dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Erfindung des Lebens - Roman

Hanns-Josef Ortheil

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2010

ISBN 9783641034207 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

1
DAMALS, IN meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt, und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater, der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche unter dem Arm.
Jedes Mal sah er gleich hinauf zu meinem Fenster, und wenn er mich erkannte, blieb er einen Moment stehen und winkte. Mit hoch erhobener Hand winkte er mir zu, und jedes Mal winkte ich zurück und sprang wenig später vom Fensterbrett hinab auf den Boden. Dann behielt ich ihn fest im Blick, wie er den ovalen Platz überquerte und sich dem Haus näherte, er schaute immer wieder zu mir hinauf, und jedes Mal ging beim Hinaufschauen ein Lachen durch sein Gesicht.
Wenn er nur noch wenige Meter von unserem Haus entfernt war, eilte ich zur Wohnungstür und wartete darauf, dass sich die schwere Haustür öffnete. Ich blieb im Flur stehen, bis Vater oben bei mir angekommen war, meist packte er mich sofort mit beiden Armen, hob mich hoch und drückte mich fest. Für einen Moment flüchtete ich mich in seinen schweren Mantel, schloss die Augen und machte mich klein, dann gingen wir zusammen in die Wohnung, wo Vater den Mantel auszog und die Tasche ablegte, um nach Mutter zu schauen.
 
Das Erste, was er in der Wohnung tat, war jedes Mal, nach Mutter zu schauen. Wo war sie? Ging es ihr gut? Sie saß meist im Wohnzimmer, in der Nähe des Fensters, heute kommt es mir beinahe so vor, als habe sie in all meinen ersten Kinderjahren ununterbrochen dort gesessen. Kaum ein anderes Bild habe ich aus dieser Zeit so genau in Erinnerung wie dieses: Mutter hat den schweren Sessel schräg vor das Fenster gerückt und die helle Gardine beiseite geschoben. Neben dem Sessel steht ein rundes, samtbezogenes Tischchen, darauf eine Kanne mit Tee und eine winzige Tasse, Mutter liest.
Oft liest sie lange Zeit, ohne sich einmal zu rühren, und oft schleiche ich mich in diesen stillen Leseraum, ohne dass sie mich bemerkt. Ich kauere mich leise irgendwohin, gegen eine Wand oder vor das große Bücherregal, ich warte. Irgendwann wird sie etwas Tee trinken und von ihrer Lektüre aufschauen, das ist der Moment, in dem sie auf mich aufmerksam wird. Sie schaut etwas erstaunt, ich schaue zurück, ich versuche, herauszubekommen, ob ich mich zu ihr ans Fenster setzen darf … Manchmal ging es ihr damals nicht gut, ich spürte es bereits am frühen Morgen, weil sie alles in einer anderen Reihenfolge als sonst tat und sich zwischendurch häufig ausruhte. Dann hatte ich sie den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis in die Nacht, im Blick. Meist aber beobachteten wir beide zugleich, was der andere jeweils gerade tat, denn wir beide, Mutter und ich, gehörten damals so eng zusammen wie sonst kaum zwei andere Menschen. Das jedenfalls glaubte ich fest, ja, ich weiß noch genau, dass ich manchmal sogar glaubte, nichts könnte uns beide je trennen, niemand, nichts auf der Welt.
 
Am frühen Abend aber kam Vater, und Vater gehörte noch hinzu zu uns beiden. Er war der Dritte im Bunde, er verließ die gemeinsame Wohnung am frühen Morgen und war oft den ganzen Tag lang in der freien Natur unterwegs. Vater arbeitete als Vermessungsingenieur für die Bahn, und wenn er am Abend nach Hause kam, schaute er zuerst, wie es um uns beide so stand. Nach dem Ablegen von Mantel und Tasche ging er hinüber zu Mutter, er beugte sich etwas zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Einen kleinen Moment hielt sie sich an ihm fest, und es sah so aus, als klammerten sich die beiden eng aneinander. Doch spätestens, wenn Vater zu sprechen begann, lösten sie sich wieder aus der kurzen Umklammerung und waren danach ein wenig verlegen, weil sie nicht wussten, wie es nun weitergehen sollte.
Meist stellte Vater dann einige kurze Fragen, wie geht es Dir, ist alles in Ordnung, was gibt es Neues, und Mutter reagierte darauf wie immer stumm, indem sie ihm den kleinen Packen mit Zetteln zuschob, die sie während des Tages beschrieben hatte. Die Zettel lagen neben der Kanne mit Tee auf dem runden Tisch, sie wurden durch ein rotes Gummi zusammengehalten und sahen aus wie ein kleines, fest geschnürtes Paket, das Vater zu öffnen hatte. Er steckte es zunächst aber nur in die rechte Hosentasche und ging dann, die Hand ebenfalls in der Tasche, ins Bad.
 
Die Tür des Badezimmers ließ er offen, so dass ich zusehen konnte, wie er zum Waschbecken ging, den Wasserhahn aufdrehte, etwas Wasser in die hohle Hand laufen ließ und zu trinken begann. Wenn er genug getrunken hatte, fuhr er sich mit beiden Händen mehrmals durchs Gesicht, manchmal schöpfte er auch noch ein zweites Mal Wasser, ließ es sich über den Kopf laufen, griff nach einem Handtuch und blickte kurz in den Spiegel. Meist schaute er sehr ernst in den Spiegel, viel ernster, als er sonst schaute, dann fuhr er sich mit dem Handtuch über die Stirn und trocknete sich die Haare.
Nach Verlassen des Bades kam er gleich in die Küche und sah nach, ob es dort etwas zu erledigen gab, er musterte den großen Tisch, auf dem oft eine Zeitung oder die Post lagen, beides rührte Mutter niemals an, ich habe sie ausschließlich Bücher lesen sehen, nichts sonst, keine Zeitung, auch sonst nichts Gedrucktes, höchstens einmal einen Brief, aber auch den nur, wenn sie wusste, wer ihn geschrieben hatte. Überhaupt hatte sie gegenüber allem, was sie in die Hand nehmen sollte, eine starke Berührungsangst. Als Kind hielt ich diese Vorsicht für etwas Normales und übernahm instinktiv etwas davon, wie Mutter blieb auch ich zu allem Neuen zunächst auf Distanz, ich umkreiste es, betrachtete es länger und genauer als üblich und brauchte meist erst ein Motiv oder etwas Überwindung, um mich bestimmten Gegenständen oder Menschen zu nähern.
 
Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen, obwohl ich selbst noch gar nicht erlebt hatte, dass ihr in meinem Beisein etwas Schlimmes zugestoßen war. Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste. Mehr jedoch wusste ich noch nicht, ich kannte keine Details, und ich hörte auch niemals jemanden von dieser Vergangenheit sprechen, obwohl sie doch ununterbrochen gegenwärtig war. Gegenwärtig war sie dadurch, dass Mutter nicht sprach, gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.
 
Damals dachte ich mir, dass sie die Sprache irgendwann einmal verloren haben musste, wusste aber nicht, wann und wodurch das geschehen war. Eine Mutter, die immer sprachlos gewesen war, konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, nein, so weit gingen meine Vermutungen nicht, schließlich erlebte ich ja jeden Tag, dass sie lesen und schreiben konnte, und folgerte daraus, sie habe neben Lesen und Schreiben auch einmal das Sprechen beherrscht.
Natürlich wäre es am einfachsten gewesen, jemanden danach zu fragen, das aber war nicht möglich, weil auch ich selbst kein Wort sprach, sondern stumm war wie meine Mutter. Mutter und ich – wir bildeten damals ein vollkommen stummes Paar, das so fest zusammenhielt, wie es nur ging. Ich hatte, wie schon gesagt, Mutter im Blick und sie wiederum mich, wir achteten genau aufeinander. Meist ahnte ich sogar, was sie als Nächstes tat, vor allem aber wusste ich oft, wie sie sich fühlte, ich spürte es sehr genau und direkt und manchmal war diese direkte Empfindung sogar so stark, dass ich ganz ähnlich fühlte wie sie.
 
Wenn Vater nach Hause kam, war sie zum Beispiel meist unruhig, sie stand nach der Begrüßung und nachdem Vater Wasser getrunken und den Kopf unter das Wasser gehalten hatte, auf, legte die Bücher beiseite und schaute nach, ob Vater sich nun auch der Zettel annahm, die sie während des Tages beschrieben hatte. Vater, Mutter und ich, die ganze Kleinfamilie Catt befand sich wenige Minuten nach Vaters Rückkehr zusammen in der Küche, wo Vater mit der Lektüre der Zettel und dem lauten Vorlesen all dessen begann, was Mutter vom frühen Morgen an aufgeschrieben und notiert hatte.
Dieses Zusammensitzen war ein Familienritual, wie alles, was ich gerade beschrieben und wovon ich erzählt habe, ein Ritual war: Mutters Lesen, mein Warten auf Vaters Heimkehr, sein Aufenthalt im Badezimmer und danach in der Küche. Wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich dieses Ritual von Vaters Heimkehr in immer derselben Reihenfolge ablaufen, als hätte es eine geheime Vorschrift oder sogar ein Gesetz gegeben, dass alles genau so und nicht anders abzulaufen hatte. Wie Darsteller in einem Stück waren wir drei aufeinander bezogen, beinahe jeden Tag handelten wir in derselben Weise, und niemand von uns störte sich an...