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Vögel in Käfigen und Volieren

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602326 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[5] Eins

Um drei Uhr nachmittags bin ich in meinem weißen MG auf der Goldfinch Avenue, Richtung Hills, mit einer Stones-Cassette im voll aufgedrehten Stereoapparat, und überfahre ein Stopplicht, ohne es zu bemerken. Von rechts kommt ein hellgrüner Chevrolet, gleitet heran wie ein kleiner Wal unter Wasser. Ich mache keinen Versuch zu bremsen oder das Steuer herumzureißen oder so. Ich sehe das Hellgrün auf mich zukommen, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen.

Es macht ein volles, sattes Geräusch: eine Art hochkonzentriertes ptrac, bei dem die verschiedenen Laute sich in- und übereinanderschieben, statt sich in alle Richtungen auszubreiten, wie es normal wäre. Einen Klang, der viele Klänge in sich enthält, sie vereinfacht und zugleich mit Nuancen anreichert.

Der MG hat keine Knautschzonen, keinen Platz für die Beine; er wirbelt blitzschnell herum. Ich sehe die Kreuzung aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig; aus dem Stand in umgekehrter Perspektive zur Fahrtrichtung.

Diese Bilder sind nicht klar voneinander getrennt, nicht aneinandergereiht zu einer Sequenz; sie komprimieren sich im Zeitraum eines Sekundenbruchteils. Infolge der Kompression, oder um sie möglich zu machen, verliert jedes Einzelbild seine Schärfe, fließt mit den vorausgegangenen und nachfolgenden zusammen.

Der MG steht, fest und endgültig: komprimiert wie die Bilder der Sequenz, wie die Töne des Aufpralls.

[6] Ich ziehe langsam die Beine raus. Stehe auf dem Asphalt und betrachte das verbogene Lenkrad, die zerknautschte Motorhaube.

Aber komisch, ich habe irgendwie gar kein unangenehmes Gefühl. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber es ist so. Ich habe nur dieses Gequirl von mechanischen Vorgängen im Kopf: den Aufprall und die Drehung und den plötzlichen Halt, der mich gegen die Scheibe wirft und in den Sitz zurückschleudert. Keine unangenehmen Gefühle; ich habe nichts gebrochen.

Ich drehe mich um und sehe den Chevrolet mitten auf der Kreuzung stehen: ein bißchen zur Seite geneigt, abgesunken auf zwei platten Reifen. Ich setze mich in Bewegung, gehe mit schleppenden Schritten zur Fahrerseite. Am Steuer sitzt eine dicke Frau: sitzt einfach da und macht nicht mal einen Versuch herauszukommen. Ihr Kopf ist nach hinten gekippt. Ich denke »O Scheiße!«

Ich ziehe am Türgriff; er geht nicht auf, aber ich habe wohl auch nicht allzuviel Kraft in den Armen. Ich spähe durchs Fenster: kein Blut zu sehen, auch sonst keine Schweinerei. Die dicke Frau kippt den Kopf nach vorn, dann wieder nach hinten. Ich sehe mich um; ein paar Leute betrachten die Szene, reglos auf Gehsteigen in der Ferne. Alles ist ruhig, keine anderen Autos fahren vorbei, die Luft steht still. Ich probiere nochmal den Türgriff: nichts.

Ein älterer Typ kommt näher, die Hände in die Hüften gestützt. Er sagt: »Ich hab alles mitangesehen, vom Garten vor meinem Haus.« Er zeigt auf den Garten vor seinem Haus, an einer Ecke der Kreuzung. »Ihr seid alle Verbrecher, ihr mit euren verdammten Sportwagen.«

Jetzt beunruhigt mich sein Ton; irgendwie ist die Situation auf einmal viel schlechter als noch vor zwei Sekunden. Ich schaue erneut in den Chevrolet. Die Frau [7] scheint nicht ernsthaft verletzt zu sein; sie scheint überhaupt nicht verletzt zu sein. Ich klopfe ein paarmal ans Fenster, aber sie rührt sich nicht.

Ich sage zu dem älteren Typ: »Tut mir leid, ich hab das Stopplicht übersehen.«

Er sagt: »Ihr gehört alle ins Gefängnis.« Sein Ton ist so dumpf, so fugenlos dicht: Alle meine Erklärungen würden an ihm abgleiten, ohne irgendwas zu verändern.

Ich sage: »Was haben denn Sie für ’ne Ahnung? Was glauben denn Sie für ’ne Meinung zu haben?«

Er macht einen Schritt zurück und sagt: »Wenn Sie so mit mir reden, zeig ich Sie an.« Er hat ein häßliches graues Hemd an: so eins mit langen Kragenspitzen, die an den Enden geknöpft sind. Er hat eine häßliche Art zu reden: mit kaum geöffneten Lippen und plinkernden Augenlidern. Er ist sehr viel unangenehmer als der Zusammenstoß.

Ein Polizeiauto kommt und gleich hinterher eine Ambulanz. Ein Polizist und zwei Sanitäter treten ins helle Licht des frühen Nachmittags, gehen zum Chevrolet, machen sich an der Tür zu schaffen. Der andere Polizist kommt zu mir und fragt, ob das mein MG ist. Ich sage ja. Der ältere Typ mit dem grauen Hemd bleibt in der Nähe, sieht mißtrauisch zu. Der Polizist verlangt meine Papiere. Sagt: »Warten Sie hier.« Geht zum Streifenwagen, um meine Personalien per Funk zu überprüfen.

Ich betrachte die Palmen und Eukalyptusbäume hinter meinem einstigen weißen MG. Ein Knie tut mir weh, nicht sehr. Meine Hose hat einen kleinen Riß, die Haut darunter ist leicht aufgeschürft. Ich schüttle das rechte Bein.

Die beiden Sanitäter und der Polizist reden mit der Frau durch die Scheibe; sagen zu ihr: »Bleiben Sie ganz ruhig.« Einer der Sanitäter geht um den Wagen, öffnet die Tür auf [8] der Beifahrerseite und zwängt sich in das deformierte Innere. Der andere Sanitäter und der Polizist gehen ebenfalls rüber und helfen, die Frau herauszuziehen. Sie zerren die Frau aus dem Wagen, fassen sie unter die Achseln und um die Hüften. Sie läßt sich tragen, schleift die Füße nach. Die drei Männer bringen sie vorsichtig an den Straßenrand, sie gleitet aus ihren Armen und sinkt auf den Bordstein. Sie hat ein rosa Hosenkostüm aus satiniertem Acrylstoff an und weiße Schuhe mit Schmetterlingsschnallen. Sie biegt noch immer den Kopf nach hinten mit Bewegungen wie ein Pelikan. Nach einer Weile sagt sie zu einem der Sanitäter: »Mir blutet die Nase.« Er betrachtet sie mit gebeugtem Hals, die Hände in die Hüften gestützt, und sagt: »Nein, ich sehe nichts.« Sie richtet den Kopf auf, legt sich die Hände auf die Knie und starrt geradeaus ins Leere.

Der eine Sanitäter meint zu dem anderen: »Vielleicht hat sie einen Schädelbruch oder sowas?« Der andere schüttelt zweifelnd den Kopf. Der Polizist hockt sich vor die Frau, um den Sachverhalt aus der Nähe zu untersuchen.

Ich gehe zu der Frau und sage: »Es tut mir sehr leid.«

Sie dreht ruckartig den Kopf zu mir und schreit: »Sie Verbrecher, nicht mal gebremst haben Sie!«

Der andere Polizist, der meine Personalien per Funk überprüft, ruft aus dem Streifenwagen herüber: »Ich hab doch gesagt, Sie sollten da warten, wo Sie waren!«

Ich sage »Okay, okay« und gehe wieder dahin zurück, wo ich war.

Die beiden Sanitäter helfen der Frau auf die Beine, verfrachten sie in die Ambulanz. Der freie Polizist geht zu dem Polizisten im Streifenwagen, läßt sich von ihm meine Personalien diktieren, schreibt sie auf ein schmales [9] längliches Blatt und übergibt es einem der Sanitäter. Er stellt sich mitten auf die Kreuzung, schaut in alle vier Richtungen, macht Bewegungen wie ein Schutzmann. Die Ambulanz fährt davon, mit eingeschaltetem Blaulicht, ohne Sirene. Fünf oder sechs Kinder mit Fahrrädern stehen neugierig am Straßenrand, dazwischen Hausfrauen und ältere Typen, die aus den nahen Gärten gekommen sind.

Der Polizist mit meinen Papieren steigt aus dem Streifenwagen, kommt langsam zu mir und fragt: »Haben Sie denn gar keine Versicherung?«

»Nein«, sage ich. Mir scheint, sein metallener Armschutz drückt ihn ein bißchen am Handgelenk.

Er sagt: »Sie sitzen dick in der Tinte.« Schaut nachlässig auf die Papiere in seiner Hand. »Das kostet Sie mindestens fünfzigtausend Dollar Schadenersatz.« Er läßt mich ein paar Blätter unterschreiben und sagt, ich könnte jetzt erstmal gehen.

Vor dem Haus liegt Maggie in einem weißrot gestreiften Liegestuhl, um sich zu sonnen, mit einem Buch von Harold Robbins in der Hand. Sie hat einen braunen Bauch, braune Arme, blonde, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare und Sonnencreme auf Nase und Stirn. Kaum sieht sie mich, sagt sie: »Fjodor, da ist ein Telegramm für dich, auf dem Tisch im Wohnzimmer.« Sie hebt kaum eben den Kopf, um mir das zu sagen, ohne den Hals oder Rücken auch nur einen Zentimeter zu krümmen. Sie hat einen engen blauen Bikini an, der ihre Beine verlängert und Teile der Hinterbacken freiläßt.

Ich gehe ins Haus, nehme das Telegramm vom Tisch und trete damit ans Fenster. Es kommt aus San José in Costa Rica. Ich mache es auf. Es lautet: »Möchte dich sehen. Dein Vater.« Ich zerknülle es in der Hand, rolle es [10] zwischen den Fingern, bis es ein leichtes Papierbällchen ist, schnipse es in eine Zimmerecke und gehe wieder hinaus.

Ich erzähle Maggie den Unfall. Sie hört mir zu und sagt: »Ach du Scheiße!« Legt das Buch ins Gras, dreht sich unendlich langsam zur Seite, um mich anzusehen, stützt sich auf einen Ellenbogen und erklärt mir, ich sei ein verantwortungsloser Idiot; bei dem, was ich mit der Musik verdiente, bräuchte ich fünfzig Jahre, um den Schaden abzubezahlen, wahrscheinlich würde ich im Gefängnis landen, sie habe jedenfalls keine Lust und keine Absicht und sowieso keine Möglichkeit, mir zu helfen. Sie faucht: »Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst nicht so irre fahren!« Sie schließt die Augen zu einem Schlitz, um das Sonnenlicht abzuschirmen und ihre Worte schneidend zu machen.

Ich bleibe fünf Minuten lang auf dem Rasen und höre ihr zu: so verblüfft über ihren Ton, daß mir keine passende Antwort einfällt, nicht mal ein passender Gesichtsausdruck.

Dann gehe ich ins Haus, und plötzlich kommt mir die Wut, und ich gehe gleich wieder raus und schreie zu Maggie, sie soll sich zum Teufel scheren, und ich knalle die Tür zu und mache sie...