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Zwei von zwei

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257602357 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[12] Drei

Zu Beginn der Quinta wurde Guido Laremi in meine Klasse versetzt. Wir waren in das paranoische Fluidum einer Lateinstunde eingetaucht, da kam er hinter dem Rektor herein. Ich erkannte ihn nicht gleich, denn seine Haare waren noch wirrer und länger als bei unserer ersten Begegnung, und er war in einem anderen Stil gekleidet, ausgewaschene Jeans und Tennisschuhe. Auch sein Blick war anders: die Fremdheit darin hatte sich verdichtet und gab seinen hellblauen Augen ein lebhaftes, eindringliches Leuchten. Leicht vorgeneigt stand er neben dem Pult und beobachtete den Rektor, als warte er gespannt auf etwas, das ihn selbst ganz und gar nicht betraf.

Der Rektor war ein aufgeplustertes, untersetztes Männchen mit einem schmalen Schnurrbart wie ein Polizeikommissar; halblaut gab er unserer Lehrerin, sie hieß Dratti, irgendwelche Erläuterungen. Die Dratti deutete auf Guido Laremi und sagte: »Der Schüler Laremi gehört aus ordnungstechnischen Gründen von heute an zu eurer Klasse.«

Die Lehrerin wie auch der Rektor wirkten leicht verlegen; Guido Laremi musterte sie, die Hände in den Taschen. Dann ging der Rektor hinaus, während wir alle unter Stühlerücken und Rascheln und Räuspern aufstanden; die Lehrerin forderte Guido Laremi auf, sich einen Platz zu suchen.

Er ging nach hinten, sah sich die Gesichter von drei, vier Schülern an, die allein in einer Zweierbank saßen. Er kam [13] bis zu mir und setzte sich, ohne mich anzusehen, neben mich; mit zusammengekniffenen Augen fixierte er mit höchst interessierter Miene das Pult. Erst nach einigen Minuten drehte er sich zu mir, sagte: »Hallo.«

Als wir nach Schulschluß die Treppen hinuntergingen, fragte ich ihn, wieso er zu uns versetzt worden sei. »Das ist eine dramatische Geschichte«, sagte er ohne die geringste Absicht, sie mir zu erzählen. Ich fragte ihn, ob ich ihn auf dem Mofa mitnehmen solle; er lehnte dankend ab und sagte, er müsse noch bleiben. Es war klar, daß er auf ein Mädchen wartete, aber er war so sonderbar verschlossen, tat geheimnisvoll. Er ging über die Straße zum gegenüberliegenden Gehsteig, zu der gleichen Stelle, an der ich stand, als ich ihn zum ersten Mal sah.

Auch am nächsten Tag setzte er sich zu mir in die Bank in der vorletzten Reihe, und von da an wurden wir Freunde. Es war ein langsamer Prozeß, der der trägen Dynamik jener Zeit folgte, in der sich alles in schwer wahrzunehmender Weise veränderte. Keiner von uns beiden hatte engere Beziehungen zu den anderen Klassenkameraden, ich aus Schüchternheit nicht und weil ich sie als Teil einer Welt betrachtete, die ich nicht akzeptieren wollte, Guido, weil er zu anders war als sie. In Wirklichkeit hatten die zwei plumpen Jungintellektuellen der Klasse, Ablondi und Farvo, denen sein Aussehen und seine Redeweise imponierten, anfangs versucht, ihn für ihre Clique zu gewinnen. In den Pausen hatten sie ihn beiseitegezogen und sich bemüht, ihn über ihre angelesenen und den Gesprächen ihrer Eltern abgelauschten Ansichten über Film und Literatur und moderne Malerei ins Bild zu setzen. Guido hatte nicht das geringste Interesse gezeigt; ohne nach einem Vorwand zu suchen, hatte er sich nach wenigen Sätzen von [14] ihnen losgemacht, und die Anziehung, die er auf Ablondi und Farvo ausgeübt hatte, schlug in Abneigung um. Mit einer Mischung aus maßvoller Feindseligkeit und physischem Mißtrauen in ihren kurzsichtigen Augen guckten sie von weitem zu ihm herüber.

Guido schien es nicht einmal zu bemerken, aber mich freute es jetzt um so mehr, daß er mich zu seinem Banknachbarn erkoren hatte. Fast unbewegt saßen wir auf unseren Plätzen und hörten uns die Ausführungen über Grammatikregeln und mathematische Lehrsätze an; wie alle anderen von der Angst gepeinigt, über Regeln und Formeln abgefragt zu werden, die so gut wie keiner wirklich begriffen hatte.

Unsere Lehrerinnen versuchten erst gar nicht zu verbergen, wie genüßlich sie über Menschen, die jünger und zumindest potentiell freier und glücklicher waren als sie, unumschränkte Gewalt ausübten. Es mußte ihnen wahre körperliche Lust bereiten, die so gut wie jede Unzufriedenheit in ihrem Gefühlsleben oder mit ihrer finanziellen Lage oder dem Gesundheitszustand zu kompensieren vermochte. Wie scheußlich ihre Wohnung oder wie unerträglich ihre Ehe oder wie anstrengend die Fahrt, die sie allmorgendlich auf sich nehmen mußten, auch sein mochten, kaum standen sie im Klassenzimmer und hatten die Tür hinter sich geschlossen, waren sie wie ausgewechselt. Sie hängten ihre runden oder schmalen Hüte, ihre bläulichen oder grünlichen Mäntel an den Garderobenständer, setzten sich ans Pult und fixierten mit halbgeschlossenen Augen ihre dreißig Opfer, die wehrlos im gleichen Rhythmus atmeten. Sie, die Lehrerinnen, gaben die Zeit vor, zogen den Augenblick, in dem sie zuschlagen würden, hinaus, um ihn dann um so besser auszukosten, ließen den Zeigefinger gemächlich die Namensliste im Klassenbuch [15] hinabgleiten, sagten »Kommen Sie nach vorne, Ba… nein, Ge…« Die Luft wurde dünn: es herrschte diese Leere, in der die kleinste Geste bedeutsam wurde, die kleinste Tonschwankung beängstigendes Gewicht gewann.

Halb nach hinten gewandt, saß Guido geduckt neben mir und machte unablässig über alles Bemerkungen. Anfangs sprach er wie zu sich selbst, mit der Zeit aber erhob er die Stimme ein wenig, um mich teilhaben zu lassen. So gut wie nie sahen wir uns an: die Kommunikation zwischen uns lief wohlverborgen hinter der scheinbaren Aufmerksamkeit für die Lehrerinnen ab. Bald entstand zwischen uns eine selbstverständliche Komplizenschaft, ähnlich der bei einigen Partner-Sportarten wie Bob oder Motorradrennen mit Beiwagen. Ich war sein Sozius: ich bildete das Gegengewicht und half die Spur halten, ich war das Minipublikum für seine Beobachtertätigkeit.

Er hatte eine echte Begabung dafür, Akzente, Verhaltensweisen, Gewohnheiten, einen bestimmten Tonfall, körperliche Absonderlichkeiten und Ticks zu erkennen; er isolierte und kombinierte sie mit ungewöhnlicher Leichtigkeit. Dabei folgte er fieberhaften, unvorhersehbaren Eingebungen: manchmal sprang er von einem Thema zum anderen, stellte Besonderheiten nebeneinander, verglich sie miteinander; dann wieder hielt er sich bei einem einzigen Detail auf und legte es aus verschiedenen Blickwinkeln dar, walzte es bis zur Unerträglichkeit aus.

Ab und zu merkte es eine der Lehrerinnen: blitzschnell hoben die Dratti oder die Cavralli ihren Raubtierblick, schlugen mit der flachen Hand aufs Pult, riefen: »Wer ist das da hinten?« Dann wurde das Klima noch gefährlicher; den dreißig auf ihren Plätzen festgenagelten Opfern stockte der Atem. Guido wartete sekundenlang ab und legte dann erneut los, seine heisere Stimme war jetzt nur [16] ein Flüstern. Die gestiegene Spannung lud seine Bemerkungen noch mehr auf, erfüllte sie mit Elektrizität.

Rockmusiker, sagte er, seien die einzigen jungen Leute, die genau das tun konnten, was sie wollten. Er erzählte mir, wie er einmal vor drei Jahren die Rolling Stones im Fernsehen gesehen hatte. Es war nur ein kleiner Ausschnitt aus einem Live-Konzert gewesen, die Musik teilweise überdeckt von der Stimme eines miesen, ironisch sein wollenden Kommentators, und trotzdem hatte es ihn unwahrscheinlich beeindruckt. »Das war Leben«, sagte er. »Da waren diese fünf voller Energie und Wut und Spaß an ihrer Sache, ohne Rücksicht auf irgendwen und ohne irgendeine Verpflichtung und ohne irgendwas zu erklären und irgendwem einen vernünftigen Zweck vorzugaukeln.«

Gitarre lernen wollte er aber nicht. In Italien, meinte er, könne man keine Rockmusik machen; die italienische Sprache sei zu starr und artifiziell, als daß sie sich zu etwas anderem als Opernmusik singen ließ; alle, die es versuchten, würden in ihm peinliche Gefühle und Traurigkeit hervorrufen.

Dafür übersetzte er Songtexte, mit der gleichen Leidenschaftlichkeit, als spielte er sie. Auf diese Weise lernte er viel besser Englisch als im Unterricht. Er brachte immer ein kleines Taschenwörterbuch in die Schule mit und entschlüsselte Strophe um Strophe, auch wenn die Hälfte der Ausdrücke, die er nachschlug, zu ausgefallen oder zu neu waren, um schon kodifiziert zu sein. Mit seinem rauhen und ein wenig unreinen Timbre summte er die Passagen halblaut vor sich hin; bemühte sich, mir die Eindringlichkeit eines Bilds oder einer Tonfolge nahezubringen. »Ist das nicht irre?« sagte er. Manchmal wiederholte er eine Phrase so oft, bis ich sie im Ohr hatte, während die Dratti [17] weiter lateinische Deklinationen skandierte wie eine ausgeflippte Maschine.

Er hatte auch so etwas wie einen Schreibtick: er kritzelte mit Bleistift auf das faserige Holz der Schulbank, von dem der Lack abgeblättert war, mit dem Füller in die linierten Schulhefte, mit Filzstift auf das militärgrüne Segeltuch seiner Büchertasche. In seiner flinken, schrägen Handschrift schrieb er Liederverse oder Sätze, die er erfunden oder gelesen oder irgendwo gehört hatte, und alle schienen sich auf unsere Situation zu beziehen. Er brüstete sich nie damit, er betrachtete sie nicht als Gesetzesartikel, an die man sich zu halten hatte. Es beeindruckte ihn, wenn er auf einen Satz stieß, der einen Gedanken oder ein Gefühl lebendig und unkonventionell ausdrückte; studierte ihn bewundernd, wie man es mit einem kleinen Gemälde tun mag. Er dachte sich auch angebliche Zitate oder Gedichte aus, die völlig einleuchtend klangen.

Wir waren gefangen in diesem neurotischen Gespinst aus geschriebenen und geflüsterten Sätzen, auf einer Ebene parallel zu der unserer Lehrerinnen. Nur hin und wieder kam es unvermittelt...