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Haut - Psychothriller

Mo Hayder

 

Verlag Goldmann, 2010

ISBN 9783641029807 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

2
Tief in den regennassen Mendip Hills in Somerset liegen acht überflutete Kalksteinbrüche. Sie wurden schon vor langer Zeit stillgelegt; ihre Eigentümer haben sie durchnummeriert, von eins bis acht, und sie liegen in einem hufeisenförmigen Halbkreis beieinander. Nummer acht, am südöstlichen Ende, grenzt beinahe unmittelbar an das, was in der Umgebung als Elf’s Grotto bezeichnet wird: die Elfengrotte, ein System aus tropfenden Höhlen und Gängen, die tief in die Erde hinunterreichen. Den regionalen Mythen zufolge führen geheime Ausgänge aus diesem Höhlensystem in die alten römischen Bleibergwerke, und in alten Zeiten haben die Elfen in Elf’s Grotto die Tunnel als Fluchtwege benutzt. Manche sagen, wegen all der Sprengungen im zwanzigsten Jahrhundert münden diese Tunnel jetzt direkt in die gefluteten Steinbrüche.
Sergeant »Flea« Marley, die Leiterin der Unterwasser-Sucheinheit der Avon and Somerset Police ließ sich kurz nach vier an einem klaren Mainachmittag in den Steinbruch Nummer acht gleiten. Sie dachte nicht an geheime Eingänge. Sie suchte nicht nach Löchern in der Wand. Sie dachte an eine Frau, die seit drei Tagen vermisst war. Die Frau hieß Lucy Mahoney, und die Profis an Land glaubten, ihre Leiche könnte hier unten sein, irgendwo unter dieser weiten Wasserfläche, eingerollt in den Tang auf einem dieser Simse.
Flea tauchte zehn Meter hinunter und bewegte den Unterkiefer hin und her, um den Druck in ihren Ohren auszugleichen. In dieser Tiefe war das Wasser von einem gespenstischen, fast graugrünen Blau, und nur ein zarter Hauch von milchigem Kalksteinstaub schwebte da, wo ihre Flossen ihn aufgewirbelt hatten. Perfekt. Normalerweise herrschte in dem Wasser, in dem sie tauchte, null Sichtweite – als würde sie durch eine Suppe schwimmen, sodass sie ganz auf ihren Tastsinn angewiesen war -, aber hier unten konnte sie mindestens drei Meter weit sehen. Sie entfernte sich von der Einstiegsstelle und hangelte sich an der Kalksteinwand entlang, bis der Zug der Sicherungsleine konstant war. Sie erkannte jedes Detail, jede sich wiegende Wasserpflanze, jeden Steinblock auf dem Grund. Jede Stelle, an der eine Leiche hätte landen können.
»Sarge?« Police Corporal Wellard, ihr Leinenführer, sprach in sein Funkmikrofon, und seine Stimme ertönte in ihrem Ohr, als stünde er neben ihr. »Sehen Sie was?«
»Ja«, murmelte sie. »Ich sehe die Zukunft.«
»Hä?«
»Ich kann in die Zukunft sehen, Wellard. Ich sehe, wie ich in einer Stunde völlig durchgefroren hier auftauche. Und ich sehe die Enttäuschung in allen Gesichtern, weil ich mit leeren Händen komme.«
»Wieso?« »Keine Ahnung. Ich glaube nur nicht, dass sie hier unten ist. Fühlt sich nicht so an. Seit wann wird sie vermisst?«
»Seit zweieinhalb Tagen.«
»Und ihr Wagen. Wo war der geparkt?«
»’ne halbe Meile weit von hier. Auf der B 3135.«
»Hielt man sie für depressiv?«
»Ihr Exmann wurde im Zusammenhang mit der Vermisstenmeldung befragt. Er sagt ganz entschieden, sie war es nicht.«
»Und sonst keine Verbindung mit dem Steinbruch? Nichts, was ihr gehört? Sie war nicht schon öfter hier oder so was?«
»Nein.«
Flea paddelte mit den Flossen ein Stück weiter, und die Nabelschnur – die Luft- und Sprechfunkleitung, die sie mit der Oberfläche verband – wehte sanft hinter ihr her. Steinbruch Nummer acht war ein berüchtigter Ort für Selbstmörder. Vielleicht hatte der polizeiliche Fahndungsberater, Stuart Pearce, die Ansicht der Familie über Lucy Mahoney nicht geteilt. Vielleicht hatte er deshalb diese spezielle Nadel in die Landkarte gestochen und sie zu dieser Suchaktion eingeteilt. Entweder das – oder er klammerte sich an einen Strohhalm. Sie war Stuart Pearce schon begegnet. Vermutlich war Letzteres der Fall.
»Konnte sie schwimmen, Wellard? Ich hab vergessen, danach zu fagen.«
»Ja. Sie war eine gute Schwimmerin.«
»Dann muss sie sich mit einem Gewicht belastet haben, wenn sie Selbstmord begangen hat. Mit einem Rucksack oder so was. Das bedeutet, sie muss sich nah am Rand befinden. Lassen Sie uns die Suche im Pendelmuster durchführen, bis auf zehn Meter hinaus.«
»Äh, Sarge, da gibt’s ein Problem. Bei zehn Metern kommen Sie tiefer als fünfzig Meter.«
Wellard besaß einen Plan des Steinbruchs. Flea hatte ihn oben studiert. Als die Steinbruchfirma fingerförmige Löcher gebohrt hatte, um den Sprengstoff hineinzuschieben, hatten sie zehn Meter lange Bohrer benutzt, und folglich war das Gestein – bevor sie die Pumpen abschalten und das Wasser in den Steinbruch strömen ließen – in zehn Meter dicken Scheiben abgesprengt worden. An einem Ende betrug die Wassertiefe zwanzig bis dreißig Meter, am anderen war es tiefer; da ging es mehr als fünfzig Meter hinunter. Die Vorschrift der Gesundheits- und Sicherheitsabteilung war eindeutig: Kein Polizeitaucher hatte die Genehmigung, tiefer als fünfzig Meter zu tauchen. Niemals.
»Sarge? Haben Sie gehört? Am Ende des Suchbogens wären Sie fünfzig Meter tief. Vielleicht tiefer.«
Sie räusperte sich. »Haben Sie das ganze Bananenbrot aufgegessen?«
»Hä?«
An diesem Morgen vor Dienstantritt hatte sie Bananenbrot für das ganze Team gebacken. So etwas tat sie normalerweise nicht. Sie war die zweitjüngste nach Wellard und der Boss, aber sie bemutterte niemanden. Und sie hatte es nicht getan, weil sie gern backte. Sie hatten in letzter Zeit schlimme Zeiten durchgemacht: Einer von ihnen hatte aus psychischen Gründen Sonderurlaub, und nach dem, was er zu Anfang der Woche hatte durchmachen müssen, würde er wahrscheinlich nicht zurückkehren. Dazu kamen ihre miesen Launen; in den letzten zwei Jahren war es ein Albtraum gewesen, mit ihr zu arbeiten. Ab und zu musste sie ihnen etwas zurückgeben.
»Haben wir, ja. Aber Sarge, da sind ein paar Senken, die weit über fünfzig Meter tief sind.«
»Auf wessen Seite stehen Sie, Wellard? Auf unserer oder auf der des Sicherheitsbeauftragten?«
Schweigen. Besser gesagt, Wellards lautloses Murren. Wenn es darum ging, sich wie ein altes Weib aufzuführen, steckte er mühelos das ganze Team in die Tasche. »Okay. Aber wenn Sie es wirklich machen wollen, werde ich den Lautsprecher leiser stellen. Der ganze Steinbruch kann Sie hören, und wir haben heute eine Zuschauergalerie.«
»Wieso?«
»Da ist eine Verkehrsstreife vorbeigekommen, um zu gucken, und die stehen jetzt da oben auf den Zementstaubdünen. Ich glaube, sie trinken Kaffee.«
»Ich nehme an, dieser bescheuerte Fahndungsberater ist nicht dabei, oder?«
»Noch nicht.«
»Wie schön.« Jetzt wurde sie sarkastisch. »Es wird nur manchmal als höflich empfunden, wenn der Fahndungsberater seinen Arsch ebenfalls aus dem Bett bewegt, wenn er ein Team rausjagt wie in diesem Fall.«
Sie wurde langsamer. Im dunkler werdenden Wasser vor ihr spannte sich ein Netz über ihren Weg. Dahinter lag der Abschnitt, wo der Grund auf über fünfzig Meter abfiel. Das Wasser dort wirkte dunkler und blauer. Kälter. Der Bereich war so unsicher, dass die Firma dort ein Netz gespannt hatte, um die Hobbytaucher, die hier manchmal ihre Übungen absolvierten, zurückzuhalten. Sie griff in das Netz, schaltete die Tauchlampe ein und richtete den Lichtstrahl auf den Boden des Steinbruchs, der dort steil abfiel.
Sie war Pearce erst einmal begegnet, aber das hatte genügt. Sie würde sich von ihm nicht einschüchtern lassen. Selbst wenn es bedeutete, gegen alle Berufsregeln zu verstoßen – sie würde den Teufel tun und die Suche hier abbrechen. Rechts neben sich entdeckte sie ein in Beton eingelassenes Schild. Die Worte waren grün von Algen: Gefahr: Tiefe über 50 Meter. Stichprobenkontrollen der Tauchcomputer in diesem Bereich. Tauchen Sie nicht jenseits Ihrer Fähigkeiten.
Eine gute Stelle, um den Tauchcomputer aufzuhängen, dachte sie. Nimm das Gerät vom Handgelenk, häng es an einen der Nägel, und auf dem Rückweg kannst du es wieder abholen. Niemand würde nachher bei einer Kontrolle merken, dass du tiefer als fünfzig Meter getaucht bist. Die Computereinheit oben registrierte kein Tauchprotokoll. Solche Tricks hatte ihr Dad angewandt, als er noch lebte. Er war ein Extremsporttaucher gewesen, und er hatte alles getan, um die Grenzen immer weiter zu verschieben und so tief zu tauchen, wie er wollte.
Mit ihrem Tauchermesser schnitt sie ein Loch in das Netz. Dann nahm sie vorsichtig den Tauchcomputer ab und hängte ihn an das Schild. Mit eingeschalteter Lampe glitt sie durch die Öffnung und folgte dem Lichtstrahl hinunter in die Dunkelheit.
Der Steuerstrich ihres Kompasses lag hart auf Nordwest, als sie anfing abwärtszuschwimmen, tiefer und immer tiefer; sie folgte der Felsformation und blieb ungefähr zwei Meter darüber. Wellard rollte die Führungsleine hinter ihr ab. Der Plan hatte gestimmt: Es war tief hier. Sie glitt langsam nach unten,...