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Denn nie bist du allein - Roman

Deborah Crombie

 

Verlag Goldmann, 2010

ISBN 9783641038182 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

1
London … Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen
nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so
groß wie ausgewachsene Schneeflocken, die in schwarzen
Kleidern den Tod der Sonne betrauern wollen.
Charles Dickens, Bleakhaus
 
 
Es genügte ein einziges Streichholz, platziert in einem kleinen Hohlraum zwischen zerknülltem Papier und Chipstüten aus Plastik. Das Feuer glomm, dann loderte es knisternd auf, und binnen Sekunden leckten Flammenzungen an den untersten Möbeln, die irgendjemand praktischerweise im Erdgeschoss des alten Lagerhauses gestapelt hatte. Nichts brennt so gut wie Polyurethan-Schaumstoff, und die billigen Sessel, Sofas und Matratzen, die man aus den Wohnungen in den oberen Stockwerken heruntergeschafft hatte, waren alt genug, um noch nicht mit Brandverzögerer behandelt zu sein.
Ein Geschenk. Es war ein Geschenk. Er hätte es selbst nicht besser planen können. Die Möbel würden genügend Hitze erzeugen, um einen Flashover auszulösen, und dann würden die alten Holzdielen und Deckenbalken brennen wie Zunder. Das Feuer würde ein Eigenleben entwickeln, losgelöst von seinem Urheber.
Und das Feuer besaß Macht, das hatte er schon früh gelernt; die Macht, zu berauschen und zu verwandeln; die Macht, Staunen und Entsetzen auszulösen. In der Schule hatte er zum ersten Mal von dem großen Brand in der Tooley Street im Jahre 1861 gehört; heute kam es ihm merkwürdig vor, dass er ausgerechnet an diesem Ort seine Berufung entdeckt hatte.
Die Feuersbrunst hatte zwei Tage lang gewütet und dabei Hafengebäude und Lagerhäuser auf einer Länge von fast dreihundert Metern vernichtet – ein Ausmaß von Zerstörung, wie es die Stadt seit dem großen Feuer von 1666 nicht mehr gekannt hatte und wie sie es bis zu den deutschen Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg nicht mehr erleben würde.
Es hatte natürlich auch andere Brände gegeben: Mustard Mills 1814, Topping’s Wharf 1843, Bankside 1855; es kam ihm vor, als seien Feuer für Southwark eine Notwendigkeit wie Geburt und Tod, eine elementare Bedingung für Wachstum und Erneuerung.
Die Hitze begann sein Gesicht zu versengen; die Haut über seinen Wangenknochen und an seiner Stirn fühlte sich gespannt an, Rauch und entweichende Gase stiegen ihm beißend in die Nase. Das Feuer war jetzt so richtig in Gang gekommen; es bahnte sich seinen Weg tief in die aufgestapelten Möbel hinein und züngelte unvermittelt an anderer Stelle wieder hervor. Es war Zeit zu gehen, aber noch zögerte er, noch konnte er sich nicht losreißen von diesem Quell der Energie, der ihm mehr bedeutete als sexuelle Befriedigung – der ihm einen Blick ins Herz des Lebens selbst gewährte. Wenn er sich ihm ganz und gar hingäbe, wenn er sich davon verzehren ließe, würde sich ihm dann endlich die tiefere Wahrheit offenbaren?
Aber noch widerstand er der Versuchung, sich ganz auszuliefern. Er schüttelte sich, kniff die brennenden Augen zusammen und sah sich noch ein letztes Mal um. Er musste sich vergewissern, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Dann schlich er sich auf demselben Weg hinaus, auf dem er gekommen war. Er würde aus der Ferne zusehen, wie das Feuer zu seinem unabwendbaren Höhepunkt hin anwuchs, und dann … dann würde es schon bald das nächste geben. Es gab immer ein nächstes Feuer.
 
Am liebsten mochte Rose Kearny die Nachtschicht – wenn es ganz still war auf der Wache, bis auf die gedämpften Stimmen im Bereitschaftsraum, wo alle den ihnen zugewiesenen Aufgaben nachgingen. Es war ein beruhigendes Gefühl, diese Geborgenheit im Kreis der Kameraden, wenn draußen alles dunkel war, genau wie die allmähliche Entspannung nach einem Einsatz. Und sie schätzte sich glücklich, hier in Southwark gelandet zu sein, auf derselben Wache, wo sie ihre Ausbildung absolviert hatte – die zudem die geschichtsträchtigste von ganz London war.
Zusammen mit ihrem Kollegen Bryan Simms überprüfte sie die Atemschutzausrüstung nach dem ersten Alarm dieser Nacht – eine alte Dame hatte sich in ihrer Sozialwohnung ein Abendessen machen wollen und war eingenickt, während die Bratkartoffeln auf dem Herd brutzelten. Zum Glück hatte ein Nachbar den Rauch sehr bald bemerkt; sie hatten den Brand mühelos unter Kontrolle bringen können, und die Frau war ohne ernstliche Verletzungen davongekommen.
Aber jeder Einsatz, ganz gleich wie geringfügig, erforderte eine sorgf ältige Überprüfung aller benutzten Ausrüstungsgegenstände. Heute Nacht waren sie und Bryan dem Angriffstrupp zugeteilt, und ihr Leben hing davon ab, dass die Geräte richtig funktionierten – wie auch davon, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Simms, mit seinen dreiundzwanzig ein Jahr älter als Rose, war genauso solide und zuverlässig, wie es sein ehrliches, offenes Gesicht vermuten ließ, und neigte absolut nicht zur Panik.
Jetzt sah er zu ihr auf, als hätte er ihren Blick gespürt, und legte konzentriert die Stirn in Falten. »›Was ist ein Name?‹«, fragte er, wie um ein unterbrochenes Gespräch wieder aufzunehmen. »›Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.‹«
Im ersten Moment war Rose zu verblüfft, um etwas erwidern zu können. Nicht, dass sie es nicht gewohnt gewesen wäre, wegen ihres Namens oder wegen ihres hellen Teints und ihrer blonden Haare aufgezogen zu werden – aber das war das erste Mal, dass einer ihrer Kollegen bei der Feuerwehr sich bei Shakespeare bedient hatte.
Bryan, der ihr Schweigen als Ermutigung wertete, fuhr grinsend fort: »›Doch die gepflückte Ros’ ist irdischer beglückt, als die, am unberührten Dorne welkend, wächst, lebt und stirbt in heil’ger Einsamkeit...‹«<
»Schnauze, Simms«, unterbrach ihn Rose mit mühsam unterdrücktem Lachen. Sie war zugegebenermaßen beeindruckt, dass er sich die Mühe gemacht hatte, die Zeilen auswendig zu lernen. »Hätte nie gedacht, dass du auf Shakespeare stehst.«
»Das Zweite gefällt mir besonders. Ist aus dem Sommernachtstraum«, sagte Simms, und sie fragte sich, ob sie es sich nur eingebildet hatte oder ob sie tatsächlich einen Anflug von Schamröte auf seiner dunklen Haut bemerkt hatte.
»Was du nicht sagst«, gab Rose lächelnd zurück. »Und auch noch Romeo und Julia. Hast ja ganz schön was auf dem Kasten.« Ihr Vater war Englischlehrer am Gymnasium gewesen und hatte sie schon mit Shakespeare-Zitaten traktiert, ehe sie sprechen gelernt hatte. »Aber halt lieber die Augen offen«, fügte sie mit einem Blick auf das Gerät hinzu, das unbeachtet vor ihm lag. »Wäre doch zu blöd, wenn du einen Riss in dem Schlauch da übersehen würdest.«
Sie hatte sechs Monate vor Bryan auf der Feuerwache Southwark angefangen, und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihn daran zu erinnern, dass sie die Dienstältere war. Sie hatte es schon schwer genug als Frau in diesem Beruf, der immer noch weitgehend eine Männerdomäne war; da konnte sie keinen Kollegen gebrauchen, der irgendwelche romantischen Flausen über ihre Beziehung im Kopf hatte.
Rose war ehrgeizig, sie wollte es eines Tages vielleicht gar zur Brandoberinspektorin bringen, und sie hatte nicht die Absicht, sich mit einer Aff äre am Arbeitsplatz den Weg zu verbauen. Sie ging durchaus gerne mal aus und hatte auch nichts gegen einen kleinen Flirt, aber nicht mit jemandem aus ihrem eigenen Revier. Und der Job ließ einem nun einmal keine Zeit für eine richtige Beziehung. Wenn man gut sein wollte, musste man mit dem Job aufstehen und zu Bett gehen, musste ihn essen, trinken, atmen. Sie wollte mehr erreichen, als nur ein Feuer löschen zu können; sie wollte das Wie und Warum begreifen, und in der Brandermittlung boten sich die besten Karrierechancen.
Es war inzwischen nach Mitternacht, und sie hatte vor, die verbleibende Zeit zum Lernen zu nutzen, solange alles ruhig blieb. Gerade hatte sie das Atemschutzgerät verstaut und ihre Bücher ausgepackt, als der Alarm zum zweiten Mal in dieser Nacht ertönte.
Rose verspürte den vertrauten Adrenalinstoß, und im nächsten Moment rannte sie mit Bryan und den übrigen Kameraden von der Nachtschicht zum Gerätehaus. Während sie sich an der Stange zu den Fahrzeugen hinunterließen, rief der Offizier vom Dienst über die Lautsprecheranlage: »Gespann!«, was bedeutete, dass sowohl die Drehleiter als auch das Tanklöschfahrzeug benötigt wurden. Wie von einem eigenen Willen beseelt, vollführten Roses Hände die vertrauten Bewegungen, als wäre es ein Ritual: das Zuknöpfen der Schutzjacke, das Schließen des Halsschutzes, das Zurückstreifen ihrer Haare, bevor sie den Helm aufsetzte und den Kinnriemen stramm zog; das Festschnallen des...