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Eiseskälte - Kriminalroman

Claudia Puhlfürst

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN 9783839232149 , 422 Seiten

2. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR

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3. Kapitel


»Agnes …«, linkisch versuchte Ralf, seinen Arm um sie zu legen. »Wein doch nicht …«

Er hatte selbst Tränen in den Augen. »Sie wird bestimmt bald gefunden. Komm –«, er fingerte an der Klebelasche einer Packung Tempotaschentücher und versuchte, ihr eines davon in die Hand zu drücken, »– nimm das hier.«

Dass sich ihre Schultern unter dem Gewicht seines Armes noch weiter nach oben gezogen hatten, wurde ihm gar nicht bewusst. Das Papiertaschentuch blieb unbeachtet auf ihrem Oberschenkel liegen. Ihre Hand bewegte sich keinen Millimeter, lag wie ein Stück totes Fleisch auf dem Bein. Der Fernseher plärrte noch immer laut in den Raum. Ralf stellte den Ton leiser. Es kam ihm so vor, als habe Agnes während der gesamten Nachrichtensendung seine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, als sei er aus ihrer Welt völlig ausgeblendet gewesen. Und das war wohl auch ihr gutes Recht, schließlich handelte es sich nicht um seine Tochter, die seit gestern Nachmittag verschwunden war.

»Lass uns doch noch einmal alles in Ruhe besprechen. Vielleicht fällt uns noch etwas ein.« Hilflos schielte er von der Seite auf ihre Nasenspitze, die ein bisschen gerötet war.

Sie blickte gar nicht auf. Wusste sie überhaupt, dass er hier, neben ihr, auf dem Sofa saß? Die ganze Zeit schon neben ihr gesessen hatte, seit gestern nicht von ihrer Seite gewichen war, versucht hatte, sie zum Essen zu überreden?

Sie wollte nicht essen, sie wollte das Schlafmittel von der Ärztin, das diese dagelassen hatte, nicht nehmen, sie wollte nicht mit ihm reden. Sie trank ab und zu einen Schluck Wasser. Das war alles. Wenn sie doch nur sprechen würde. Er war überzeugt davon, dass dies ihr die Bürde erleichtern würde. Man musste über die Dinge reden. Agnes hatte auch nicht geweint. Tränen sollten doch angeblich helfen, mit dem Schmerz fertig zu werden. Ralf schien es, als ob sie sich in einer Art Totenstarre befand.

Mit gebeugtem Rücken, den Kopf nach unten gesenkt, schaute Agnes stumpf auf das Rhombenmuster im Teppich und zählte die Kästchen, wieder und wieder. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie konnte es weitergehen? Was konnte sie tun?

Abrupt sprang sie vom Sofa auf. Das unbenutzte Taschentuch segelte zu Boden. Ralf starrte ihr nach, wie sie im Zimmer ihrer Tochter verschwand, blieb einfach da sitzen, als habe sich ihre Starre auf ihn übertragen, unschlüssig, ob er ihr nachgehen sollte oder nicht. Vielleicht wollte sie ein bisschen allein sein. Obwohl niemand seine Geste sehen konnte, hob er einige Male die Schultern und ließ sie wieder fallen.

Im Kinderzimmer war es zu warm. Irgendwer hatte die Heizung auf Stufe fünf gestellt. Agnes verspürte einen heftigen Anfall von unbeherrschter Wut.

Was für eine Verschwendung! Am Ende summierten sich so in der Nebenkostenabrechnung Hunderte von Euro bloß für die Heizung.

Der weiße Plastikknopf ließ sich nur schwer zurückdrehen und sie riss unwirsch daran. Ihr Zorn verflog so schnell wie eine davon wirbelnde Windhose.

Sie starrte aus dem Fenster.

Die Dunkelheit ergriff Besitz von der kubistischen Neubauwelt draußen, überstrich die verschiedenfarbigen Balkons mit Einheitsgrau, ließ die Farben der geparkten Autos ausbleichen. Trübsinnig bewegten sich ein paar blattlose, schieferfarbene Äste wie mahnende Skelettfinger vor dem dunklen Glas hin und her.

An der linken Fensterscheibe klebten noch zwei Weihnachtsbilder, Überbleibsel aus der Adventszeit, die längst schon hatten entfernt werden sollen.

Ein feister amerikanischer Nikolaus im purpurnen Gewand mit weißem Pelzkragen, auf einem von Rentieren gezogenen Schlitten grinste den Betrachter dümmlich an. Dazu ein goldlockiger Engel mit überdimensionalen Glitzerflügeln, die Hände segnend ausgestreckt.

Zwei Scheusale der Kitschindustrie. Was ihre Tochter nur daran gefunden hatte!

Agnes mochte diesen Ramsch nicht und Josephine hatte ihr versprochen, die gesamte Dekoration selbst zu entfernen und alle Spuren von Weihnachten Anfang Januar zu beseitigen. Dazu hätte auch das Reinigen der Fenster gehört. Irgendwie war ihr entgangen, dass dies nicht geschehen war.

Sie ging dichter zum Fenster und beugte sich schwerfällig nach vorn, bis ihre Stirn die kalte Scheibe berührte.

Der Asphalt verschluckte das inquisitorische gelbe Licht der Straßenlampen. Aus dem Auspuff eines dunklen Autos entwichen weiß-graue Schwaden und verwirbelten in der frostigen Luft.

Ein Totenmonat. Nichts Lebendes da draußen. Alles war im Herbst gestorben und hatte nur Unrat und Schwärze hinterlassen. Im Takt ihres Atems beschlug die Scheibe und wurde wieder durchsichtig. Immer wiederkehrend. Milchig trüb und wieder klar.

Was wäre, wenn sie einfach aufhörte zu atmen? Änderte das irgendetwas?

Ihr Blick tastete sich zurück von der Straße, wanderte am gegenüberliegenden Betonquader nach oben, sprang von Stockwerk zu Stockwerk, von Balkon zu Balkon, hangelte sich über die Straße, landete auf dem eigenen Fensterbrett und kam nach innen. Dunkel und kalt starrten ihre Augen sie von der schwarzen Scheibe aus an.

Aus den Öffnungen des Heizungsgitters stieg noch immer die nach vertrocknetem Staub riechende Luft nach oben. Es war erst fünf und schon völlig dunkel. Dunkel, kalt, grabesstill.

Agnes zog die Übergardinen zu. Keiner sollte in das verwaiste Kinderzimmer hineinblicken können. Vorsichtig lösten sich ihre Gedanken aus der Paralyse und das Karussell begann sich zu drehen. Was könnte eine Mutter denn jetzt als nächstes tun? Was wäre denn sinnvoll? Vielleicht weitere Fotos heraussuchen, hatten die Polizisten gesagt. Sie würden irgendwann im Laufe des Nachmittags wiederkommen, mit ihr sprechen und ihr von den Fortschritten berichten.

Es war doch schon längst Nachmittag. Später Nachmittag. Eigentlich schon früher Abend, schließlich war es schon dunkel. Sie hätten längst da sein sollen. Vielleicht war doch schon etwas entdeckt worden?

Agnes schloss die Augen. Da drinnen war es auch dunkel. Die Gesichtszüge erschlafften, ihre Schultern sackten nach unten.

Sie musste irgendetwas unternehmen, um nicht vollends verrückt zu werden. Diese furchtbaren Gedanken abschalten. Ständig wollten Bilder wie faulige Gasblasen aus dem Schlamm einer Fäkaliengrube nach oben kommen, an die Grenze zum Bewusstsein schwimmen, Bilder, wie man sie im Fernsehen sah, tote Kinder, weggeworfen wie Unrat, vergraben im Wald, entsorgt in einer Mülltonne, versteckt in einer Kühltruhe, zerteilt von einem Fleischbeil, als aufgedunsene Wasserleiche im See schwimmend, tote Kinder überall, ihre gebleichten Schädel grinsten mit gebleckten Zähnen, schwarz die Höhlungen ihrer Augen …

Sie musste etwas unternehmen, schnell. Sofort.

Jetzt.

Gleich.

Augen wieder auf!

Agnes sah sich im halbdunklen Zimmer um, schlurfte zum Lichtschalter und drückte müde auf den Knopf. Die papierne Ballonlampe mit dem daran hängenden albernen Korb verdrängte die Schatten in die Ecken des Raumes.

Josephine hatte unbedingt diese Lampe haben wollen, keine andere war in Frage gekommen. In diesem Fall war sie starrsinnig bei ihrer Meinung geblieben, auch wenn Agnes ihr das Unpraktische dieses Papierballons deutlich zu machen versucht hatte. Nicht einmal ordentlich abwischen konnte man das blöde Ding. Nein – die Tochter hatte darauf bestanden. Die Leute in dem Laden waren schon aufmerksam geworden, deshalb hatte Agnes schließlich nachgeben müssen. Und da hing das unzweckmäßige Teil nun. Vielleicht war die Tochter in ihrer Fantasie in den Korb eingestiegen und weit weg geflogen, weit weg aus der trüben Neubauwelt. Agnes ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten.

Der Schreibtisch mit dem abblätternden Furnier, sehr aufgeräumt. Zusammengestückelte Teile einer Anbauwand, noch nicht sehr alt und doch schon ramponiert. Noch einen Umzug würden die Möbel wahrscheinlich nicht verkraften. Ein Kleiderschrank. Der messingfarbene Griff fühlte sich kühl an und die Schranktür knarrte unwillig beim Öffnen. Agnes öffnete auch die linke Hälfte und betrachtete die in den Fächern liegenden Kleidungsstücke. Auch hier herrschte der gewohnte Anblick. Ihre Tochter war fast immer sehr ordentlich gewesen.

Fahrig strichen ihre Hände über die sorgsam übereinander geschlichteten Pullover, befühlten die Oberfläche und spürten dabei nichts von der noppigen Struktur der Wolle.

Rechts hingen die Blusen und Kleider auf ihren Bügeln, sortiert nach Farben, eingeteilt in Sommer- und Wintersachen. Eine Bluse und eine Strickjacke fehlten. Und die abgewetzte kaffeebraune Cordhose. Agnes musste die Kleidungsstücke nicht zählen, um das festzustellen, sie wusste es auch so. Das hatte die Tochter zuletzt getragen, damit hatte sie das Haus verlassen.

Ihre letzten Kleidungsstücke.

Hör auf damit. Das führt zu nichts. Überleg lieber, was du jetzt tun kannst.

Sie schüttelte den Kopf.

Fotos. Genau. Fotos wollte sie suchen. Fotos ihrer Josephine, die zur Suche geeignet waren. Gesicht, Haar- und Augenfarbe müssten gut zu sehen sein, hatten die Polizeibeamten gesagt. Und möglichst nicht älter als ein Jahr. Kinder verändern sich schnell.

Der oberste Schreibtischkasten quietschte protestierend und ließ sich nur halb herausziehen. Stifte lagen, einer neben dem anderen, in ihrer Box, daneben rot gestreifte Büroklammern, ein neuer Radiergummi, eine Rolle Klebeband. Keine Fotos. Agnes beugte...