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Allwissend - Thriller

Jeffery Deaver

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641042516 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Kapitel 2
Der schwache Lichtschein – blassgrün, wie von einem Geist – tanzte knapp außerhalb ihrer Reichweite.
Wenn sie ihn doch nur erreichen könnte.
Wenn sie den Geist erreichen könnte, wäre sie gerettet.
Der Schimmer, der in der Dunkelheit des Kofferraums schwebte, baumelte wie zum Hohn ein Stück oberhalb ihrer Füße, die genau wie ihre Hände mit Isolierband gefesselt waren.
Ein Geist …
Ein weiteres Stück Klebeband verschloss ihren Mund, und sie sog die schale Luft durch die Nase ein. Dabei hielt sie sich bewusst zurück, als könnte der Kofferraum ihres Camry nur ein gewisses Maß an Sauerstoff fassen.
Ein schmerzhafter Aufprall, als der Wagen durch ein Schlagloch fuhr. Sie stieß einen kurzen, gedämpften Schrei aus.
Von Zeit zu Zeit glommen andere schwache Lichter auf: ein mattes Rot, wenn er auf die Bremse trat, der Blinker. Draußen blieb es finster; es war kurz vor ein Uhr morgens.
Der leuchtende Geist schaukelte vor und zurück. Es handelte sich um die Notentriegelung des Kofferraums: ein Handgriff aus lumineszierendem Kunststoff, versehen mit dem komischen Abbild eines Mannes, der aus dem Wagen sprang.
Aber der Griff blieb knapp außerhalb der Reichweite ihrer Füße.
Tammy Foster hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr zu weinen. Sie war in Tränen ausgebrochen, gleich nachdem der Angreifer sie auf dem düsteren Parkplatz des Clubs von hinten gepackt, ihr den Mund zugeklebt, die Hände auf den Rücken gebunden und sie in den Kofferraum gestoßen hatte, wo er ihr auch noch die Füße fesselte.
Starr vor Angst hatte die Siebzehnjährige gedacht: Er will nicht, dass ich ihn zu Gesicht bekomme. Das ist gut. Er will mich nicht töten.
Er will mich bloß einschüchtern.
Sie hatte sich im Kofferraum umgesehen, den baumelnden Geist entdeckt und versucht, ihn mit den Füßen packen zu können, aber er rutschte immer wieder zwischen ihren Schuhen hindurch. Tammy befand sich in guter körperlicher Verfassung, spielte Fußball und war Cheerleader. Doch aufgrund des ungünstigen Winkels konnte sie die Beine stets nur für ein paar Sekunden anheben.
Der Geist entzog sich ihr.
Das Auto fuhr weiter. Mit jedem Meter wuchs Tammy Fosters Verzweiflung. Sie fing wieder an zu weinen.
Nicht, nicht! Deine Nase wird verstopfen, und du erstickst.
Sie riss sich zusammen.
Eigentlich musste sie um Mitternacht zu Hause sein. Ihre Mutter würde sie vermissen – falls sie nicht betrunken auf der Couch lag, weil es mit ihrem aktuellen Freund irgendein Problem gab.
Ihre Schwester würde Tammys Abwesenheit bemerken müssen, sofern sie nicht im Internet oder am Telefon hing. Was natürlich der Fall war.
Pling.
Das gleiche Geräusch wie zuvor schon einmal: das Klirren von Metall, als er etwas auf die Rückbank geladen hatte.
Tammy dachte an einige Gruselfilme, die sie gesehen hatte. Brutale, abstoßende Streifen. Mit Folter und Mord. Wofür Werkzeuge benutzt wurden.
Denk an was anderes. Tammy konzentrierte sich auf den baumelnden grünen Geist der Notentriegelung.
Und vernahm ein neues Geräusch. Das Meer.
Schließlich hielten sie, und er schaltete den Motor aus.
Die Rückleuchten erloschen.
Das Auto schaukelte, als der Mann sich auf dem Fahrersitz umwandte. Was machte er da? Irgendwo in der Nähe ertönte der kehlige Ruf einer Robbe. Sie befanden sich an einem Strand, der zu dieser Nachtzeit vollkommen menschenleer sein würde.
Eine der Wagentüren ging auf und wieder zu. Eine zweite wurde geöffnet. Abermals das metallische Klirren von der Rückbank.
Folter … Werkzeuge.
Die Tür wurde lautstark zugeworfen.
Und Tammy Foster brach zusammen. Sie fing an zu schluchzen und schaffte es kaum noch, die schlechte Luft einzuatmen. »Nein, bitte, bitte!«, rief sie, obwohl die Worte durch das Klebeband erstickt wurden und wie eine Art Stöhnen klangen.
Tammy schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, während sie auf das Klicken des Kofferraumdeckels wartete.
Die Wogen brachen sich. Die Robben schrien.
Sie würde sterben.
»Mama.«
Doch dann … nichts.
Der Kofferraum ging nicht auf, auch keine der Wagentüren, und es näherten sich keine Schritte. Nach drei Minuten bekam Tammy das Weinen in den Griff. Die Panik ließ nach.
Fünf Minuten vergingen, und er hatte den Kofferraum noch immer nicht geöffnet.
Zehn Minuten.
Tammy lachte leise und ungläubig auf.
Es war bloß blinder Alarm. Der Kerl würde sie nicht töten oder vergewaltigen. Jemand hatte sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt.
Sie verzog den Mund unter dem Klebeband sogar zu einem Lächeln, als der Wagen sich plötzlich ein winziges Stück bewegte. Das Lächeln verschwand. Der Camry schaukelte erneut in einer sanften Bewegung vor und zurück, allerdings etwas stärker als beim ersten Mal. Sie hörte ein Plätschern und erschauderte. Tammy wusste, dass eine Welle gegen das vordere Ende des Wagens geschlagen war.
O mein Gott, nein! Er hatte sie hier am Strand zurückgelassen, und nun kam die Flut!
Der Wagen sank in den Sand ein, weil das Wasser die Reifen unterspülte.
Nein! Sie hatte vor kaum etwas so viel Angst wie vor dem Ertrinken. Und davor, an einem engen Ort wie diesem festzustecken. Es war unvorstellbar. Tammy fing an, gegen den Kofferraumdeckel zu treten.
Doch natürlich war außer den Robben niemand da, der sie hätte hören können.
Das Wasser umspielte nun geräuschvoll die Seiten des Toyotas.
Der Geist …
Es musste ihr einfach irgendwie gelingen, den Entriegelungshebel zu ziehen. Tammy streifte sich mühsam die Schuhe ab und versuchte es von Neuem. Ihr Kopf drückte sich fest gegen den Teppich, und ihre Füße hoben sich quälend langsam dem schimmernden Handgriff entgegen. Sie bekam ihn zu beiden Seiten mit den Zehen zu fassen und presste die Beine so fest zusammen, dass ihre Bauchmuskeln zitterten.
Jetzt!
Mit Krämpfen in den Beinen zog sie den Geist nach unten.
Ein leises metallisches Geräusch.
Ja! Es funktionierte!
Aber dann stöhnte sie entsetzt auf. Sie hatte mit ihren Füßen den Handgriff herausgezogen, ohne den Kofferraum zu öffnen. Der grüne Geist lag nun neben ihr. Der Kerl musste das Kabel durchgeschnitten haben! Und zwar gleich nachdem er sie in den Kofferraum geworfen hatte. Der Griff hatte nur noch locker in der Öse gebaumelt, ohne weiterhin mit dem Entriegelungskabel verbunden zu sein.
Sie steckte fest.
Bitte, hilf mir doch jemand, betete Tammy erneut. Zu Gott, zu einem Passanten, sogar zu ihrem Entführer, der vielleicht doch noch etwas Mitleid mit ihr haben würde.
Aber die einzige Antwort war das ungerührte Gluckern des Salzwassers, das allmählich in den Kofferraum sickerte.
 
Das Peninsula Garden Hotel liegt versteckt in der Nähe des Highway 68 – jener ehrwürdigen Trasse, die ein mehr als dreißig Kilometer langes Diorama namens »Die vielen Gesichter von Monterey County« darstellt. Die Straße schlängelt sich von der Salatschüssel der Nation – Salinas – nach Westen und streift dabei das grüne Tal des Himmels, die dynamische Rennstrecke Laguna Seca, diverse Bürobauten und Firmengelände, dann das staubige Monterey und das von Kiefern und Hemlocktannen geprägte Pacific Grove. Am Ende entlässt der Highway die Fahrer – zumindest jene, die die abwechslungsreiche Strecke auf voller Länge befahren – am legendären Seventeen Mile Drive, der Heimat einer hier weitverbreiteten Spezies: Leute mit Geld.
»Nicht schlecht«, sagte Michael O’Neil zu Kathryn Dance, als sie aus seinem Wagen stiegen.
Der Blick der Frau wanderte durch eine schmale Brille mit grauem Gestell über das in einer Mischung aus spanischem und Art-déco-Stil gehaltene Haupthaus und das halbe Dutzend angrenzender Gebäude. Das Hotel besaß Klasse, wenngleich es ein wenig altmodisch und angestaubt wirkte. »Schick. Gefällt mir.«
Während sie dort standen und in der Ferne gerade so eben noch der Pazifische Ozean zu sehen war, versuchte Dance, eine Expertin für Kinesik – Körpersprache -, ihren Begleiter zu durchschauen, aber der Chief Deputy aus der Ermittlungsabteilung des Monterey County Sheriff’s Office erwies sich als harte Nuss. Der stämmige Mittvierziger mit dem grau melierten Haar war freundlich, aber still, solange er seinen Gesprächspartner nicht gut kannte. Und sogar dann blieb seine Mimik und Gestik eher sparsam. Aus kinesischer Sicht gab er nur wenig von sich preis.
Im Augenblick jedoch erkannte Dance, dass er kein bisschen nervös war, trotz des Anlasses für ihre Fahrt hierher.
Ganz im Gegensatz zu ihr selbst.
Kathryn Dance, eine schlanke Frau Mitte dreißig, hatte ihr dunkelblondes Haar heute wie so oft zu einem festen Zopf geflochten, der in einem leuchtend blauen Band endete. Ihre Tochter hatte es an jenem Morgen für sie ausgesucht und zu einer ordentlichen Schleife gebunden. Dance trug einen langen schwarzen Faltenrock sowie ein passendes Jackett über einer weißen Bluse, dazu schwarze Halbstiefel mit fünf Zentimeter hohen Absätzen. Sie hatte diese Schuhe monatelang bewundert, sich mit dem Kauf dann aber nur so lange zurückhalten können, bis sie im Preis herabgesetzt worden waren.
O’Neil hatte eine seiner drei oder vier Zivilmonturen angelegt: Stoffhose,...