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Owen Meany

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600223 , 864 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[11] 1

Der Fehlschlag

Ich bin dazu verdammt, mit der Erinnerung an einen Jungen mit einer entsetzlichen Stimme zu leben – nicht wegen seiner Stimme, auch nicht, weil er der kleinste Mensch war, der mir je begegnet ist, und nicht einmal, weil er das Werkzeug zum Tod meiner Mutter war, sondern weil er der Grund ist, warum ich an Gott glaube: wegen Owen Meany bin ich Christ geworden. Ich behaupte nicht, ein Leben in Christus zu führen, oder mit Christus – und ganz bestimmt nicht für Christus, wie es einige Glaubenseiferer von sich behaupten. Meine Kenntnisse vom Alten Testament sind recht oberflächlich, und die vom Neuen Testament habe ich seit meinen Tagen in der Sonntagsschule nicht mehr aufgefrischt, abgesehen von einigen Passagen, die ich höre, wenn ich in die Kirche gehe. Etwas vertrauter bin ich mit den Bibelstellen, die im Gebetbuch stehen; in meinem Gebetbuch lese ich oft, in der Bibel nur an den hohen Kirchenfeiertagen – das Gebetbuch ist viel übersichtlicher.

Ich bin schon immer ziemlich regelmäßig zur Kirche gegangen. Früher war ich bei den Kongregationalisten – ich wurde in der kongregationalistischen Kirche getauft, und nach einigen Jahren der Verbrüderung mit der Episkopalkirche (ich wurde dort konfirmiert) wurde meine religiöse Gesinnung ziemlich vage; als Jugendlicher ging ich in eine »konfessionsfreie« Kirche. Dann wurde ich Anglikaner; die anglikanische Kirche von Kanada ist meine Kirche, seit ich die Vereinigten Staaten verließ, vor etwa zwanzig Jahren. Die Unterschiede zwischen der anglikanischen Kirche und der Episkopalkirche sind nicht sehr groß – so gering, daß mich manchmal der Verdacht beschleicht, einfach wieder zur Episkopalkirche zurückgekehrt zu sein. Jedenfalls verließ ich die [12] Kongregationalisten und die Episkopalkirche, und auch mein Land – für immer.

Wenn ich sterbe, möchte ich in New Hampshire begraben werden, neben meiner Mutter, doch die anglikanische Kirche wird die notwendige Zeremonie abhalten, ehe mein Leichnam die unwürdige Prozedur über sich ergehen lassen muß, durch den amerikanischen Zoll geschleust zu werden. Was ich für mich in der Beerdigungsliturgie ausgesucht habe, ist ganz und gar üblich und steht im Gebetbuch – mit dem Unterschied, daß es gelesen und nicht gesungen werden wird. Fast alle meine Bekannten kennen die Passage bei Johannes, die so anfängt: »…und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.« Dann kommt die Stelle: »…In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt.« Und besonders gefallen hat mir schon immer die Offenheit bei Timotheus, wo es heißt: »Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum werden wir auch nichts hinausbringen.« Es wird ein hundertprozentig anglikanischer Gottesdienst werden, dergestalt, daß meine früheren Mitkongregationalisten in den Kirchenbänken zappeln würden. Ich bin jetzt Anglikaner, und ich werde auch als Anglikaner sterben. Doch ab und zu lasse ich einen Sonntagsgottesdienst ausfallen; ich behaupte nicht, besonders fromm zu sein; meine Beziehung zur Kirche ist eher lau und muß jeden Sonntag wieder aufgewärmt werden. Was ich an Glauben habe, verdanke ich Owen Meany, einem Jungen, mit dem ich zusammen aufwuchs. Owen war es, der mich zum Gläubigen machte.

In der Sonntagsschule entwickelten wir eine Art Spiel, für das wir Owen Meany mißbrauchten, der so klein war, daß seine Füße nicht nur nicht den Boden berührten, wenn er auf dem Stuhl saß, sondern daß seine Knie nicht einmal bis zur Kante des Stuhles reichten und die Beine gerade vorstanden wie bei einer Puppe. Es sah aus, als sei Owen Meany ohne Gelenke geboren.

[13] Owen war so winzig, daß es uns ungeheuer Spaß machte, ihn hochzuheben; wir konnten es einfach nicht lassen. Wir hielten es für ein Wunder: Wie leicht er doch war. Und eigentlich paßte es gar nicht zu ihm, denn Owen kam aus einer Familie, die im Granitgeschäft tätig war. Der Granitsteinbruch der Meanys war riesig; die Werkzeuge zum Sprengen und Schneiden der Granitplatten waren schwer und wirkten gefährlich; und Granit ist ein so rauhes, solides Gestein. Doch der einzige Hauch von Granit, der Owen umgab, war der körnige Staub, dieses graue Puder, das aus seinen Kleidern fiel, wenn wir ihn hochhoben. Sein Teint hatte die Farbe eines Grabsteins; das Licht wurde von seiner Haut gleichzeitig absorbiert und reflektiert, wie bei einer Perle, so daß er manchmal geradezu durchsichtig wirkte – besonders an den Schläfen, wo seine blauen Venen durch die Haut hindurchschimmerten (als wäre seine ungewöhnliche Größe nicht der einzige Beweis dafür, daß er zu früh geboren wurde).

Entweder waren seine Stimmbänder nicht voll entwickelt, oder seine Stimme hatte vom Granitstaub einen Schaden abbekommen. Vielleicht war sein Kehlkopf nicht in Ordnung oder seine Luftröhre; vielleicht war ihm ein Granitbrocken gegen die Kehle geflogen. Um überhaupt gehört zu werden, mußte Owen durch die Nase schreien.

Trotzdem hatten wir ihn alle gern – »Püppchen« nannten ihn die Mädchen, wenn er sich hin und her wand, um ihnen, und uns allen, zu entkommen.

Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, daß wir dieses Spiel, ihn hochzuheben, zum erstenmal spielten.

Es war jedenfalls in der Christ Church, der Episkopalkirche von Gravesend, New Hampshire. Unsere Sonntagsschullehrerin war Mrs. Walker, eine abgespannte, unglücklich dreinblickende Frau. Mrs. Walker las uns immer eine lehrreiche Passage aus der Bibel vor. Dann forderte sie uns auf, ernsthaft über das nachzudenken, was wir soeben gehört hatten. »Still und ernsthaft, so sollt [14] ihr nachdenken!« meinte sie. »Ich lasse euch jetzt mit euren Gedanken alleine«, sagte sie mit unheilverkündender Stimme, als ob unsere Gedanken fähig sein könnten, uns zum Wahnsinn zu treiben. »Ihr sollt feste nachdenken«, ermahnte uns Mrs. Walker. Dann ging sie hinaus. Ich glaube, sie rauchte, und das konnte sie natürlich nicht vor unseren Augen tun. »Wenn ich wiederkomme«, sagte sie, »werden wir darüber reden.«

Bis sie dann wiederkam, hatten wir natürlich längst vergessen, worüber wir nachdenken sollten – denn sobald sie den Raum verlassen hatte, alberten wir wie verrückt herum. Weil es uns keinen Spaß machte, mit unseren Gedanken allein zu sein, hoben wir Owen Meany hoch und reichten ihn herum, über unseren Köpfen. Wir blieben dabei auf den Stühlen sitzen; das war das Reizvolle an der Sache. Einer – ich weiß nicht mehr, wer damit anfing – stand auf, packte Owen, setzte sich wieder hin, reichte ihn zum nächsten hinüber, der ihn wieder weiterreichte, und so weiter. Die Mädchen durften auch mitmachen; ein paar von ihnen waren die Eifrigsten bei diesem Spiel. Jeder konnte Owen hochheben. Wir paßten gut auf; ließen ihn niemals fallen. Sein Hemd wurde vielleicht etwas zerknittert. Sein Schlips war so lang, daß Owen ihn in die Hose steckte – sonst hätte er ihm bis an die Knie hinuntergehangen – und er rutschte oft heraus; manchmal fiel ihm das Kleingeld aus der Tasche (auf unsere Köpfe). Wir gaben ihm sein Geld immer zurück.

Wenn er seine Baseball-Sammelkarten dabei hatte, fielen ihm auch die aus der Tasche. Dann wurde er ärgerlich, denn die Karten waren alphabetisch oder nach einem anderen System geordnet, zum Beispiel steckten vielleicht alle Nahfänger zusammen. Wir kannten sein System nicht, aber offensichtlich gab es eines, denn wenn Mrs. Walker zurückkam – wenn Owen zurück an seinen Platz ging und wir ihm die Münzen und Baseballkarten zurückgaben – dann saß er immer wütend da und ordnete verbissen seine Karten.

[15] Er war an sich kein guter Baseballspieler, doch als Schlagmann hatte er den Vorteil, daß bei ihm die Schlagzone, der Bereich neben seinem Körper zwischen Achselhöhle und Knien, auf den der Werfer zielen muß, sehr klein war. Da die meisten Werfer diese Schlagzone kaum trafen, wurde er oft als Einwechselschlagmann eingesetzt, wenn es darauf ankam, zusätzliche Punkte zu holen. Nicht etwa deshalb, weil er den Ball kräftig zurückschlagen konnte (im Gegenteil, ihm wurde immer gesagt, er solle den Ball keinesfalls zurückschlagen), sondern weil der Werfer meistens die Schlagzone viermal verfehlte, und Owen konnte dann ungehindert zur ersten Base gehen, und seine Mitspieler durften um jeweils eine Base vorrücken. Er haßte es, bei Schülermannschaftsspielen auf diese Art und Weise ausgenutzt zu werden, und einmal weigerte er sich, überhaupt am Schlagmal anzutreten, wenn er nicht schlagen dürfe. Aber es gab keinen Baseballschläger, der so klein war, daß Owen beim Ausholen nicht das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Also wählte Owen Meany nach der einen Erniedrigung, ein paarmal danebenzuschlagen und dabei jedesmal umzufallen, die andere Erniedrigung, nämlich reglos am Schlagmal zu stehen, während der Werfer den vorgeschriebenen Bereich genau ins Visier nahm – und fast jedesmal danebentraf.

Dennoch liebte Owen seine Sammelkarten, und aus irgendwelchen Gründen liebte er auch das Spiel selbst, obwohl es für ihn ein grausames Spiel war. Die Werfer aus der gegnerischen Mannschaft drohten ihm. Sie sagten, wenn er nicht schlagen würde, würden sie mit dem Ball auf ihn zielen. »Dein Kopf ist schließlich größer als die Schlagzone, Kleiner«, sagte ein Werfer einmal. Und so bekam Owen manchmal ein paar Bälle ab, ehe er zur ersten Base gelangte.

Wenn er die erste Base einmal erreicht hatte, war er unschlagbar. Niemand konnte so...