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Das Weihnachtsglas - Roman

Jason F. Wright

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641044497 , 144 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

VIER (S. 24-25)

Je näher Weihnachten rückte, desto düsterer wurde Hopes Stimmung, bis sie am vierundzwanzigsten Dezember ihren Tiefpunkt erreicht hatte. Müde vom Weinen und der Sehnsucht nach ihrer Mutter verbrachte sie ihren ersten Heiligen Abend ganz allein bei Chuck’s. Mit dem Abschiedsbrief ihrer Mutter als Trost in der Hosentasche stocherte sie in ihrem Essen herum und reagierte nur verhalten auf die guten Wünsche der anderen Gäste.

»Dies war die Lieblingszeit deiner Mutter«, sagten die Frauen. »Hör mal, Hope«, sagten die Männer, »ruf uns an, wenn du was brauchst. Wirklich, mach das. Möchtest du heute Abend zu uns kommen, damit du nicht so allein bist?« Hope wehrte alle gutgemeinten Angebote ab und hockte drei Stunden an ihrem Tisch, bis Chuck und seine Frau verkündeten, es sei Zeit, das Restaurant zu schließen. »Dürfte ich vielleicht noch etwas bleiben?«, fragte Hope.

»Natürlich«, erwiderte Chuck, schickte seine Frau nach Hause und beschäftigte sich in der Küche. Hope sollte so lange bleiben, wie sie wollte. Kurz nach acht dankte sie ihm, gab ihm einen Kuss auf die Wange und fuhr heim, um die letzten einsamen Stunden des Tages zu verschlafen. Doch als sie in den Gang zu ihrem Apartment einbog, erstarrte sie, denn die Wohnungstür stand einen Spaltbreit offen. »Hallo?« Sie schob sie ein wenig weiter auf und rief in ihrer gefährlichsten Stimme: »Mein Mann und ich sind wieder da. Wir kommen jetzt rein und sind bewaffnet.« Sie stieß die Tür ganz auf und trat einen Schritt vor.

»Wie ich schon sagte: Wir sind bewaffnet.« Dann machte sie einen weiteren Schritt nach vorn und erblickte ein Chaos, als wäre ein Tornado durch ihre Wohnung gefegt. Ihr Herz raste, und sie konnte nur flach atmen, dennoch schob sie sich vorsichtig ins Wohnzimmer. Dort erstarrte sie erneut, nur ihre Augen bewegten sich und überflogen die ganze Bescherung. Die Stereoanlage, der billige Fernseher und zwei Kristallpferde, die ihr Louises Bruder erst vor einem Jahr geschenkt hatte, waren weg.

Die alte fluoreszierende Lampe, die sie schon seit Monaten durch eine andere hatte ersetzen wollen, war umgekippt und zerbrochen. Nachdem sich Hope überzeugt hatte, dass die Einbrecher weder unter der Couch lagen, noch sich hinter ihren Kleidern im Schlafzimmerschrank versteckt hatten, durchsuchte sie die ganze Wohnung.

Alle Schubladen in Küche und Schlafzimmer waren herausgezogen. Gestohlen war die Armbanduhr, die sie als Kind von ihrer Mutter bekommen, aber nie getragen hatte, weil sie Angst hatte, sie kaputt zu machen oder - schlimmer noch - zu verlieren. Gestohlen waren auch die fünfhundert Dollar für Notfälle, die sie und ihre Mutter immer in einem Umschlag unter dem Besteckkasten aufbewahrt hatten. Sie wählte den Notruf, und zehn Minuten später kamen drei Polizisten und untersuchten ihre Wohnung.

Hope, hin- und hergerissen zwischen Tränen und Tobsuchtsanfall, begab sich auf der Suche nach etwas Privatsphäre nach draußen und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Häuserwand. Die eisige Nachtluft kühlte ihre Wangen. Obwohl es vollkommen natürlich gewesen wäre, konnte sie jetzt doch nicht weinen, sondern dachte unwillkürlich an ihre Mutter. Ach, komm schon, Mom. So was passiert doch nur anderen. In dem Versuch, sich warm zu halten, rieb sie sich die Hände und schob sie schließlich in ihre Ärmel. Dann überlegte sie, wie lange ihre Mutter für andere geputzt hatte.

Über vierzig Jahre. Und in all diesen Häusern, bei all diesen Familien wurde niemals eingebrochen? Hättest du mir nicht ein bisschen von deinem Glück dalassen können? Als Hope ihr Zähneklappern nicht mehr ertragen konnte, ging sie wieder hinein. Doch vor ihrer Wohnungstür stolperte sie über eine braune Papiertüte. Sie wollte sie hochheben, ließ sie aber fast auf ihren Fuß fallen, weil sie viel schwerer war als erwartet. Sie griff hinein und holte ein großes Einmachglas hervor, das bis zum Rand mit Geld gefüllt war - Kleingeld größtenteils, aber hier und da entdeckte sie auch einen Zwanzigdollarschein. Sie ging mit dem Glas zu einem der Polizisten. »Gehört das Ihnen?« »Nein, Ma’am. Das stand plötzlich da. Wir dachten, es sei Essen vom Lieferservice oder so.«

Der Beamte fuhr fort, Fingerabdrücke vom Griff der Wohnungstür zu nehmen. Hope fragte auch die beiden anderen Polizisten, die ebenfalls Spuren sicherten. Doch mehr, als dass es eine halbe Stunde zuvor noch nicht dagestanden hatte, konnten sie nicht über das Glas sagen. Wahrscheinlich sei es ein Geschenk. Ihr seid ja Genies, dachte Hope. Es war noch nicht spät, daher klopfte sie bei ihren unmittelbaren Nachbarn rechts und links. Auch die wussten nichts über das Glas, waren aber gern bereit, es zu nehmen, falls sie es nicht wollte. In die gegenüberliegende Wohnung war erst kurz zuvor eine alleinstehende, ruhige, aber selbstbewusste Frau eingezogen, die zwar ebenfalls nichts gesehen hatte, ihr aber riet, sich einfach zu freuen.