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Creamtrain

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602289 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[5] Eins

Spätabends um elf Uhr zwanzig sah ich Los Angeles unter mir liegen: das endlose Gitternetz leuchtender Punkte. Müde wie ich war, versuchte ich, das Vibrieren der Triebwerke zu verfolgen, wie es durch das angespannte Metallgefüge zu meinem Sitz gelangte. Ich war mir sicher, einen plötzlichen Wechsel im Rhythmus zu spüren, ein Vakuum in der Frequenz. Ich versuchte auch, unten die Leuchtschriften zu entziffern, wie sie stückweise aus dem Dunkel auftauchten, und die Konturen der Freeways nahe am Meer.

Es gefiel mir nicht, so im Leeren zu kreisen, schräg geneigt und fast ohne Gleichgewicht, im Schweben gehalten durch bloße Maschinengewalt. Die gelben Sitzbezüge mit lila Blumen gefielen mir nicht, der Gesamteindruck, den sie Reihe um Reihe machten. Die Stewardessen gefielen mir nicht, die miteinander plauderten und ihre Halstücher festbanden und auf die Uhr sahen, ohne sich um die Passagiere zu kümmern.

Wir gingen ein Stückchen tiefer, beinahe senkrecht, und die Aussicht entglitt mir auf allen Seiten. Das machte mir Angst, aber mehr noch Wut. Ich hielt die Hände fest um die Lehnen geklammert, den Kopf nach hinten gedrückt und die Beine gestreckt. Mir wurde schwindlig, ich wollte woanders sein.

Neben mir saß ein Mädchen mit einem richtigen Mondgesicht: kleine und eng zusammenstehende Augen, flächige Wangen. Sie las ein Buch und warf keinen Blick aus [6] dem Fenster. Anscheinend war es für sie keine Frage, daß wir problemlos landen würden. Wir gingen runter wie im Sturzflug.

Endlich kamen wir unten an, dicht über den Häusern. Wir setzten auf und rollten über die Landebahn. Durch die dicken Scheiben sah ich die Flugplatzgebäude im Regen, Lichter anderer Flugzeuge schimmerten in der Nässe.

Ich betrachtete die Stewardessen, um zu sehen, ob sie erleichtert waren. Sie lächelten falsch, sie trugen jetzt gelbe Kamelhaarmäntel über den blaurosa Uniformen der Queen Jemina Airlines.

Die Kameratasche umgehängt ging ich durch die graue Verbindungsröhre. Bevor ich die Ankunftshalle betrat, schlüpfte ich erstmal in eine Toilette, um mir ins Gesicht zu sehen.

Das Neonlicht war entstellend und farblos, ich wirkte angespannter und müder, als ich war. Nicht mal meine Sonnenbräune kam so heraus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich zog mir den Kamm durch das dünne Haar, das für Feuchtigkeit sehr empfänglich ist, und kämmte es mir aus der Stirn, um die Geheimratsecken zu prüfen. Für meine knapp fünfundzwanzig Jahre hatte ich ziemlich viel freien Raum über der Brauenlinie.

Dafür waren die Augen unter den Brauen sehr blau, wie sie es manchmal bei mir frühmorgens werden oder nach langen, anstrengenden Reisen. Sie wirkten durchaus nicht flach oder glanzlos. Ich zog vor dem Spiegel ein paar Grimassen: geblähte Nasenflügel, abwärtsgebogene Mundwinkel, aufgeblasene Backen. Dann prüfte ich meine beiden Profile: das linke, das rechte in rascher Folge. Schließlich kam jemand hereingeplatzt, ich ging hinaus in die Halle.

Kaum war ich ziellos ein paar Schritte gegangen, kam Tracy auch schon von irgendwo aus der Halle, wo sie [7] wartend gesessen hatte, direkt auf mich zugestürzt. Ich hatte gar nicht die Zeit, sie näherkommen zu sehen, erst auf den letzten paar Zentimetern: Sie war plötzlich da, umschlang mir den Nacken, preßte mir heftig den Brustkorb zusammen, kniff mir in die Arme. Schrie laute Begrüßungen und überfiel mich mit einem Schwall von Fragen. Trat nach dem ersten überschwenglichen Ansturm zwei Schritte zurück, betrachtete mich mit schiefem Kopf und warf sich erneut mir entgegen. Schrie, daß ich prächtig aussähe und überhaupt nicht verändert wäre.

Ich stand in der grünlich erleuchteten Halle, umdrängt von eben eingetroffenen Reisenden, die voller Hast zu den Rolltreppen rannten, und betrachtete Tracy, die mich hüpfend umkreiste und mir Details von irgendwelchen Vorkommnissen erzählte. Ich dachte daran, wie feucht und regnerisch der Abend war, ganz anders als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich fragte Tracy, wo Ron sei. Sie sagte, er sei noch in einer Sitzung. Ich stellte mir Ron in der Sitzung vor: an einem langen Konferenztisch.

Wir fuhren auf einer Rolltreppe in das Untergeschoß zur Gepäckausgabe. Warteten zwanzig Meter vor dem Förderband zwischen Gruppen nervöser Reisender, die keine andere Sorge hatten, als ihre Koffer wiederzukriegen. Ich betrachtete Tracy im Neonlicht: das markante Gesicht eines kalifornischen Mädchens, die ausgeprägten Züge der Brauen, die Nase, die flinken Augen.

Dann drängte ich mich durch die Menge vor bis zum Förderband. Tracy sah mir aus der Entfernung zu, leicht auf den Fersen wippend.

Dutzende von Kartons mit Ananas aus Hawaii, die meine Mitreisenden auf dem Flugplatz von Honolulu gekauft hatten, fuhren auf dem Förderband an mir vorbei, zierlich verschnürt und mit kleinen Schildern versehen. [8] Die Leute standen wartend im Halbkreis, bereit zum unvermittelten Abbruch kleiner Gespräche, sobald sie ihre Koffer erblickten. Wer seine gefunden hatte, hob sie höher als nötig hoch, vielleicht zur Entschädigung der noch Wartenden. Nur die Kartons mit den Ananas fuhren weiter im Kreis: Sie waren einander zu gleich, um auf Anhieb erkannt zu werden.

Ich nahm meine beiden Koffer und stellte sie hinter mich. Dann sah ich einen Karton vorbeifahren und schnappte ihn mir, ohne lange zu überlegen. Ich schaute mich um, ob jemand reagierte. Aber die Reisenden waren viel zu sehr auf ihr Gepäck konzentriert, zu müde und zu bedrückt von dem Gedanken an den gerade zu Ende gehenden Urlaub.

Ich trug den Karton zu Tracy, hielt ihn ihr hin und sagte: »Für dich.« Sie nahm ihn und rief überrascht: »Giovanni!« Hielt ihn ausgestreckt in den Armen und wußte nicht, wo sie ihn hintun sollte. Ich dachte, wenn sie ihn so auffällig hielt, würde es jemand bemerken, und drängte sie rasch zum Ausgang.

Wir eilten durch die automatischen Glastüren und über die regennasse, von Taxis wimmelnde Straße. Ich fror an den Knöcheln. Wir zwängten uns zwischen den Autos auf dem Parkplatz hindurch, Tracy mit den Ananas und meiner Kameratasche, ich mit den Koffern. Ich ging zwei Schritte hinter ihr und sah sie vorangehen mit ihrem markanten Gang: sorglos und systematisch, ganz wie sie mir vom letzten Sommer auf Ibiza in Erinnerung war. Die Jeans preßten ihr den breiten Hintern zusammen, die dicken Schenkel, die Waden, die sich nach unten verjüngten, um in zierlichen Schuhchen zu enden.

Ich weiß nicht, was in den letzten zwei Jahren aus ihr geworden ist, aber damals war Tracy nicht eigentlich dick. [9] Das Problem lag in der Disposition ihrer Züge: in der Art, wie sich die Geraden und Kurven auf ihr verteilten. Ich erinnere mich, sie einmal nackt gesehen zu haben, damals am Strand, wo wir uns kennenlernten, mit Ron. Sie hatte etwas eigenartig Harmonisches an sich: ein Gewebe von Lichtern, das sie ganz undurchlässig für die Nacktheit machte. Sie war eher kompakt als dick: geformt aus einem einzigen festen elastischen Material. Ich sah sie ins Wasser steigen, und ihr Gesäß war nur eine funktionale Fortsetzung ihres Rückens. Sie hätte eine Robbe sein können, oder ein großer Seeotter.

Jedenfalls, wie auch immer, gingen wir über den Parkplatz zwischen den regenglänzenden Autos, und ich sagte zwei Schritte hinter ihr: »Du hast aber mächtig abgenommen.« Ich sah sie lächeln, während sie den Schlüssel im Schloß umdrehte.

Wir verstauten die Koffer und den Karton auf dem Rücksitz des Mustang, fuhren vom Parkplatz und glitten im Schrittempo durch das Kurvengewirr um den Terminal. Wir redeten kaum: hockten im feuchtkalten Wagen und guckten hinaus wie nasse Ratten.

Dann bog Tracy nach rechts, und wir schoben uns in einen träge fließenden Lichterstrom. Die übrige Landschaft erlosch. Wir sahen nur noch die roten Schlußlichter vor uns fahrender Wagen und weiße Scheinwerfer, die uns entgegenkamen. Ringsum eine schwarze Leere, erfüllt von Lichtern und leuchtenden Punkten, Lampenbögen und zuckenden Blinkern. Nur hin und wieder tauchten flächigere Visionen auf, umhüllt von diesigem Lichtschein, verschwommen im Dunkel und im Regen, der über die Scheiben strömte.

Ich hatte nur dünne Sandalen an und wollte sie ausziehen, um in richtige warme Schuhe zu schlüpfen. Drehte [10] mich um und kramte lange in einem der beiden Koffer, die auf dem Rücksitz lagen. Zog schließlich Baumwollsocken und ein Paar flache Lederschuhe hervor.

Tracy redete währenddessen, regulierte das Radio und lachte über meine Verrenkungen. Ich war beeindruckt von ihrer Fähigkeit, immer die richtigen Bewegungen auszuführen, das Lenkrad zu drehen, den Blinker dabei zu bedienen, die Gänge zu schalten, das Radio zu regulieren und gleichzeitig ein Gespräch zu führen, wenn auch ein ziemlich seichtes. Sie stellte mir allerlei Fragen, betrachtete sich im Rückspiegel, betrachtete Teile ihres Gesichts: ein Auge, eine Braue. Unterbrach sich immer wieder beim Reden und glitt, den Blick fest auf ein Hinweisschild oder eine Straßenmarkierung gerichtet, aus einem Lichterstrom in den anderen, folgte dem Tempo der anderen Wagen und schob sich in die passenden Lücken wie in einem Puzzlespiel. Überraschende Kurven mußten erkannt und interpretiert werden, wirr verschlungene Fahrbahnknäuel.

Nach etwa zwanzig Minuten glitten wir aus dem Nichts. Wir rollten eine langgezogene Spirale hinunter, und ich sah in der Ferne zwei bis drei schwach erleuchtete mittlere Wolkenkratzer. »Wir sind quasi in Westwood«, sagte Tracy.

Es kamen noch ein paar Kreuzungen, dann fuhr Tracy an den Bordstein und hielt. Wir befanden uns in einer Art imitiertem...