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Paul, mein großer Bruder - Ein schwuler Roman einer Bruderliebe

Hakan Lindquist

 

Verlag Bruno-Books, 2012

ISBN 9783867872898 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

EINS


502 Tage liegen zwischen deinem letzten und meinem ersten Tag. Trotzdem, irgendwie bist du mir immer nahe gewesen.

Mein erstes eigentliches Bild von dir ist das Schulfoto, das immer auf dem Fernseher im Wohnzimmer stand. Du bist ein dreizehnjähriger Junge, der meiner Mama ähnlich sieht. Dein Haar ist ziemlich lang, schön gekämmt und dunkel. Genau wie das von Mama. Du lachst nicht auf dem Bild. Du siehst mich nicht an, sondern blickst starr auf irgendetwas weit hinter der Kamera und den Klassenkameraden. Ich bin ein fast dreijähriger Junge, der vor dem Fernseher steht und zu deinem Foto hinaufschaut. Die Balkontür neben mir steht offen, einige Schneeflocken suchen ihren Weg in die Wärme und fliegen wirbelnd um dein Bild, bevor sie zu Boden sinken und schmelzen.

»Wer ist das?«, frage ich meine Eltern.

»Das ist dein Bruder«, antwortet Mama und schließt die Balkontür. »Das ist dein Bruder Paul.«

»Er ist gestorben, bevor du geboren wurdest«, erklärt Papa.

Ich friere nur und bin viel zu klein, um das zu verstehen.

Ich schaue das Foto von dir an. Manchmal – wenn ich traurig bin – finde ich, wirkst du auch traurig. Wenn ich fröhlich bin, bilde ich mir ein, ein geheimnisvolles Lächeln um deine Lippen zu sehen.

Ich betrachtete das Foto; ich konnte nicht verstehen, dass du mein Bruder warst und tot bist. Der Gedanke war viel zu abstrakt für mich. Meine Familie bestand aus Mama, Papa und mir. Du warst damals nur ein Gedanke. Oder – vielleicht – eine Sehnsucht.

Als ich etwas älter war – ich muss gerade mit der Schule angefangen haben –, begann ich, meine Eltern über dich auszufragen. Ich wollte wissen, wer du warst, was du getan hast, mit wem du gespielt hast. Du musstest doch gespielt haben, Paul; du bist doch noch ein Kind gewesen, als du starbst.

»Paul war so ein guter Junge«, erzählte Mama, und ihre Stimme klang genauso, wie wenn sie mir Märchen vorlas. »Er war so fleißig. Er malte und zeichnete gern. Alle mochten ihn. Die Lehrer in der Schule. Seine Klassenkameraden. Und die Kinder hier in der Straße. Alle mochten ihn. Und alle waren traurig, als er starb.«

»Waren alle Klassenkameraden auf der Beerdigung?«, fragte ich.

»Nein. Nicht alle. Nur einige seiner besten Freunde. In der Schule hatten sie schon eine Gedenkstunde abgehalten. Die fand einen Tag vor der Beerdigung statt. Trotzdem war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt.«

»Woran ist er gestorben?«

»Das weißt du doch«, sagte sie langsam. »Das habe ich dir schon hundertmal erzählt.«

»Bitte«, bettelte ich. »Ich will, dass du es noch einmal erzählst. Ich will es hören.«

»Er wurde von einem Zug überfahren und war sofort tot«, sagte sie kurz. »Es ging alles sehr schnell.«

»Nein«, sagte ich. »Nicht so. Erzähl wie immer.«

»Paul ging gern im Wald spazieren«, fing sie an. »Ihm machte es großen Spaß, die Tiere und Pflanzen zu beobachten, und er hoffte immer, irgendeinem wilden Tier zu begegnen …«

»Hat er irgendwann mal junge Füchse gesehen?«, unterbrach ich sie.

Mama lächelte.

»Ja, eines Morgens, als er richtig früh unterwegs war. Ich und Stefan wachten gerade auf, als Paul zurückkam. Er lachte und rief nach uns, sobald er durch die Tür war. ›Wacht auf! Wacht auf!‹, rief er. Dann kam er in unser Schlafzimmer. Er setzte sich auf die Bettkante und erzählte von den jungen Füchsen.«

»Wie alt war er da?«

»Elf oder zwölf, schätze ich mal. Und er erzählte von seinem Waldspaziergang. Er hatte sich auf einen alten, umgestürzten, völlig morschen Baumstamm gesetzt, als er plötzlich ein jaulendes Geräusch hörte. Erst hatte er Angst, erzählte er, doch dann war die Neugier größer. Paul kletterte also auf einen großen Steinblock, um besser zu sehen. Und um besser geschützt zu sein, nehme ich an. Und dort, genau unter dem großen Felsen, sah er drei kleine süße Füchslein, die vor ihrem Bau spielten.«

»Da war Paul wohl glücklich?«

»Ja.« Mama klang etwas traurig. »Da war er wirklich glücklich.«

»Und wie ging es weiter?«, wollte ich nach einer Pause wissen.

»An dem Tag, als er starb, war er im Wald unterwegs«, fuhr meine Mama schließlich fort. »Am Morgen, beim Frühstück, erzählte er, dass er einen langen Waldspaziergang machen wollte. Er hoffte, dass er irgendetwas Neues entdecken würde, etwas, das er vorher noch nie gesehen hatte. Ich machte ihm einige Brote und gab ihm eine Thermoskanne mit. Bevor er ging, erinnerte ich ihn an den Kompass. Für den Fall, dass er sich im Wald verirrte. Der Wald auf der anderen Seite des Weges ist nämlich sehr groß, verstehst du.«

»Was ist dann passiert?«

»Dann … dann hat Paul etwas sehr Gefährliches getan. Etwas, das du niemals tun darfst. Denk immer daran! Er ging nämlich hoch auf den Bahndamm. Und als der Zug kam, muss er in Gedanken versunken gewesen sein, vielleicht hat er einem Tier nachgejagt oder irgendetwas. Jedenfalls hat er den Zug nicht gehört und wurde überfahren. Und ist gestorben.«

»Hat es wehgetan?«, fragte ich.

Mama schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Es ging so schnell. Da spürt man nicht mehr, ob es wehtut oder nicht.«

Nach einer Weile erzählte sie weiter, aber ihre Stimme klang anders. »Es war der 21. Juli des Jahres, bevor du geboren wurdest«, sagte sie. Es klang, als würde sie es sich selbst erzählen. »Es war übrigens derselbe Tag, an dem sie zum ersten Mal den Mond betraten. Ich erinnere mich, dass ich am Vormittag etwas unruhig war. Irgendwie besorgt. Stefan stand in der Küche und machte den Abwasch. Er hörte Radio. Er sang ein Lied mit, das sie in jenem Sommer ziemlich häufig spielten. It’s the time of the season when your love runs high … Und dann läutete es plötzlich an der Tür. Ich öffnete. Draußen standen zwei Polizisten. Sie baten darum, hereinkommen zu dürfen.

Erst als wir alle vier in der Küche standen, begriff ich, warum sie gekommen waren. ›Ist etwas mit Paul passiert?‹, fragte ich. Der eine Polizist schaute auf den Boden. Der andere nickte und sagte: ›Ihr Sohn ist in einen sehr schweren Unfall verwickelt gewesen.‹ Ich habe nicht richtig begriffen, was er sagte. Das Radio spielte immer noch. Und während er fortfuhr und erzählte, dass Paul gestorben wäre, habe ich geschrien: ›Kann denn niemand dieses verdammte Radio ausmachen!‹ Dann wurde es unheimlich still. Das Einzige, das man hörte, war Stefans Schluchzen.«

Nachdem Mama ihre Erzählung beendet hatte, war die Wohnung nicht mehr wie vorher, sie wirkte anders. Fast unwirklich.

Man stelle sich vor, ich hatte einen Bruder gehabt, der hier gelebt hatte, der in dieser Wohnung herumgelaufen war. Einen Bruder, der mit meiner Mama und meinem Papa gesprochen hatte, der gelacht und hier in unserer Wohnung gespielt hatte. Man stelle sich vor, ich hatte einen Bruder gehabt, der in dem Zimmer gelebt hatte, das jetzt mir gehört.

Als ich noch klein war, habe ich das Foto von Paul immer vom Fernseher heruntergenommen. Ich studierte es genau; hielt es vor meine Augen und versuchte, etwas Neues zu entdecken, etwas, das ich vorher nicht gesehen hatte. Manchmal nahm ich das Foto mit in mein Zimmer, damit er es sehen konnte, damit er es wiedererkennen konnte. Ich hatte nämlich nicht nur Pauls Zimmer geerbt; ich hatte auch seine Möbel, Spielsachen und Bücher übernehmen müssen; selbst einen Teil seiner Kleidung musste ich auftragen.

Als ich lesen und schreiben lernte, machte ich immer kleine Notizen über meinen Bruder. Hier und da kann ich noch immer kleine Anmerkungen in unbeholfenen Buchstaben und Zahlen finden.

Paul bis Jonas 502 Tage.

Oder: Es sind 12048 Stunden zwischen uns.

An den Rand meines Englischbuches der siebten Klasse hatte ich geschrieben: You are seventeen months away.

Ich erinnere mich nicht an alles, was ich über Paul gedacht hatte, als ich klein war; ich erinnere mich nur daran, dass ich häufig an ihn dachte und dass es häufig so wirkte, als sei er anwesend. Manchmal verschmolzen wir zu einer Person. Es schien, als ob ich schon damals er gewesen sei, bereits während seines Lebens. Als sei ich es gewesen – in einem Traum oder einer verschwundenen Zeit –, der die jungen Füchse, die vor ihrem Bau spielten, an diesem frühen Morgen gesehen hatte; ich bin es gewesen,...