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Der Totenleser - Roman

Antonio Manuel Garrido

 

Verlag Aufbau Verlag, 2012

ISBN 9783841204936 , 640 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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9,99 EUR


 

8


Er fand Mei Mei genau so vor, wie er sie verlassen hatte: Tapfer wachte die Kleine über den Schinken. Zur Belohnung schnitt Ci ihr eine dicke Scheibe ab. Während das Mädchen aß, wechselte Ci seine weiße Trauerkleidung gegen einen Anzug aus grobem Leinen, der seinem Vater gehört hatte. Er war schmutzig, aber wenigstens würde man ihn nicht gleich erkennen. Dann schnürte er einen Beutel mit Kleidung, den übrigen Lebensmitteln und Münzen – und dem Strafgesetzbuch. Den Wechsel über fünftausend Qian steckte er in eine Tasche, die er unter der Kleidung Mei Meis versteckte, schließlich warf er sich das Bündel über die Schulter und nahm die Kleine bei der Hand.

»Hast du Lust, Boot zu fahren?« Er kitzelte sie, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Du wirst schon sehen, dass es dir gefällt.«

Sie gingen auf einem Umweg zur Anlegebrücke. Cis erster Gedanke war gewesen, auf dem nördlichen Landweg nach Lin’an zu reisen, doch weil es die gängigste Verbindung war, beschloss er, sie zu meiden. Auf dem Wasserweg waren sie zweifellos sicherer, wenn es auch umständlicher schien.

Zur Erntezeit legten zahlreiche Reisbarkassen in Richtung zum Meerhafen von Fuzhou ab, ebenso wie kleine, mit wertvollen Hölzern beladene Lastkähne. Eines von diesen Booten mussten sie finden. Wenn sie das östliche Meer erst erreicht hätten, führen sie ein Etmal weiter die Küste hinauf zur Hauptstadt.

Da Ci befürchtete, Bao-Pao könnte schon Alarm geschlagen haben, vermied er die Hauptanlegestelle und ging stattdessen zum südlichen Ende des Landeplatzes, wo die Feldarbeiter mit dem Ausladen beschäftigt waren. Ein Alter mit fleckiger Haut balancierte auf einer halb versunkenen Schaluppe und sah zu, wie seine Bootsmänner sich an den Tauen zu schaffen machten. Ci hörte, wie einer von ihnen rief, dass sie bald aufbrechen müssten, wenn sie pünktlich in Lin’an sein wollten, also wartete er ab, bis der Alte wieder auf dem Festland stand, um ihn darum zu bitten, sie mitzunehmen. Der Mann war erstaunt, denn üblicherweise verhandelten die Dorfbewohner direkt mit der Schifffahrtsgesellschaft.

»Ich schulde dem Reeder Geld, das ich jetzt nicht bezahlen kann«, sagte Ci und bot ihm eine Handvoll Münzen an, die der Alte mit einem Kopfschütteln ablehnte.

»Das ist nicht genug. Außerdem ist das Boot klein, und du siehst ja, wie beladen es ist.«

»Herr, ich bitte Euch. Meine Schwester ist krank, und sie braucht Medizin, die man nur in Lin’an bekommt.«

»Dann fahr mit der Kutsche nach Norden.«

»Bitte … Die Kleine wird die Reise auf dem Landweg nicht überstehen.«

»Das ist hier kein Armenhaus. Wenn du an Bord willst, musst du noch mal in deinem Beutel wühlen.«

Ci versicherte ihm, dass er ihm alles böte, was er besäße, doch der Alte wurde nicht weich. Allein, den Wechsel erwähnte er nicht.

»Ich werde den ganzen Tag arbeiten.«

»Mit diesen Händen?«

»Lasst Euch nicht von meinem Aussehen täuschen … Ich werde hart arbeiten, und wenn nötig, bezahle ich den Rest, wenn wir an Land gehen.«

»In Lin’an? Und wer wartet da auf dich? Der Kaiser mit einem Sack voll Gold?« Der Alte sah skeptisch von der kleinen Mei Mei zu dem Jungen in dem zerlumpten Anzug. Die beiden würden seinen Männern keine große Hilfe sein. Schließlich spuckte er den Reis aus, den er die ganze Zeit im Mund herumgeschoben hatte, und fluchte.

»Verdammt sei Buddha! Einverstanden, Junge. Du wirst tun, was ich sage, und wenn wir in Lin’an ankommen, wirst du alles ganz alleine ausladen, bis auf den letzten Stamm.Verstanden?«

Ci dankte ihm, als schuldete er ihm sein Leben.

Einmal an Bord, half Ci den beiden Bootsmännern, mit Bambusstangen die Barkasse aus dem Schlamm herauszumanövrieren, während Wang, der Bootsführer, unter Rufen und Verwünschungen das Steuer bediente. Und endlich glitt das vollkommen überladene Boot auf den Fluss hinaus und brachte sie für immer fort aus dem Dorf.

Cis Arbeit beschränkte sich zunächst darauf, mit einem Stock die Zweige abzuhalten, die das Boot auf seinem Weg passierte, und mit Hilfe eines geliehenen Angelhakens zu fischen. Von Zeit zu Zeit kontrollierte der Bootsmann im Bug die Tiefe der Fahrrinne, während der im Heck die Barkasse mit der Stange vom Grund abstieß, sobald die Strömung schwächer wurde. Als die Sonne unterging, warf der Bootsführer in der Mitte des Flusses den Anker aus, zündete eine Papierlaterne an, die einen Schwarm Mücken anzog, und verkündete, dass sie bis zum Sonnenaufgang ruhen würden. Ci baute ein Schlaflager zwischen zwei Säcken für Mei Mei und setzte sich neben sie. Sie aßen ein wenig gekochten Reis zu Abend, den die Besatzung zubereitet hatte, und ehrten die Geister ihrer Eltern. Bald war nur noch das Plätschern des Wassers zu hören. Doch die Stille der Nacht verhinderte nicht, dass Ci von Angst und Sorge überwältigt wurde. Wie sollten Mei Mei und er sich in Lin’an durchschlagen?

Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen, indem er sich einredete, dass die guten Geister der Eltern doch weiter in ihrer Nähe blieben und für sie sorgten. Von klein auf hatte er gelernt, den Tod als ein natürliches und unvermeidliches Ereignis zu sehen: Mütter starben bei der Geburt ihrer Kinder, Kinder wurden tot geboren oder ertränkt, wenn die Eltern nicht genügend besaßen, um sie zu ernähren, die Alten starben auf den Feldern, erschöpft, krank und verlassen. Überschwemmungen radierten ganze Dörfer von der Landkarte, Taifune und Stürme ließen ihre Wut an den Unvorsichtigen aus. Die Minen verlangten ihren Tribut, ebenso wie die Flüsse und Meere, es gab Hungersnöte, Krankheiten, Morde … Der Tod war so allgegenwärtig wie das Leben, und trotzdem haderte er mit dem einen wie mit dem anderen. Obwohl er wusste, dass alles, was auf Erden geschah, Konsequenz und Strafe menschlichen Verhaltens war, fand er keine passende Erklärung für seine Situation, die seine schmerzende Seele beruhigte.

Mit dem ersten Licht des anbrechenden Tages kehrte wohltuende Geschäftigkeit auf das Boot zurück. Inzwischen bevölkerten Dutzende Passagier- und Fischerboote den Fluss wie eine Plage. Wang holte gerade den Anker ein und rief seinen Männern Befehle zu, als eine Schaluppe, die von einem alten Fischer gesteuert wurde, gegen die Bordwand stieß. Zu spät bemerkte Wang, dass der Alte ihr Boot beschädigt hatte.

»Verdammte Nichtsnutze! Die sollten alle ersaufen!«, fluchte er und untersuchte kopfschüttelnd die Seitenwand. »Diese Missgeburt hat ein Loch reingeschlagen! Das müssen wir reparieren, oder wir verlieren die Fracht.«

Glücklicherweise befanden sie sich wenige Li vor Jianningfu, dem Hauptkreuzungspunkt der Kanäle der Präfektur, wo sie das nötige Material zum Reparieren des Lecks finden würden. Bis dahin würden sie sich dicht am Ufer halten, obwohl sie damit das Risiko eingingen, von Banditen überfallen zu werden, die plündernd umherstreiften. Aus diesem Grund beauftragte Wang Ci und seine Männer, die Augen offenzuhalten und Alarm zu schlagen, falls sich jemand der Barkasse näherte.

Die Anlegebrücke von Jianpu glich einem Wespennest aus Händlern, Viehhändlern, Bauern aller Art, improvisierten Krämern, Dschunkenbauern, Fischern, Bettlern, Prostituierten und Gaunern, die sich auf eine Art durcheinandermischten, dass es beinahe unmöglich war, Erstere von Letzteren zu unterscheiden. Der Gestank von vergammeltem Fisch überlagerte den ranzigen Schweißgeruch und die Gerüche, welche die an den Ständen ausgelegten Lebensmittel verströmten.

Gleich nachdem sie angelegt hatten, kam ein Männlein mit zerlumpter Kleidung und Ziegenbart herbeigelaufen, um die Anlegegebühren zu kassieren, doch der Bootsführer jagte ihn mit Fußtritten fort und rief ihm nach, dass er nicht nur keine Waren ausladen werde, sondern dass sein Halt dem Zusammenstoß mit einem Unfähigen geschuldet war, der mit Sicherheit von diesem Steg abgelegt hatte.

Während Wang an Land ging, um einige Einkäufe zu machen, beauftragte er Ze, den ältesten der Besatzungsmitglieder, Bambus und Hanf für die Reparatur zu kaufen, und den jüngsten, zusammen mit Ci bis zu seiner Rückkehr in der Barkasse zu bleiben.

Der jüngere Bootsmann murrte, Ci jedoch freute sich, Mei Mei nicht aufscheuchen zu müssen, die zusammengerollt zwischen zwei Reissäcken schlief. Sie zitterte wie ein Welpe, also deckte Ci sie mit einem leeren Sack zu, um sie vor der Brise zu schützen, die von den Bergen herüberwehte. Er holte einen Eimer Wasser und begann die wenigen freiliegenden Planken des Schiffes zu putzen, während der Bootsmann sich die Zeit damit vertrieb, die Prostituierten zu beobachten, die auf und ab stolzierten. Nach einer Weile spuckte der Bootsmann die Wurzel aus, auf der er herumgekaut hatte, und sagte zu Ci, dass er an Land gehen und eine Runde drehen wolle. Ci nickte und wischte unbekümmert weiter.

Plötzlich trat eine junge Frau in einer roten Tunika an den Kahn. Ihre enganliegende Kleidung betonte ihre wunderschöne Figur, und als sie Ci anlächelte, entblößte sie eine Reihe perfekter Zähne. Ci errötete, als das Mädchen ihn fragte, ob das Boot ihm gehöre.

»Nein … Ich … Ich passe nur darauf auf«, stotterte er.

Das Mädchen griff sich an den Dutt, wie um ihn zurechtzurücken. Sie schien sich für ihn zu interessieren, und das verunsicherte ihn, denn außer mit Kirschblüte und den zwei Kurtisanen, mit denen er und Richter Feng sich in den Teesalons angefreundet hatten, hatte er nie mit fremden Frauen gesprochen. Das Mädchen ging weiter am Landungssteg auf und ab. Nach einer Weile...