja, ich fand ihn toll«, beteuerte ich – nur um nicht damit herauszuplatzen, wie toll ich sie fand. Sie war äußerst förmlich – der erste Mensch, der mich ausnahmslos mit William anredete. In der Familie und unter Freunden war ich nur Bill oder Billy.

Ich wollte Miss Frost mit nichts als ihrem BH am Leib sehen, der (nach Ansicht meiner sittenstrengen Tante) nicht genügend Halt bot. Doch anstatt mit solch einer Taktlosigkeit herauszuplatzen, sagte ich: »Ich will Große Erwartungen noch mal lesen.« (Kein Wort über meine Vorahnung, Miss Frost habe einen mindestens ebenso verhängnisvollen [16] Eindruck auf mich gemacht wie Estella im Roman auf den armen Pip.)

»Jetzt schon?«, fragte Miss Frost. »Du hast den Roman doch erst vor einem Monat gelesen!«

»Ich kann’s kaum erwarten, ihn noch mal zu lesen«, sagte ich.

»Charles Dickens hat viele Bücher geschrieben«, erklärte mir Miss Frost. »Du solltest es mal mit einem anderen versuchen, William.«

»Oh, das kommt noch«, versicherte ich ihr, »aber erst will ich das hier noch mal lesen.«

Miss Frosts zweites »William« hatte bei mir eine spontane Erektion ausgelöst – auch wenn ich mit fünfzehn einen kleinen Penis und einen lachhaft enttäuschenden Ständer hatte. (Dazu nur so viel: Es bestand keinerlei Gefahr, dass Miss Frost meine Erektion bemerkte.)

Meine besserwisserische Tante hatte meiner Mutter gesagt, ich sei ein Spätentwickler. Selbstredend hatte sie »Spätentwickler« in einem anderen (oder allgemeineren) Sinne gemeint; soweit ich wusste, hatte sie meinen Penis seit meiner frühen Kindheit nicht mehr gesehen – wenn überhaupt. Zum Wort Penis fällt mir bestimmt noch viel mehr ein. Hier muss genügen, dass mir die Aussprache von »Penis« größte Mühe bereitet; in meiner verquasten Diktion hört sich das »s« gelispelt an, wie »Penith« – wenn ich es überhaupt herausbringe –, genau wie ein...