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Der Kuss des Killers - Roman

J.D. Robb

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641040376 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


Sie war vom Tod umgeben. Sie begegnete ihm täglich bei der Arbeit, erlebte ihn in jeder Nacht in irgendeinem Traum. Lebte stets in seiner Nähe, kannte seine Geräusche, seine Gerüche, ja selbst seine Textur. Sie konnte, ohne zusammenzuzucken, in sein dunkles, bösartiges Antlitz blicken, was ihre Rettung war. Denn sie wusste, der Tod war der trickreichste von allen Feinden. Man brauchte nur zu zucken, brauchte nur zu blinzeln, und schon veränderte er seine Position, seine Gestalt, schon konnte es geschehen, dass er den Kampf gewann.

Selbst nach zehn Jahren als Polizistin war sie noch nicht abgestumpft. Konnte sie den Tod nicht akzeptieren. Wenn sie ihm entgegensah, dann mit der stählernen Entschlossenheit der alten Kriegerin.

Auch in diesem Augenblick starrte Eve Dallas auf den Tod. In Gestalt eines Menschen, der ein Mitglied ihrer eigenen Truppe gewesen war.

Frank Wojinski war ein guter, ein solider Cop gewesen. Einige hätten ihn vielleicht ein wenig schwerfällig genannt. Sie erinnerte sich an ihn als einen umgänglichen Mann - jemand, dem nie auch nur die leiseste Beschwerde über den Fraß in der New Yorker Polizeikantine oder über die Berge von Papierkram, die mit seinem Job verbunden waren, über die Lippen gekommen war. Oder, dachte Eve, darüber, dass er es mit zweiundsechzig nicht weiter gebracht hatte als zum Detective-Sergeant.

Er hatte, obwohl es im Jahre 2058 eher ungewöhnlich war, auf Körperformung und andere Möglichkeiten der Verjüngung zu verzichten, einen leichten Bauchansatz gehabt und sein Haar natürlich ergrauen und dünner werden lassen. Jetzt, in dem durchsichtigen Sarg, auf dem ein einzelnes, trauriges Liliensträußchen lag, wirkte er wie ein friedlich schlafender Mönch aus einer anderen Zeit.

Und tatsächlich stammte er aus einer anderen Zeit. Er hatte am Ende des vorherigen Jahrtausends das Licht der Welt erblickt und auch noch die innerstädtischen Revolten hautnah miterlebt, jedoch seltener davon gesprochen als so viele andere ältere Cops. Frank hatte, statt mit Kriegsgeschichten anzugeben, lieber die neuesten Schnappschüsse oder Hologramme seiner Kinder und Enkelkinder herumgezeigt.

Er hatte gerne schlechte Witze erzählt, über Sport geredet und hatte eine Schwäche für Sojaburger und würzige Essiggurken gehabt.

Ein Familienmensch, sagte sich Eve, ein Mann, dessen Tod große Trauer hinterließ. Tatsächlich fiel ihr niemand ein, der Frank Wojinski gekannt und ihn nicht geliebt hätte.

Er war gestorben, als er noch das halbe Leben vor sich gehabt hatte; vollkommen allein, als das Herz, das alle für so groß und stark gehalten hatten, einfach stehen geblieben war.

»Gott verdammt.«

Eve drehte sich um und ergriff den Arm des Mannes, der neben sie getreten war. »Tut mir Leid, Feeney.«

Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der Hand durch das drahtige rote Haar und seine müden Augen füllten sich mit Tränen. »Wenn er im Dienst gestorben wäre, wäre es einfacher für mich. Damit käme ich irgendwie zurecht. Aber dass plötzlich sein Herz aufhört zu schlagen, während er gemütlich in seinem Sessel sitzt und sich im Fernsehen ein Footballspiel ansieht, ist einfach nicht richtig, Dallas. Ein Mann in seinem Alter sollte nicht so abrupt aufhören zu leben.«

»Ich weiß.« Unsicher, wie sie Feeney trösten sollte, schlang sie einen Arm um seine Schulter und führte ihn sanft fort.

»Er hat mich ausgebildet. Hat sich um mich gekümmert, als ich noch ein blutiger Anfänger war. Hat mich nie im Stich gelassen.« In seinen Augen schwammen Tränen und seine Stimme schwankte. »Frank hat in seinem ganzen Leben niemanden jemals im Stich gelassen.«

»Ich weiß«, wiederholte Eve, da es sonst nichts zu sagen gab. Sie kannte Feeney als einen harten, zähen Brocken, und die Schwäche, die er mit einem Mal in seiner Trauer zeigte, erfüllte sie mit Angst.

Sie führte ihn an den anderen Trauergästen vorbei. Der Raum war zum Bersten mit Polizisten und Angehörigen des Toten angefüllt. Und wo es Polizisten und Tote gab, gab es ganz sicher Kaffee. Oder zumindest etwas, was man an einem Ort wie diesem Kaffee nannte. Eve füllte eine Tasse und drückte sie Feeney entschieden in die Hand.

»Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Ich kann es nicht begreifen.« Er atmete vorsichtig aus. Er war ein kräftiger, etwas untersetzter Mann, der seine Trauer ebenso offen wie seinen zerknitterten Mantel trug. »Ich habe bisher nicht mit Sally gesprochen. Meine Frau ist momentan bei ihr. Ich bringe es noch nicht übers Herz.«

»Das ist vollkommen in Ordnung. Ich habe auch noch nicht mit ihr gesprochen.« Um sich zu beschäftigen, schenkte sich Eve, auch wenn sie nicht die Absicht hatte, ihn tatsächlich zu trinken, ebenfalls einen Kaffee ein. »Wir alle sind von seinem Tod total erschüttert. Ich hatte keine Ahnung, dass er herzkrank war.«

»Das wusste niemand«, antwortete Feeney leise. »Keiner von uns hat es gewusst.«

Eine Hand auf Feeneys Schulter, sah sich Eve in der überfüllten, überhitzten Halle um. Wenn ein Kollege im Dienst ums Leben kam, hatten sie die Möglichkeit, wütend zu sein und sich darauf zu konzentrieren, den Schuldigen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn sich der Tod jedoch heimlich von hinten an jemanden heranschlich, konnte man niemandem einen Vorwurf machen. Und niemanden bestrafen.

Der gesamte Raum war von einer Atmosphäre der Hilflosigkeit erfüllt, einer Hilflosigkeit, die sie selbst ebenfalls empfand. Schließlich konnte man weder mit seiner Waffe noch mit der geballten Faust etwas gegen das Schicksal ausrichten.

Der Leiter des Bestattungsinstituts lief in seinem altmodischen schwarzen Anzug und mit einem derart wächsernen Gesicht, dass er aussah wie einer seiner Kunden, durch die Gegend und sprach den Anwesenden mit ernster Miene tröstende Worte zu. Eve dachte, lieber stünde sie einer aufrecht sitzenden und boshaft grinsenden Leiche gegenüber als sich diese Platituden anhören zu müssen.

»Warum gehen wir nicht zusammen zu seiner Familie hinüber?«

Auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel, nickte Feeney und stellte die noch volle Kaffeetasse vorsichtig auf den Tisch. »Er hat dich gern gehabt, Dallas. ›Das Mädchen hat Nerven wie Stahl und einen erstaunlich wachen Geist‹, hat er immer zu mir gesagt, und dass er, wenn er jemals in der Klemme säße, gern von dir den Rücken freigehalten bekäme.«

Auch wenn Eve diese Worte überraschten und erfreuten, verstärkten sie doch gleichzeitig die Trauer. »Ich hatte keine Ahnung, dass er so von mir dachte.«

Feeney sah sie an. Sie hatte ein nicht wirklich schönes, so doch interessantes Gesicht, das mit seinen Ecken und Kanten und dem kleinen Grübchen mitten auf dem Kinn die Blicke der Männer auf sich zog. Der eindringliche und gleichermaßen skeptische Blick der Polizistin ließ Feeney oft vergessen, dass in ihren goldbraunen Augen häufig ein überraschend warmer Glanz lag. Ihr Haar hatte dieselbe seidig weiche Farbe, leider jedoch säbelte sie für gewöhnlich selbst daran herum, sodass von einem ordentlichen Schnitt ganz sicher nicht gesprochen werden konnte. Sie war groß und schlank und überraschend zäh.

Vor weniger als einem Monat hatte er sie angetroffen, als sie zerschunden und blutüberströmt, die Waffe jedoch immer noch fest in ihrer Hand, zur Rettung ihres eigenen Mannes angetreten war.

»So hat er von dir gedacht. Und so denke ich ebenfalls von dir.« Als sie verwundert blinzelte, straffte er die für gewöhnlich schlaff herabhängenden Schultern. »Also, gehen wir und reden mit Sally und den Kindern.«

Sie schoben sich durch das Gedränge in der Halle, deren Ambiente aufgrund der unechten dunklen Holzpaneele, der schweren roten Vorhänge und des süßlichen Gestanks allzu vieler in einen viel zu kleinen Raum gestopfter Blumen allzu bedrückend war.

Eve fragte sich, weshalb Tote immer inmitten von zahllosen Blumen und schweren roten Stoffen aufgebahrt wurden. In welcher uralten Zeremonie hatte dieses Brauchtum seinen Ursprung und weshalb klammerten sich die Menschen derart verzweifelt an dieses Ritual?

Sie war sich sicher, wenn ihre Zeit gekommen wäre, würde sie nicht in einem überhitzten, mit halb verrotteten Blumen voll gestopften Raum von ihren Lieben und ihren Kollegen verabschiedet werden wollen.

Dann sah sie Sally, die von ihren Kindern und Enkeln gestützt wurde, und ihr wurde klar, derartige Riten waren für die Lebenden. Den Toten waren sie egal.

»Ryan.« Sally streckte ihre kleinen, beinahe feengleichen Hände aus, ließ sich von Feeney auf die bleiche Wange küssen und schloss dabei kurz die Augen.

Sie war eine schmale, sanfte, wie Eve immer gedacht hatte, zart besaitete Frau. Doch um als Polizistengattin über vierzig Jahre lang den Stress dieses Berufs zu überstehen, hatte sie sicher Nerven wie Drahtseile gebraucht. Über ihrem schlichten schwarzen Kleid trug sie an einer Kette den Ring, der ihrem Mann anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläums bei der Polizei überreicht worden war.

Ein weiteres Ritual, überlegte Eve. Ein weiteres Symbol.

»Ich bin so froh, dass du hier bist«, murmelte Sally.

»Er wird mir fehlen. Er wird uns allen fehlen.« Feeney tätschelte ihr unbeholfen die Hand. Vor lauter Trauer brachte er kaum einen Ton heraus. Doch als er das Gefühl herunterschluckte, legte es sich kalt und schwer wie...