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Macno

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602302 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[13] Zwei

Liza wirft die Decken zur Seite und steigt aus dem Bett. Sie geht ans Fenster, schiebt die Vorhänge auseinander. Licht flutet ins Zimmer und hellt die Wände auf, von Dunkelblau über Azur zu fahlem Himmelblau. Sie drückt die Nase an die Fensterscheibe und schaut hinaus: auf den rückwärtigen Teil des Parks bis zur fernen Linie der Umschließungsmauer. Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar. An zwei, drei Stellen hat sie noch ein leichtes Schmerzgefühl, am linken Arm ist ein blauer Fleck, am rechten Knie eine kleine Schürfwunde. Es erscheint ihr seltsam, hier zu sein, und sie weiß nicht mehr genau, was geschehen ist.

Auf den Zehenspitzen wippend geht sie zur Badezimmertür. Sie betrachtet sich eingehend im Spiegel, hebt das Kinn, dreht den Kopf, untersucht aus der Nähe den Kratzer am Jochbogen, spannt die Lippen. Auf einer Konsole unter dem Spiegel stehen Fläschchen mit verschiedenen Essenzen, Flakons und bunte Glastiegel mit handbeschrifteten, verschnörkelten Etiketten. Liza greift nach einer Honigcreme, schnuppert daran, streicht sich ein wenig davon mit kreisenden Bewegungen der Fingerkuppen auf Stirn und Wangen. Die Creme verströmt einen milden Duft nach Bienenwachs, der zum warmen Licht der Lampen paßt. Es klopft an der Tür.

Liza blickt von Panik gepackt um sich, schnappt ein türkisfarbenes Badetuch und hüllt sich darin ein; rennt ins Zimmer hinüber, sucht nach ihren Kleidern, findet sie [14] aber nirgends; rennt ins Bad zurück, sieht einen Bademantel an einem Haken hängen; eilt wieder hinaus und öffnet die Tür einen Spaltbreit, das Handtuch fest um sich gewickelt.

Draußen steht ein Zimmermädchen mit einem Paket in der Hand. Sie reicht es Liza, sagt: »Bitte schön. Die Kleider in den Schränken dürfen Sie auch nehmen.«

Liza nimmt das Paket. »Sie wissen nicht, wo Herr Wesley ist?« fragt sie. »Der Rothaarige, der mit mir gekommen ist?« Sie skandiert die Worte, aus Angst, das Zimmermädchen könne kein Englisch und verfüge nur über ein kleines Repertoire einstudierter Sätze.

Das Zimmermädchen nickt. Sagt flüssig, wenn auch ziemlich nuschelnd: »Dritte Tür links, bei den Treppen.« Sie macht eine knappe Verbeugung und verschwindet im Korridor.

Liza reißt das Paket auf und findet darin ihre Strümpfe und ihr Höschen, den grünen Overall, gewaschen und gebügelt und geflickt. Sie wirft alles aufs Bett und öffnet den Wandschrank: Kleider und nochmals Kleider und Röcke und Blusen und Jacken in vielerlei Schnitten, Farben und Stoffen. Sie sieht sie mit der Hand darübergleitend durch, nimmt die rasch wechselnden Tastempfindungen und Farbeindrücke auf, so wie die Stoffe nacheinander zum Vorschein kommen. Sie zögert unschlüssig: zieht ein orange- und violettfarbenes Kleid aus weicher Baumwolle heraus, hält es sich vor die Brust, betrachtet es prüfend im Spiegel an der Schranktür. Sie schlüpft hinein, zupft es zurecht; stemmt die Hände in die Hüften, dreht sich, um sich von der Seite zu sehen. Von einem Haken nimmt sie einen hellen Ledergürtel, schnallt ihn um die Taille. Sie bückt sich, um die Dutzenden von Schuhen zu betrachten, die unten in einem Fach auf einer [15] Messingstange aufgereiht sind. Sie wählt ein lilafarbenes Paar mit mittelhohem Absatz und zieht sie an, mühsam die Ferse hineinzwängend.

Der Korridor ist hell erleuchtet und still; an den weißen Wänden hängen zwei, drei Pop-Stilleben aus den sechziger Jahren. Liza geht unsicher ein paar Schritte, ohne sich erinnern zu können, in welchem Zimmer Ted sein soll. Sie versucht, sich auf die Worte des Zimmermädchens zu besinnen, aber sie erinnert sich nur an diese rasche, nuschelnde Aussprache, die Art, wie sie die Lippen bewegte. Aufs Geratewohl klopft sie an zwei Türen: keine Antwort. Sie geht weiter bis zur Treppe, beugt sich übers Geländer und späht hinunter: zwei graurot uniformierte Wachen stehen bewegungslos auf dem Absatz im ersten Stock. Zögernd nimmt sie die erste Stufe, steigt die Treppe hinunter.

Auch in der Halle im Erdgeschoß stehen Wachen: zu beiden Seiten der Türen, an den Ecken der Korridore. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen, nichts zu hören: keine Geräusche oder Stimmen. Liza geht an der großen verglasten Eingangsfront vorbei, blickt hinaus auf die Freitreppe, den weißen Kiesweg, die Blumenrabatten vor dem Palast.

Aus einem der Gänge kommt ein elektrisches Summen. Liza geht ihm nach und kommt in einen Saal, in dem zwei Zimmermädchen zwei Staubsauger in konvergierenden Linien über den Boden schieben. »Entschuldigen Sie, wo kann man hier frühstücken?« fragt sie. Sie muß die Stimme heben, um gegen den Staubsaugerlärm anzukommen. Die beiden Zimmermädchen drehen sich zu ihr; eine kommt bis zur Tür, zeigt ihr die Richtung.

Liza geht den Korridor hinunter, tritt in einen lichtdurchfluteten kleinen Salon mit großen Fenstern zum [16] Garten, weißen Tischen und Stühlen, chinesischen Orangenbäumchen in Kübeln. Nur einer der kleinen Tische ist besetzt, von einem Typ um die Vierzig mit einem grau- und malvenfarben karierten Jackett, mausgrauem Haar und einer Brille mit schmalem Gestell. Er liest in einem Buch, das er aufgeschlagen aufs Tischtuch drückt, während seine Linke mit dem Teelöffel in einer Tasse rührt.

Liza geht zögernd auf ihn zu; sagt: »Entschuldigen Sie, haben Sie zufällig einen dicken Typ mit rötlichem Haar gesehen, einen Amerikaner?« Sie spricht langsam und deutlich und begleitet ihre Worte mit Gesten, die Teds Leibesumfang anzeigen.

Der Typ am Tisch blickt auf ihre Hände. »Nein, tut mir leid«, sagt er. »Ich glaube nicht.« Er hat einen ausgeprägt englischen Akzent, eine Art, mit kaum halb geöffneten Lippen zu sprechen. Unschlüssig blickt er zwischen dem aufgeschlagenen Buch und Liza hin und her.

Liza sieht sich in dem leeren Raum um; zieht einen Stuhl zurück. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

Der Typ sagt: »Aber nein, bitte sehr!« Aus Höflichkeit wartet er einen Augenblick; liest dann weiter.

Liza nimmt Platz und räuspert sich. Sie hat immer noch leichte Kopfschmerzen. Ein weißgekleidetes junges Mädchen tritt an den Tisch, fragt, was sie bringen darf. Liza deutet auf die Tasse des Typs mit dem Buch und sagt: »Das gleiche.« Das Mädchen huscht davon. Liza blickt sich nach allen Seiten um und sieht nirgends im Raum Ecken; keine scharfen Linien, wo die Wände aufeinandertreffen, an den Fensterrahmen, Stuhllehnen oder Tischrändern. Sie ruft sich den Korridor ins Gedächtnis, ihr Zimmer, und auch dort kann sie sich nicht an Ecken oder Kanten erinnern. Die Weißgekleidete kommt zurück und bringt [17] auf einem Tablett ein Kännchen Milch, eine Tasse mit Getreideflocken, ein Schälchen Nüsse und ein Töpfchen Honig.

Liza mischt die Nüsse unter die Flocken, gießt die Milch darüber. Der Typ ihr gegenüber ist wieder in sein Buch vertieft; hebt nur kurz den Kopf, um sie prüfend anzusehen. Liza fragt ihn: »Wo sind die alle hin?«

Er braucht ein paar Sekunden, bis er die Frage begriffen hat; lehnt sich zurück und sagt: »Macno weiht irgendeine Solaranlage ein, wo, weiß ich nicht mehr genau. Fast alle sind mitgefahren.«

»Und Sie wissen nicht, wann sie wiederkommen? Wann ist Macno zurück?« fragt Liza, seinen Kragen betrachtend.

»Ich hab nicht die blässeste Ahnung, um ehrlich zu sein«, sagt er.

Liza blickt auf sein Haar, unter dessen Grau noch eine Spur von Blond durchschimmert. »Wissen Sie, ich soll nämlich ein Interview mit ihm machen. Wir sind vom Fernsehen, ich und der Kameramann. Macno hat uns ein Exklusivinterview versprochen.«

»Ah, interessant«, sagt der Typ mit leisem Zweifel in den Augen. Er klappt das Buch zu.

»Ja«, sagt Liza. Sie nimmt einen Löffel Honig und läßt ihn in die Tasse fließen: langsam und goldgelb. Dann sagt sie: »Aber wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Liza Förster.« Sie nimmt den Löffel in die Linke und streckt die Rechte über den Tisch.

Der Typ reicht ihr impulsiv die Linke, zieht sie schnell zurück und gibt ihr die Rechte. »Freut mich, Henry Dunnell.« Seine Bewegungen wirken linkisch, behindert durch die Länge seiner Arme in den zu weiten Ärmeln.

Liza ißt einen Löffel Müsli, kaut sorgfältig. Dunnell [18] beobachtet durchs Fenster zwei Wachen, die in der Ferne über den Rasen gehen, zwei zimtfarbene Hunde an der Leine. »Und was tun Sie hier?« fragt ihn Liza.

»Frühstücken«, erwidert er mit schiefem Lächeln.

»Hier in Macnos Palast, meine ich«, sagt Liza und blickt auf seine nicht ganz ebenmäßigen Zähne, die er beim Lächeln entblößt.

»Ach so«, sagt Dunnell. »Ich bin Botaniker, sozusagen.«

»Sie kümmern sich um den Park?« fragt Liza und deutet hinaus auf den Garten.

»Unter anderem«, sagt Dunnell. Er dreht sich wieder um und schaut hinaus; sagt zu Liza: »Wenn Sie Lust haben, können wir einen kleinen Rundgang machen.«

»Im Ernst?« sagt Liza.

»Natürlich«, sagt Dunnell. Er blickt auf den Tisch, auf seine unberührte Müslischale, steht auf, nimmt sein Buch.

Liza schiebt sich hastig einen Löffel voll in den Mund, wischt sich einen Milchtropfen vom Kinn. Sie versucht, den Titel von Dunnells Buch zu lesen, während er sich vergeblich bemüht, es in die Jackentasche zu stopfen. Der Titel lautet Unsichere Zustände. Dunnell fängt ihren Blick auf und lächelt kaum merklich. »Eine Art Politfiction, aber einigermaßen plausibel. Oder vielleicht eher eine Liebesgeschichte, in Wirklichkeit«, sagt er.

Durch die Glastür treten sie hinaus auf den Rasen. Liza kneift...