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Wenn ich bleibe - Roman

Gayle Forman

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641038397 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

7.09 Uhr
Ich wache auf und sehe, dass der Rasen vor unserem Haus von einer dünnen Decke aus puderigem Weiß überzogen ist. Der Schnee liegt keine drei Zentimeter hoch, aber in diesem Teil von Oregon reicht schon ein Hauch von Pulverschnee, um alles zum Stillstand zu bringen und den einzigen Schneepflug im ganzen Bezirk auf die Straße zu treiben. Dabei sind es nicht einmal richtige Eiskristalle, sondern nur nasse Flocken, die vereinzelt aus dem Himmel fallen.
Wegen des Schnees – so wenig es auch sein mag – fällt die Schule aus. Mein kleiner Bruder Teddy stößt ein Kriegsgeheul aus, als im Radio der Ausfall des Unterrichts verkündet wird. »Schneefrei!«, brüllt er. »Komm, Dad, wir bauen einen Schneemann.«
Mein Vater lächelt und klopft leicht auf seine Pfeife. Er hat erst kürzlich mit dem Rauchen angefangen. Das gehört zu seinem Retrokick, nach dem Motto der 1950er-Jahre: Vater ist der Beste. Er trägt sogar eine Fliege. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich auf den Kram steht oder ob er damit nur alle auf den Arm nehmen will. Vielleicht ist es seine ganz eigene Art auszudrücken, dass er früher zwar ein Punk war, heute aber Mittelstufenschüler in Englisch unterrichtet. Aber vielleicht hat es ihn auch tatsächlich um Jahrzehnte zurückgeworfen, dass er Lehrer geworden ist.
»Du kannst es gerne versuchen«, sagt mein Vater zu Teddy. »Aber das Zeug bleibt ja kaum liegen. Vielleicht solltest du keinen Schneemann, sondern eine Schneeamöbe bauen.«
Es ist nicht zu übersehen, dass mein Vater glücklich ist. Der Schneestaub da draußen bedeutet, dass alle Schulen im Umkreis geschlossen bleiben, einschließlich meiner Highschool und der Schule, in der mein Vater angestellt ist. Und ein freier Tag kommt nie ungelegen. Meine Mutter, die in einem Reisebüro in der Stadt arbeitet, schaltet das Radio aus und schenkt sich eine zweite Tasse Kaffee ein. »Tja, wenn ihr heute schwänzt, dann werde ich ganz bestimmt nicht ins Büro gehen. Das wäre doch überhaupt nicht fair.« Sie nimmt den Hörer ab und sagt ihrem Chef, dass sie sich heute freinimmt. Danach schaut sie uns an. »Soll ich Frühstück machen?«
Mein Vater und ich brechen in schallendes Gelächter aus. Meine Mutter kriegt Müsli und Toast hin, mehr nicht. Mein Vater ist der Koch in der Familie.
Meine Mutter tut so, als würde sie uns nicht hören, und holt aus dem Küchenschrank eine Packung mit Fertigbackmischung. »Also bitte! Wie schwer kann das schon sein? Wer will Pfannkuchen?«
»Ich! Ich!«, brüllt Teddy. »Mit Schokostückchen, ja?«
»Warum nicht?«, erwidert meine Mutter.
Teddy stimmt sein zweites Kriegsgeheul an diesem Morgen an und wedelt wild mit den Armen.
»Du hast heute viel zu viel Energie«, sage ich. Und zu meiner Mutter gewandt: »Du solltest ihm nicht so viel Kaffee geben.«
»Er kriegt doch nur entkoffeinierten!«, gibt meine Mutter schmunzelnd zurück. »Er strotzt einfach von Natur aus vor Kraft.«
»Solange du mir keinen Seniorenkaffee gibst, ist mir das egal«, erkläre ich.
»Das wäre ja Kindesmisshandlung«, kontert mein Vater.
Meine Mutter reicht mir eine dampfende Tasse und die Zeitung.
»Da ist ein hübsches Bild von deinem Liebsten drin«, sagt sie.
»Echt? Ein Bild?«
»Ja. Viel mehr haben wir diesen Sommer ja nicht von ihm zu sehen bekommen«, sagt meine Mutter und schaut mich kurz von der Seite her an. Dabei zieht sie eine Augenbraue hoch – das versteht sie unter einem bohrenden Blick.
»Ich weiß«, sage ich, und dann seufze ich, ohne es zu wollen. Mit Adams Band »Shooting Star« geht es steil aufwärts, was wirklich toll ist – im Großen und Ganzen.
»Ach, der Ruhm – verschwendet an die Jugend«, sagt mein Vater, aber er lächelt dabei. Ich weiß, dass er sich für Adam freut, sehr sogar.
Ich blättere durch die Zeitung, bis ich den Veranstaltungskalender finde. Da steht eine kleine Notiz über »Shooting Star«, mit einem noch kleineren Bild von den vier Bandmitgliedern, direkt neben einem großen Artikel über die Band »Bikini« und einem riesigen Bild von deren Sängerin: Punkrock-Diva Brooke Vega. Die Notiz erklärt nur knapp, dass »Shooting Star«, eine Band aus dieser Stadt, in Portland als Vorgruppe für »Bikini« spielen wird, die derzeit auf landesweiter Tournee sind. Die Tatsache, dass »Shooting Star« gestern Abend ein Konzert in Seattle gegeben haben und dass der Klub laut Adam bis auf den letzten Platz ausverkauft war, wird nicht erwähnt. Adam hatte mir um Mitternacht eine SMS geschickt.
»Gehst du heute Abend hin?«, fragt mein Vater.
»Ich wollte eigentlich schon. Es kommt darauf an, ob nicht vielleicht im ganzen Land wegen des Schnees die Bürgersteige hochgeklappt werden.«
»Aber sieh doch selbst: Es ist tatsächlich ein Schneesturm«, sagt mein Vater und deutet auf eine einzelne Schneeflocke, die vor dem Fenster zu Boden trudelt.
»Ich soll mich außerdem noch bei irgendeinem Pianisten vom College melden, den Professor Christie ausgegraben hat, und einen Termin mit ihm vereinbaren.« Professor Christie, eine pensionierte Musikdozentin an der Universität, mit der ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, ist immer auf der Suche nach neuen Opfern, die mit mir spielen müssen. »Das hält dich auf Trab, damit du all den Snobs in Juilliard zeigen kannst, wie man es richtig macht«, sagt sie.
Ich bin noch nicht einmal in Juilliard aufgenommen, obwohl das Vorspielen ziemlich gut lief. Die Bach-Suite und das Stück von Schostakowitsch sind aus mir herausgeflossen wie noch nie zuvor, als ob meine Finger eine Verlängerung von Saiten und Bogen wären. Als ich fertig war – keuchend, mit zitternden Beinen, weil ich sie so fest zusammengepresst hatte -, hat einer der Juroren tatsächlich applaudiert, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Ich nehme an, das passiert dort nicht sehr oft. Als ich aus dem Zimmer schlurfte, erklärte mir derselbe Juror, es sei eine ganze Weile her, dass man in der Schule ein »Oregon-Mädchen vom Lande« gesehen habe. Professor Christie nahm seine Worte als Garantie, dass ich die Prüfung bestanden hätte. Ich bin mir allerdings nicht so sicher. Und ich bin mir auch nicht hundertprozentig sicher, dass ich es will. Genauso wie »Shooting Stars« kometenhafter Aufstieg würde meine Aufnahme in Juilliard einige Probleme mit sich bringen, oder, besser gesagt, die Schwierigkeiten, die sich in den letzten Monaten entwickelt haben, noch weiter vergrößern.
»Ich brauche noch mehr Kaffee. Sonst noch jemand?«, fragt meine Mutter und baut sich neben unserer uralten Kaffeemaschine auf.
Ich ziehe den Geruch des Kaffees durch die Nase ein, das reiche, dunkle, ölige Aroma der französischen Marke, die wir alle lieben. Allein schon der Duft muntert mich auf. »Ich glaube, ich gehe wieder ins Bett«, sage ich. »Mein Cello ist in der Schule, also kann ich nicht mal üben.«
»Nicht üben? Vierundzwanzig Stunden lang nicht üben? Da hüpft mir ja das Herz im Leib!«, grinst meine Mutter. Obwohl sie sich mit den Jahren an die klassische Musik gewöhnt hat – »das ist so ähnlich, als müsste man lernen, einen stinkenden Käse zu genießen« -, ist sie nicht immer ein dankbares Publikum für meine endlosen Übungsstunden.
Von oben ertönt ein Krachen und Dröhnen. Teddy hämmert auf seinem Schlagzeug herum. Es hat früher meinem Vater gehört, als er noch in einer Band spielte, die in unserer Stadt ganz groß herauskam, anderswo aber völlig unbekannt blieb. Nebenbei arbeitete er in einem Plattenladen.
Mein Vater grinst über den Krach, den Teddy veranstaltet. Bei dem Anblick verspüre ich einen vertrauten Stich. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe mich schon oft gefragt, ob mein Vater wohl enttäuscht darüber ist, dass es mich nicht zur Rockmusik hingezogen hat. Ich habe es ja versucht. Aber dann, in der dritten Klasse, bin ich eines Tages im Musikunterricht zum Cello geschlendert – es wirkte auf mich fast menschlich. Es sah so aus, als ob ich es nur in die Hand nehmen müsste, damit es mir seine Geheimnisse anvertrauen würde. Und so fing ich an zu spielen. Seitdem sind fast zehn Jahre vergangen, und ich habe nicht mehr damit aufgehört.
»So viel zu deinem Plan, wieder ins Bett zu gehen.« Meine Mutter muss brüllen, um Teddys Radau zu übertönen.
»Schaut euch das an, der Schnee schmilzt schon wieder«, sagt mein Vater. Ich gehe zur Hintertür und werfe einen Blick hinaus. Ein Flecken aus Sonnenlicht glüht dort, wo die Wolken aufgerissen sind, und ich kann hören, wie sich das Eis zischend in Tropfen verwandelt. Ich mache die Tür wieder zu und gehe zurück in die Küche.
»Meiner Meinung nach haben die Behörden überreagiert«, sage ich.
»Mag sein, aber ihre Entscheidung können sie nicht mehr...